Porträt

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Max-Marius steht vor der Tafel, in der Hand einen alten Xylophonschlägel ohne Filzkugel. Der großgewachsene Zehnjährige mit der blonden Mähne schaut sich geduldig um. Nach kaum einer Minute eilen die Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge eins bis vier aus den drei miteinander verbundenen Klassenräumen herbei und bilden einen Kreis um Max-Marius, der heute als „Tagesmeister“ das Morgenritual leitet.

Er hebt den „Dirigentenstab“, dann läuft alles wie zigmal geprobt: „Guten Morgen!“, sagt der Tagesmeister. „Guten Morgen!“, antwortet die Gruppe im Chor, und die Kinder zählen durch: Knapp 50 Jungen und Mädchen stehen hier zusammen. Im Anschluss signalisiert jeder mit dem Daumen, wie es ihm geht – Daumen hoch: alles prima. Waagerecht: Geht so. Daumen nach unten: Könnte besser sein. Wer über seine Stimmung reden möchte, kann das jetzt tun. Nachdem Max-Marius die Tagesdienste verteilt hat, beginnt die Arbeit.

An diesem Vormittag bleiben die Türen zwischen den Räumen offen, die „Delfine“ sitzen an Tischinseln und bearbeiten allein oder in der Gruppe ihren Lernstoff. Die Erstklässlerin Ayda übt Addition, während der zwei Jahre ältere Julian Fragen zu einem Buch beantwortet. Zweitklässler Naufan hadert mit seiner Deutsch-Aufgabe. Deshalb fragt er Noah aus der Vierten, der heute als Helfer für die Jüngeren eingetragen ist. Eben noch hat Noah zweistellige Zahlen multipliziert; jetzt erklärt er Naufan, wie er das Problem lösen soll. Die Lehrerinnen Christin Kümmel und Nira Korb helfen ebenfalls, wenn nötig.

Ein ganz normaler Tag an der Römerstadtschule in Frankfurt-Heddernheim: An der staatlichen Grundschule unterrichten die Lehrer nicht mehr getrennt nach Jahrgängen, sondern in altersgemischten Lerngruppen mit je 50 Schülerinnen und Schülern. Statt Klasse 1a oder 4d gibt es Lernverbände von Erst- bis Viertklässlern mit Namen wie „Delfine“, „Uhus“ oder „Igel“. Nur manchmal, beispielsweise in Deutsch oder Mathe, werden Erst- und Zweitklässler separat von den Dritt- und Viertklässlern betreut. Doch normalerweise lernen und üben alle vier Jahrgänge zusammen, begleitet von einem vierköpfigen Team.

Dass an diesem Morgen nur zwei Lehrerinnen bei den „Delfinen“ sind, hat einen Grund. Die Sonderpädagogin, eine Integrationshelferin und zwei Schüler mit Förderbedarf, die ebenfalls zur Gruppe gehören, kochen heute für eine Schülergruppe – noch so ein Ritual. Es gibt Kartoffeln, Ei und „Frankfurter Grüne Soße“. Vom Kind mit sozialemotionalen Entwicklungsverzögerungen bis zum Rollstuhlfahrer: An der Römerstadtschule lernt man früh, dass nicht alle Menschen gleich sind. Wenn die Kinder Fangen spielen und Leo im Rollstuhl mitmachen möchte, dann krabbeln die anderen wie selbstverständlich auf allen vieren, damit auch Leo gewinnen kann. In jeder Lerngruppe benötigen zwei Schüler besondere Unterstützung.

„Wir wollen, dass die Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen“, sagt Heike Schley, seit 2001 Leiterin der Römerstadtschule. Keine leichte Aufgabe: Unter Befürwortern des „Gemeinsamen Unterrichts“ gilt die Schule, die seit 1986 Schüler mit Förderbedarf aufnimmt, zwar schon lange als wegweisend. Doch vor etwa zehn Jahren sahen sich Kritiker dieses Modells bestätigt. An der Schule, deren Einzugsgebiet von Migranten und sozial benachteiligten Familien geprägt ist, stieg die Zahl der Schüler mit sprachlichen Defiziten an. Eine Herausforderung, der die Schule kaum noch gerecht werden konnte. Der Plan, Stärkere und Schwächere gemeinsam zu unterrichten, schien gescheitert.

„Als dann auch noch die Anzahl der Sonderpädagogen reduziert wurde, war klar, dass es so nicht weitergehen kann“, sagt Heike Schley. Sie suchte eine Lösung. „Unserem Nordstern folgend“, fügt sie schmunzelnd hinzu – und meint damit die Vision von einer Gemeinschaft, in der die Unterschiede bereichernd sind anstatt, wie so oft, lähmend. Gemeinsam mit einem Team von Lehrern und Lehrerinnen besuchte sie „Inklusive Schulen“ in Berlin, Köln und Münster. Kaum zurück, beantragte sie jahrgangsübergreifenden Unterricht beim Hessischen Kultusministerium. „Das Konzept hat uns überzeugt “, sagt Heike Schley. Die Genehmigung kam schrittweise, und zwischen 2010 und 2012 wurden zunächst zwei Jahrgänge zusammengelegt, dann drei und schließlich alle vier. „Seither können wir unsere Schülerinnen und Schüler viel besser individuell fördern.“ Die Vorteile der „klassenlosen Gesellschaft“ zeigen sich schon bei banalen Dingen wie dem morgendlichen Begrüßungsritual: „Es kann ein Vierteljahr dauern, bis eine erste Klasse einen Kreis bilden kann“, weiß Heike Schley. „Da geht viel Zeit verloren.“ An ihrer Schule schauen sich die Jüngeren die täglichen Rituale einfach von den Älteren ab. Die wiederum wachsen an der eigenen Vorbildrolle. Durch vielfältige Aufgaben, vom Blumendienst bis zur Patenschaft, gewinnen die Schüler Selbstvertrauen und lernen, Verantwortung zu übernehmen.

Auch im Unterricht werden die Vorteile des Lernens über Altersgrenzen hinweg sichtbar. „Das Lerntempo war auch innerhalb der alten Klassenverbände sehr unterschiedlich“, sagt Heike Schley. Eine Aufgabe, die ein einzelner Lehrer kaum bewältigen kann. Denn entweder sind die Langsamen überfordert oder es langweilen sich die Schnellen. Jetzt seien die Gruppen zwar größer, doch ein eingespieltes Team aus vier Pädagogen, das die Stärken und Schwächen seiner Schüler kenne, könne spontan Gruppen bilden, die viel funktionaler sind als starre Klassenverbände. „Es gibt viel weniger Reibungsverluste“, so Schley. Und weil es längst zu einer guten Tradition an der Römerstadtschule geworden ist, ausgetretene Pfade zu verlassen, denkt die Einrichtung heute weit über den Rand des Schulhofs hinaus: Zahlreiche Angebote für Kinder oder Eltern, von Schulvorbereitung im Hort bis zum wöchentlichen Elterncafé, von Töpferkurs bis Toben auf dem Abenteuerspielplatz, haben die Schule zu einem gut vernetzten Ansprechpartner im Viertel gemacht. Natürlich läuft es nicht immer und überall rund: Welche Methoden für den jahrgangsübergreifenden Unterricht am geeignetsten sind, muss das Kollegium stets aufs Neue austesten. Einzel- oder Gruppenarbeit? Frontalunterricht oder Projektarbeit? Die Teams tauschen sich im Rahmen von wöchentlichen Konferenzen über ihre Erfahrungen aus, monatlich diskutiert die gesamte Lehrerschaft offen über Erfolge und Misserfolge. Eine Schulentwicklungsgruppe ermittelt den weiteren Kurs. Wie der künftig aussehen soll, steht noch nicht ganz fest, nur so viel: „Wir wollen die Schüler zu noch mehr eigenständigem Lernen ermutigen“, sagt Heike Schley. Detaillierte Arbeitspläne sollen den Schülerinnen und Schülern künftig helfen, ihre Lernschritte noch besser selbst zu planen und zu gestalten.

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Eigentlich haben Maja und Hannah heute schulfrei. Doch die angehenden Abiturientinnen sitzen vor ihren Mathebüchern im „Selbstlernzentrum“ ihrer Schule. Das ist ein abgeschiedener Raum mit gemütlichen Sofaecken, Bücherregalen und Tischen für Gruppenarbeit. Die beiden besuchen das Berufliche Gymnasium des Regionalen Berufsbildungszentrums (RBZ) Wirtschaft in Kiel. Maja blättert in ihrem Heft, morgen hat sie eine Matheprüfung, aber die Vektorrechnung sitzt noch nicht. „Hier können wir ungestört üben“, sagt Hannah. „Es gibt keine Ablenkung, darum kommen wir auch, wenn wir freihaben, gerne hierher.“

Dass Maja und Hannah in dieser Schule Ruhe zum Lernen finden, ist nicht selbstverständlich. Denn rund 4.500 Schüler besuchen dieses berufliche Schulzentrum. Zwei Drittel davon sind Auszubildende und damit Teilzeitschüler. In sieben weiteren Bildungsgängen für rund 1.300 Vollzeitschüler/-innen reichen die Abschlüsse vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur. Entsprechend heterogen ist die Schülerschaft, viele unterschiedliche Biographien und schulische Vorleistungen treffen aufeinander. Doch die Schulleitung, das Kollegium und auch die jungen Menschen selbst tragen dazu bei, dass jeder den optimalen Weg durch die durchlässigen Bildungsgänge nicht nur findet, sondern auch durchsteht. Schulleiter Wulf Wersig sagt das so: „Es ist egal, wo einer anfangs steht, wichtig ist, ihm zu zeigen, was er erreichen kann.“ Sein Kollegium wendet viel Zeit für Zeugnisgespräche und eine Mut machende Schullaufbahnberatung auf. Man merkt es dieser Riesenschule kaum an, dass sie erst seit knapp einem Jahr in dieser Form existiert. Sie hat nichts weniger als eine beispielgebende Neugründung hinter sich, die im konstruktiven Zusammenwirken entstand. Denn zwischen 2009 und 2013 mussten die beiden kaufmännischen Berufsschulen in Kiel „Der Ravensberg“ und die „Ludwig-Erhard-Schule“ fusionieren. Keine leichte Aufgabe, bekennt Wersig: „Es ging um weit mehr, als nur zwei Standorte in einem Neubau unterzubringen. Jahrelang standen wir in einem Wettbewerbsverhältnis, plötzlich sollten wir eins werden. Manche hatten eher das Gefühl einer feindlichen Übernahme als einer Fusion.“ Doch dann richteten beide Schulen gemeinsame Arbeitsgruppen ein. Miteinander besuchte man Schulen in Schweden, Dänemark und den Niederlanden. Mit Ideen für einen besseren Unterricht kam man zurück, ein Gesamtkonzept für die vereinte Schule wurde erarbeitet. Fusion war nicht länger nur Last, sie wurde auch als Chance begriffen und genutzt.

Von der Größe und Komplexität der neuen Schule profitieren die Schüler, denn es ist gelungen, die besten Traditionen beider Schulen eindrucksvoll zu verknüpfen. Hier gibt es Projekte zu Themen, die aufhorchen lassen. Lehrer und Schüler haben schnell gemerkt, dass eine Schule dieser Größenordnung nur funktionieren kann, wenn man zusammenarbeitet. Der Zusammenhalt wird durch gemeinsame Feste und durch Vorhaben gestärkt, bei denen ganze Klassen miteinander arbeiten. Bei Infoabenden gewähren Berufsschüler Einblicke in ihre Praxisarbeit, Gymnasiasten und Ehemalige zeigen Wege durch höhere Bildungsgänge.

Seit Herbst 2013 gibt es das Nachhilfeprojekt „Schüler helfen Schülern“. Es wird von Lehrern organisiert, aber von den Schülern eigenständig durchgeführt. Jonna ist 18, sie kommt von einem Austausch aus Kanada zurück und bietet sich als Nachhilfelehrerin für Englisch an. Sarah vom Abendgymnasium ist dafür sehr dankbar, sie muss dringend die Grammatik auffrischen. Jeden Dienstagnachmittag üben die beiden gemeinsam – auch wenn sie nicht auf die gleiche Schule gehen. „Durch die Größe der Schule finden sich genügend Schüler für Nachhilfe, so dass wir auch in Kleingruppen lernen können“, sagt Jonna.

Die Lehrkräfte am RBZ verstehen modernen Unterricht als Lernen, das mit Praxis und echtem Leben zu tun hat. „Manchmal brauchen junge Menschen eben mehr als nur klassischen Unterricht“, sagt Oliver Zantow. Er arbeitet viel mit Jugendlichen, die Misserfolge und Schulabbrüche hinter sich haben. Einmal in der Woche trifft er sich mit ihnen im Café Kilimanjaro. Es befindet sich im Erdgeschoss des Altbaus, hier bietet seine Klasse in den Pausen selbst hergestellte Snacks und Getränke an, und man verkauft Fairtrade-Produkte.

Die Zuständigen planen die Mengen, rechnen Zutaten aus, kaufen ein, machen die Abrechnung. Das Praxisprojekt ist Teil des berufsvorbereitenden Jahres. Am Ende sollen die 15 Schüler den Hauptschulabschluss schaffen, der ihnen die Chance auf eine Lehrstelle oder Zugang zu einer weiterführenden Schule bietet. Doch dem verantwortlichen Lehrer geht es auch um die Sensibilisierung der Schülerschaft für Probleme der Dritten Welt. Mit Hilfe eines Partnerschaftsvereins betreibt das Café Kilimanjaro nachhaltige Bildungsarbeit in der Region, kooperiert mit Hochschulen und ermöglicht so u. a. für Lehramtsstudierende an der benachbarten Universität regelmäßige Schulpraktika an Partnerschulen in Tansania. Außerdem gibt es einen kontinuierlichen Schüler/-innen und Lehrer/-innenaustausch.

Nesar mag das Café, am liebsten bäckt er Waffeln. Vier Tage Unterricht, ein Tag Café Kilimanjaro. Für ihn ist die Arbeit im Café wichtig, denn er lernt hier ganz nebenbei Deutsch von seinen Mitschülern und von sonstigen Gästen. Der 18-Jährige stammt aus Pakistan. Er ist ehrgeizig, er fühlt sich ernstgenommen durch seinen Lehrer. Zantow ist sich sicher: „Irgendwann wird er studieren, denn er ist clever und fleißig, nur mit der Sprache hapert es noch.“ Nesar hat sich für die Berufsfachschule angemeldet. „In zwei Jahren will ich meinen Realschulabschluss machen“, sagt er.

„Ermöglichungskultur“, so nennen die Lehrer, worauf es ihnen ankommt. Sie wissen, es ist wichtig, die Schüler zu ermutigen und ihnen einen Vertrauensvorschuss zu geben. Dazu noch einmal Zantow: „Wir sagen: Bisher ist deine Schullaufbahn nicht so toll gelaufen, aber wir vertrauen dir, dass du dir ab jetzt Mühe gibst. Wir helfen dir, damit du es schaffst.“ So sei auch das Motto des RBZ gemeint: Transparenz, Offenheit und Vertrauen.

Offenbar trägt das Früchte: Vor ein paar Jahren kam ein polnisches Mädchen an die Schule. Sie wollte unbedingt Abitur machen, sprach aber kaum Deutsch. Da beschlossen die Lehrer, ihr Einzelunterricht zu geben. So schaffte sie ihr Abitur und konnte studieren. Sie entschied sich für das Lehramt. Heute arbeitet sie als Förderlehrerin am RBZ und gibt Schülern wie Nesar Unterricht. Damit auch sie es schaffen.

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Mein lieber Scholli!
Mit ihrer schmutzigen ockerfarbenen Nachkriegsfassade und ihrer vor 20 Jahren stehengebliebenen Zeigeruhr wirkt diese Schule wie aus der Zeit gefallen. Moos kriecht über den Rasen, selbst die Rotbuchen sind von blassgrünen Flechten überzogen – nichts deutet darauf hin, dass hier Vorreiterpädagogik gelebt wird.

Was das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Lüdenscheid so modern macht, zeigt die Klasse 5c im ersten Stock. „How can I help you“, fragt Ingo laut – er spielt im Englischunterricht einen Verkäufer. „Where can I try on this sweatshirt?“, fragt Semra. Währenddessen schnappt sich Jessica Aufgabenzettel B und denkt sich einen Geschäftsdialog aus, Malte neben ihr nimmt Zettel A, wo er den niedergeschriebenen Dialog nur mit einigen Worten vervollständigen muss. Und Chris schreibt eifrig mit, was Ingo sagt.

Klingt alles konventionell. Nur hat Chris eine Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Ingo stottert stark, während die anderen 31 Schüler geduldig lauschen; Semra zeigt gegenüber anderen wenig Respekt, Jessica gilt als hochbegabt, übersprang deshalb zwei Klassen, liest englischsprachige Bücher und lernt gleichzeitig Französisch sowie Latein. Malte ist ein sogenannter hochbegabter „Under-Achiever“, er nimmt sich den leichter zu lösenden Zettel A, weil er die vierte Klasse übersprungen hat und erst jetzt mit Englischlernen beginnt – willkommen in einer ganz normalen Klasse des Scholl-Gymnasiums, wo sich die Schüler gern mit „Mein lieber Scholli!“ begrüßen. Diese Schule schaut bei der Aufnahme von Schülern nicht auf die Noten. Sie ist prinzipiell offen für alle – besonders für jene, die woanders Probleme haben; sei es, weil sie Behinderungen haben, ADHS, psychische Probleme, seltene Krankheiten oder aus schwierigen Familienverhältnissen kommen. Inklusion wird hier nicht nur akzeptiert, sondern als Ansporn für besseres Lernen betrachtet: Die Leistungen der „Schollis“ liegen über dem Landesschnitt in NRW, es gibt kaum Sitzenbleiber. In den letzten zehn Jahren bestanden 711 von 713 Schülern das Abitur. Die Lernleistungen beeindrucken angesichts der Biographien umso mehr.

„Irgendwann dämmerte uns, wie heterogen unsere Schülerschaft ist“, erinnert sich Antje Malycha. Die Rektorin schaut gerade in den Unterricht der 5c hinein. „Darauf muss man eingehen.“ Das macht die Schule attraktiv für Hochbegabte und Schüler mit Handicaps, ein jeder von ihnen besucht das Gymnasium mit dem Ziel Abitur; Förder- oder Sonderpädagogen gibt es hier nicht. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der individuellen Förderung.

Am Ende der Englischstunde erhalten die Kinder der 5c eine Check-Liste für die nächste Klausur. Jeder Schüler trägt seinen Lernstand ein. Nicht nur der Unterricht ist für jeden anders – bis in den Nachmittag begleiten ihn Mitschüler und Lehrer als Lernpaten und Coaches. Jede Leistung erhält eine konkrete Rückmeldung. „Wir sieben nicht aus“, sagt Antje Malycha, „sondern diagnostizieren Schwächen und Stärken. Dann gehen wir gezielter vor.“ Antje Malycha strebt zu ihrem Büro, gleich hat sie einen Termin mit Nicole. Die 19-Jährige hat das Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus. Sie ist eine gute Schülerin, intelligent, hält es aber in Gruppen kaum aus. „Wir versuchen, mit ihr den Realschulabschluss hinzukriegen. Den Weg zum Abitur könnte sie dann auch online mit einer Fernschule beschreiten.“ Am Schreibtisch liest die Rektorin eine Mail von Nicole, die sich entschuldigt. Sie fühle sich heute nicht gut. „Gerade haben einige Lehrer mehr Kapazitäten, weil ihre Schüler momentan Abiturprüfungen haben“, sagt Antje Malycha. „Sie können Nicole Einzelunterricht geben.“ Die Schülerin legt selbst fest, wie viel Zeit sie für die Aufgaben braucht: zum Beispiel in Englisch zehn Unterrichtsstunden für eine Analyse des Krim-Konflikts, und weitere zehn für einige Sonette von Shakespeare.

Das Scholl-Gymnasium nahm zwischen 2002 und 2008 an einem Schulversuch zur Integration von Hochbegabten teil. Silvia Greiten, die die individuelle Förderung koordiniert, sagt es so: „Danach war uns klar: Wer Begabte fördern kann, kann auch Schüler mit Behinderungen fördern. Es geht um den Blick auf Kinder, das Erkennen ihrer Ressourcen. Und dann bemühen wir uns, ein Netzwerk an Unterstützungen für diese Potentiale zu knüpfen.“

Und es geht um Methodenvielfalt. Im Leistungskurs Biologie wagen sich die Schüler heute an DNA-Codes. Eine Gruppe untersucht die Geschichte des Hauses Baden – es geht um die Frage, ob das berühmte Findelkind Kaspar Hauser dazugehörte oder nicht. Eine andere Gruppe checkt, wie DNA-Stränge kopiert werden können. „Zuerst auf 90 Grad Celsius erhitzen, dann auf 60 Grad runterkühlen“, referiert Uwe. „So bilden sich die Einzelstränge.“ Schließlich werden die Gruppen gemeinsam Blutproben vergleichen, um das Kaspar-Hauser-Rätsel zu lösen.

Um Schüler konsequent zu begleiten, braucht man viel Personal. Das schafft sich die Schule selbst. Über 40 Prozent der Schüler sind ausgebildete Co-Lehrer. Sie assistieren in den großen Pausen beim Ballspiel in der Turnhalle, betreuen als Paten ganze Klassen oder helfen bei den Hausaufgaben, so wie Daniela: Die Siebtklässlerin geht nach der Mittagspause mit Anja einen Text durch. „Zu ‚flere‘ fällt mir eine Eselsbrücke ein“, sagt sie. „Das klingt wie flennen – also weinen.“ Sie möge Latein, sagt sie, und gebe das gern weiter. „Mir macht es Spaß, diese langen Sätze auseinanderzunehmen.“ Für den Job als Coach ließ sich Daniela ein halbes Jahr lang ausbilden, einmal pro Woche, siebte Stunde. Anja dagegen fällt Latein schwer, daher schlug ihr der Lateinlehrer eine Patenschaft vor – so wie Fatima aus der 5c gerade im zweiten Stock auf Vorschlag ihrer Lehrerin Stefanie Heinrich ein sogenanntes Lernplakat malt. Damit plant sie die nächsten Lernschritte zur Unterscheidung von s-Lauten und der ie-Schreibweisen. „Gut wäre, aus meinem Lieblingsbuch solche Sätze abzuschreiben“, schreibt Fatima auf. Stefanie Heinrich: „Das Plakat dient der Bewusstheitsschärfung.“ Um die Schüler scharen sich einige Unterstützer.

Am Nachmittag lichten sich die Flure. Petra kommt um die Ecke gebogen, sie holt Unterlagen ab für die Abiprüfung in drei Wochen. „Das wird mein Endspurt“, lächelt die 19-Jährige. Sie braucht mehr Zeit zum Lernen. Bei der Geburt erlitt sie eine Gehirnblutung, seitdem ist sie hüftabwärts gelähmt. Mehrere Grundschulen hätten sie damals nicht aufnehmen wollen, „obwohl sie rollstuhltauglich waren“. Die Schulbehörde wollte sie zur Sonderschule schicken, die Eltern widersprachen. Die Direktorin der Sonderschule erklärte: „In vier Jahren sehe ich Dich wieder. “ Petra musste schulpsychologische Tests bestehen, um auf eine Regelschule zu kommen. „Ich kriege eine Wut, wenn ich daran denke.“ Aber bei den Schollis wird ja alles kälter gegessen, als es gekocht wird. Noch in diesem Jahr wird Petra ihr Studium aufnehmen – in Sonderpädagogik. Das Geschwister-Scholl-Gymnasium wird sie vielleicht tatsächlich einmal wiedersehen. Als Lehrkraft.

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Nancy packt ihre Hefte zusammen, nimmt ihre Leselektüre und das Logbuch. Sie hat heute ein Lerngespräch mit ihrer Lehrerin und will Frau Tobias zeigen, was sie geschafft hat. „Hast Du diese Woche alles erreicht, was Du Dir vorgenommen hast?“, fragt Frau Tobias. „In Mathe habe ich viel geschafft“, sagt Nancy und zeigt ihre Rechnungen. „Dafür hast Du in Deutsch nicht zu Ende gelesen.“ „Ja, nächste Woche muss ich mehr lesen und schreiben“, sagt die Erstklässlerin.

Sie malt für ihre Matheleistungen einen lachenden Smiley in ihr Logbuch. Der für Deutsch schaut etwas zerknirscht. Aber etwas fehlt noch im Lerngespräch, denn die Erich Kästner Schule in Hamburg möchte auch, dass alle Schüler „individuelle Sozialziele“ erreichen. Die sollen die sozialen Kompetenzen und das Miteinander fördern.

„Du verstehst Dich im Moment nicht gut mit Esra, oder?“, fragt Frau Tobias. „Hmm... ja“, gibt Nancy zu. „Ich kann nächste Woche freundlich mit Esra sprechen.“ Frau Tobias findet das eine gute Idee. Zusammen kleben sie ein Symbol in Nancys Logbuch, damit sie nicht vergisst, was sie sich vorgenommen hat.

Seitdem die Schule ein neues Lernkonzept für sich entwickelt hat, ist das Logbuch ein wichtiger Teil des Lernens an der Erich Kästner Schule in Hamburg, an der Kinder von der Vorschule bis zum Abitur unterrichtet werden. Schulleiter Pit Katzer führte die sogenannte Lernzeit in Deutsch, Mathe und Englisch ein. Während dieser Zeit können die Schüler in einem Fach ihrer Wahl arbeiten und selbst die Schwierigkeitsstufe ihrer Aufgaben wählen. „Wir haben eine sehr heterogene Schülerschaft“, erklärt Katzer, manche brechen nach dem Realschulabschluss ab, andere erreichen die Hochschulreife – aber alle werden gemeinsam unterrichtet. „Da ist es unverzichtbar, dass die Schüler am gleichen Gegenstand lernen, aber auf unterschiedlichem Level“, sagt Katzer. Das Konzept der Erich Kästner Schule heißt: Gerade die Unterschiede machen uns stark. Es wurde angestoßen durch die lange Erfahrung der Stadtteilschule mit behinderten Kindern. Seit 20 Jahren lernen hier Kinder mit und ohne Handicap zusammen, die Lehrer kennen sich aus im Umgang mit unterschiedlichen Leistungsansprüchen.

Bei Frau Tobias fehlt heute ein Schüler. Es ist Simon, er ist im Gebäude nebenan im „Prisma“. Das ist Lernwerkstatt, Schulzoo und alternatives Lernangebot zugleich. Therapiehund Fafnir gehört auch dazu. Kinder, die sich in der Klasse schwertun, weil sie unkonzentriert, überfordert oder unterfordert sind, finden hier einen Raum zum individuellen Lernen. „Eben alle, die in der Klasse ihr Potential nicht entfalten können“, sagt Sozialpädagogin Gabriele Schütz, die das Prisma leitet. Simon ist noch nicht lange dabei, er kann sich schlecht konzentrieren. Alles, was er anfängt, gibt er nach wenigen Sekunden auf. Anfangs wollte er wieder weg, aber dann fragte Gabriele Schütz, ob er ihr nicht helfen könne, den Sand zu sieben. Und Simon hilft gerne. Jetzt siebt er, filtert kleine bunte Steine heraus, sortiert sie nach Farben und Formen, findet Murmeln, zählt, ob sie komplett sind.

„Es geht darum, jedem Kind Erfolgserlebnisse zu vermitteln, damit es gerne und erfolgreich lernt“, erklärt Schütz. Nach einer Stunde muss Simon zurück in die Klasse. Die Prisma-Leiterin lobt ihn: „Du hast heute selbständig gearbeitet, ohne Hilfe, das braucht viel Konzentration, toll gemacht.“ An der Erich Kästner Schule haben viele Kinder, so wie Simon, eine LSE-Behinderung. Sie haben Förderbedarf im Bereich Lernen, Sprache und Entwicklung. Viele brauchen keinen Rat, sondern nur Ermutigung.

Als Simon geht, warten schon einige Kinder vor der Tür. Denn Prisma ist bei allen Kindern beliebt und die wenigen Plätze in den Pausen sind sehr begehrt. Zurück in der Klasse, nimmt Simon wie alle anderen am Unterricht teil. Seine Klassenlehrerin Sarah Tobias merkt ihm an, wie gut ihm die Zeit im Prisma tut: „Davor hatte er regelmäßig die Klasse auseinandergenommen, Sachen um sich geschmissen. Jetzt arbeitet er konzentrierter und kommt mit den anderen Kindern besser klar.“ Nächstes Jahr werden 100 Schüler mit LSE-Handicap an der Schule lernen, mehr als in mancher Förderschule. Doch während in Förderschulen weniger als 20 Prozent den Hauptschulabschluss erreichen, sind es an der EKS fast 80 Prozent, die mindestens den Hauptschulabschluss schaffen. Inklusion ist Alltag auch im Kollegium. Die zweite Lehrerin in Simons Klasse ist sehbehindert, sie korrigiert Arbeiten unter einem Vergrößerungscomputer. Die Sportlehrerin sitzt im Rollstuhl.

Nächstes Jahr dürfen Simon und seine Klassenkameraden Instrumente ausprobieren, zum Beispiel Geige oder Saxophon – und bekommen dann zwei Jahre lang kostenlos Unterricht. Die Schule macht mit beim Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKI). Auch in den höheren Klassen wird viel Wert auf Kultur gelegt: „Viele unserer Jugendlichen stammen aus bildungsfernen Familien und bekommen von zu Hause wenig Anregung – die gibt es hier“, sagt Schulleiter Pit Katzer. Er findet, Schule habe auch eine kompensatorische Funktion, denn Kultur bereichere das Leben und sei wichtig für die Persönlichkeitsentfaltung. „Wir wollen Interessen wecken und fördern, egal, ob sie relevant für einen Schulabschluss sind.“ Daher gibt es einen kreativen Wahlpflichtbereich, in dem die Jugendlichen zwischen Bildender Kunst, Darstellendem Spiel, Literatur, Tanz, Foto und Modedesign wählen können. Sean hat Letzteres belegt, er ist jetzt in der 11. Klasse und bügelt gerade ein Stück Stoff für seinen Entwurf. Das Thema des Jahres heißt „Text“. Auf einer kleinen Puppe hat er seinen Entwurf drapiert, eine kurze bedruckte Hose will er nähen. „Ich kann meinen Ideen freien Lauf lassen und lerne doch etwas dabei“, sagt er.

Viele Aspekte des Unterrichts verfolgen ein bestimmtes Ziel, sagt Pit Katzer: „Die Schüler sollen die Sinnhaftigkeit des Lernens für sich erkennen, warum es wichtig ist, bestimmte Dinge zu beherrschen.“ Daher hat er auch die Naturwissenschaften zusammengelegt. Jetzt bestimmt nicht mehr der Stundenplan, ob Biologie, Physik oder Chemie unterrichtet wird, sondern das Thema. Und das lautet gerade „Verdauung“. Während also einige Schüler die dazugehörigen Organe und ihre Funktion an einem Modell lernen, weisen andere in einem Experiment Nährstoffe wie Stärke nach. Sophie erklärt, warum sie den fachübergreifenden Unterricht sinnvoller findet: „So lerne ich viel praktischer, ich kann mir alles besser anschauen und merken.“

Sophie ist erst nach der Grundschule an die EKS gekommen, sie hat das Turner-Syndrom. Es betrifft nur Mädchen, wegen einer Genveränderung kommen sie nicht in die Pubertät und sind kleinwüchsig – aber so intelligent wie andere Kinder. „In meiner Grundschule haben sie immer gesagt, ich könne dies nicht und das nicht, ich durfte immer nur Mandalas ausmalen“, sagt sie. „Dabei bin ich doch nicht in die Schule gekommen, um zu malen, ich wollte lernen!“ Die Erich Kästner Schule bemüht sich durch individuelle Lernprofile mit unterschiedlichen Lernniveaus, aus jedem Schüler das Beste herauszuholen, das Motto lautet: „Keinen Schüler verlieren.“ Und tatsächlich sind die Abschlüsse im 10. Jahrgang deutlich besser, als es die Grundschulempfehlungen erwarten lassen. Nur acht Prozent, die in der 5. Klasse angemeldet werden, haben eine Gymnasialempfehlung. Am Ende erreichen aber fast 40 Prozent die Versetzung in die Oberstufe. In Sophies Klasse geht noch ein weiteres Mädchen mit Behinderung, es ist Yasmina, sie hat das Down-Syndrom. Sie hat sich mit einer Klassenkameradin in eine Ecke zurückgezogen, beugt sich über ein Buch, formt leise die Lippen, ihre Freundin erklärt ihr etwas. Denn die Klasse hat sich ein eigenes „Sozialziel “ gesetzt: Bis zu ihrem gemeinsamen Realschulabschluss soll Yasmina lesen können.

 

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Die Fünfen, die Anna* gemalt hat, schlängeln sich mit einer deutlichen Unwucht über die Seite. "Du darfst welche wegradieren und neu probieren", sagt Andrea Franz zu der Sechsjährigen, die neu in der Löwenklasse ist. "Die hier", sagt Anna. "Nein, das sind die Schönsten", widerspricht die Pädagogin. "Doch, die!" "Nein, such Dir von diesen hier welche aus" – Frau Franz zeigt auf die obere Hälfte des Blattes. "Nein, will ich aber nicht." Das Mädchen mit den drei lustigen Zöpfen hat manchmal einfach keine Lust auf Vorgaben und Regeln. Damit kämpfen die Pädagogen in der Bremer Grundschule am Buntentorsteinweg seit ihrer Einschulung im Februar. Doch heute werden sie einen kleinen Erfolg erleben.

Die Löwenklasse ist eine von sechs gemischten Lerngruppen der Jahrgangsstufe 1– 2 in der dreizügigen Grundschule. Andrea Franz unterstützt die Klassenlehrerin gemeinsam mit einer weiteren Sozialpädagogin. Unzählige Male haben sich die drei Frauen die Köpfe zerbrochen, wie Anna besser mit dem Schulalltag zurechtkommen könnte. "Kognitiv ist Anna fit", sagt Franz, sozial hingegen verhalte sie sich noch wie ein Kindergartenkind.

Die Einschulung im Februar ist ein Versuch der Bremer Schule, möglichst individuell auf den Stand eines Kindes einzugehen. "Warum sollte man auch nur einmal im Jahr einschulen?", fragt Schulleiterin Meike Baasen. Jedes einzelne Kind so individuell wie nur möglich zu fördern – das ist der Anspruch der Schule. Anna sitzt trotzig vor ihrem Arbeitsblatt und sagt, sie wolle ihre Ruhe haben.

Andrea Franz zieht sich zurück an ihren Schreibtisch. Das Mädchen hat sie an ihre Grenzen gebracht. Anfangs wussten die Pädagogen nicht, was sie mit ihr anfangen sollten. Anna blieb im Stuhlkreis nicht sitzen, sie wollte etwas anderes spielen, sie konnte sich nur wenige Minuten lang auf eine Aufgabe konzentrieren – wenn alle anderen Kinder in die Pause stürmten, blieb sie frustriert an der Garderobe sitzen, weil sie sich noch nicht selbst anziehen konnte. Sie ging nur an der Hand einer Lehrerin widerstrebend in die Pause. "Wir müssen viel miteinander reden, schließlich hat jeder seine Sichtweise zu einem Kind", sagt Franz. Ihre Lehrer bastelten für Anna eine Punktekarte: Jedes Mal, wenn sie sich zügig anzieht, bekommt sie einen Stempel, bei zehn Stempeln darf sie mit Andrea Franz Muffins backen. Seither geht es viel besser. Statt eines weiteren Misserfolgs erlebt das Mädchen, in dessen Familie es eine Mutter, drei Kinder und drei Väter gibt, dass Erwachsene alle an einem Strang ziehen. Das ist neu in Annas Leben.

Solche verbindlichen Strukturen kennen viele Kinder aus dem Einzugsbereich der Grundschule nicht. Hier gibt es viele zerrüttete Familien. Der jahrgangsübergreifende Unterricht, die enge Zusammenarbeit des Kollegiums, der Wechsel zur Ganztagsschule – das alles entstand aus der Not heraus. Als Meike Baasen 2001 als Schulleiterin an die Brennpunktschule kam, seien die Zustände äußerst schwierig gewesen, erinnert sie sich: Wenn Schüler auf dem Pausenhof randalierten, gab es kein gemeinsames Vorgehen. "Die Lehrer waren Einzelkämpfer." Dieser Ruf eilte der Schule voraus: Bildungsnahe Familien schickten ihre Kinder lieber auf Privatschulen.

Das Kollegium erkannte, dass die Kinder des Stadtteils eine engere Begleitung brauchen. Meike Baasen beantragte als ersten Schritt die Umwandlung von der Halbtags- in eine gebundene Ganztagsschule. Die große Breite an Entwicklungsständen in den ersten Klassen führte dazu, dass die Schule als eine der ersten in Bremen Klasse 1 und 2 zusammenlegte. "Große Heterogenität kann man besser bearbeiten, wenn man sie vergrößert", glaubt die Schulleiterin.

Nur wenige Meter neben Anna absolviert Keno im Stuhlkreis seine Einmaleins-Prüfung. Der sechsjährige schmale Junge mit den großen dunklen Augen hat sich für die Prüfung selbst beworben. "Fünf mal acht?", fragt ihn ein größerer Junge, "40", sagt Keno prompt. Mit dem Malen von Fünfen hat er sich kaum aufgehalten. Keno ist ein halbes Jahr an der Schule und mit dem Stoff der zweiten Klasse bald durch. Überflieger wie ihn gab es früher kaum. Mittlerweile schicken auch Bildungsbürger ihre Kinder auf die Schule, dank der individuellen Förderung. Vielleicht wechselt Keno ein Jahr früher zu den Großen. Auch das soll im Team besprochen werden, mit der Fachkompetenz aller, die mit ihm zu tun haben.

Der Übergang von der gemischten Eingangsstufe in die damalige dritte Klasse hat am Buntentorsteinweg einst zu einem großen Konflikt zwischen den Lehrern geführt. "Da kamen zwei halbe Klassen zusammen, die sich kaum kannten, und sollten auf einmal eine homogene Jahrgangsklasse bilden", erinnert sich Konrektor Bastian Rojahn, "das konnte nicht funktionieren." Die Lehrer der dritten Klassen waren sauer auf ihre Kollegen: "Ihr bereitet uns die Kinder nicht richtig vor." Ein Graben ging durchs Kollegium, erinnert sich Rojahn. Ein einjähriger Diskussionsprozess mit externer Moderation ergab schließlich, dass nur eine gemischte Stufe 3 – 4 das Problem lösen könne.

Baasen ließ das Schulhaus umbauen, so dass je zwei Lerngruppen eine ganze Etage für sich haben – mit zwei Klassenräumen und einer Art gemeinsamem Wohnzimmer in der Mitte und jeweils großen Fenstern in den Wänden. Der Unterricht ist dadurch transparent, die Pädagogen haben Blickkontakt. Das passte nicht allen Lehrern. "Hier kann nur arbeiten, wer offen ist für Transparenz und Teamarbeit", sagt Baasen.

Große Pause im Lehrerzimmer. Jana Schlösser und Hendrik Paul, zwei junge Lehrer, stehen am Tresen und planen, wie sie ihre gemeinsamen Klassenzimmer einrichten. Sie sind ein enges Team, sagt Paul: "Jana unterrichtet bei mir Deutsch und Englisch, ich bei ihr Mathe." Damit tragen sie gemeinsam die Verantwortung für die "Partnerlerngruppen", genannt Marienkäfer (Jahrgangsstufe 1– 2) und Eulen (3 – 4). Wer aus den Marienkäfern herauswächst, wechselt nur auf die andere Seite des Gemeinschaftsbereichs zu den Eulen. Das kann auch mitten im Schuljahr sein oder nur in einzelnen Fächern.

Konrektor Rojahn erinnert sich an arbeitsreiche Jahre, als das gesamte Lehrmaterial neu erarbeitet werden musste. Für die Pioniere gab es keine vorgefertigten Arbeitshefte. Seither existieren zwei mal sechs jahrgangsgemischte Lerngruppen, die den Stoff parallel bearbeiten. "Es ist etwas Besonderes, dass sich sechs Lehrer einigen, woran und wie sie arbeiten", sagt Bastian Rojahn, "hier ist keiner König in seinem Raum." Der ganze Lehrstoff steht zur Diskussion, das bringt auch Konflikte mit sich. "Aber es lohnt sich, weil nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht."

Am Ende der vierten Stunde springt Anna auf. In Windeseile zieht sie ihre Schuhe an, schnell die Jacke drüber, nix wie los. Jubelnd rennt sie mit einer Freundin um die Wette auf den Pausenhof. Andrea Franz schaut ihr beeindruckt hinterher. "So etwas führt auch bei uns zu Arbeitszufriedenheit", sagt sie bewegt. Die vielen zusätzlichen Teamstunden haben sich gelohnt. Für alle.

* Name geändert

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Manchmal kommen so viele Besucher in die Waldschule, dass sich manche Lehrer etwas weniger Berühmtheit wünschen würden. Rund tausend Lehrer von anderen Schulen, Professoren, Experten und Journalisten haben sie in den vergangenen fünf Jahren durch das Schulgebäude, einen imposanten Klinkerbau der Jahrhundertwende, geschleust. Eine Zeit lang so viele, dass einer Kollegin der Kragen platzte: "Wir sind doch hier nicht im Zoo!"

Volker Masuhr sieht das etwas anders. Natürlich sei es nicht einfach, so viele Gäste zu empfangen, sagt der 59-jährige Leiter der Flensburger Grundschule. "Aber wer die Qualität steigern will, muss auch an Marketing und Vertrieb denken." Es ist einer dieser Sätze von Masuhr, über die man schmunzeln muss. Marketing und Vertrieb? An einer Grundschule?

Volker Masuhr, Sakko und Jeans, zieht einen Ordner aus dem Schrank, schlägt ihn auf und deutet auf eine Statistik. Sie zeigt die Entwicklung der Schülerzahlen aller Grundschulen in Flensburg in den vergangenen Jahren: Neun Linien weisen nach unten. Eine einzige wandert empor: Die Waldschule wächst. 2006, als Masuhr sein Amt antrat, zählte sie 220 Schüler, viele davon aus der Nordstadt, einem der schwierigsten Viertel Flensburgs. "Wir hatten viele auffällige und wenig starke Schüler", sagt Masuhr. Der Unterricht wurde oft gestört, das Kollegium wusste nicht weiter - und schon war es da, dieses Wort: "Problemschule".

Heute, neun Jahre später, besuchen 330 Jungen und Mädchen die Waldschule. Sie kommen aus ganz Flensburg, auch aus der Westlichen Höhe, einem der wohlhabendsten Viertel der Stadt. In Vergleichstests schneiden sie mindestens durchschnittlich ab. Ein wachsender Teil der Schüler wechselt nach der vierten Klasse aufs Gymnasium, immer weniger auf die Hauptschule. "Wir haben aus der Abwärtsspirale eine Aufwärtsspirale gemacht", sagt Volker Masuhr stolz.

Erste Stunde nach den Osterferien: Morgenkreis. Die "Delfine", ein Lernverband aus Erst- und Zweitklässlern, stehen im Kreis zusammen. Julia, eine Schülerin, leitet das Ritual. Sie begrüßt die anderen Kinder, dann zählen sie reihum auf Englisch: one, two, three, four, five, six - Stille: Lukas* ist dran und schaut zu Boden. Er ist ein Schüler mit Förderbedarf. In jeder Klasse der Waldschule gibt es mindestens einen Jungen oder ein Mädchen, die besondere Unterstützung brauchen. Das englische Wort für "sieben" fällt Lukas nicht ein, also flüstert es ihm sein Nebenmann Jonas ins Ohr. "Seven", sagt Lukas. Die Zählung kann weitergehen. Später sagt die Klassenlehrerin Marnie Pietrzak zu Lukas: "Du bist ein bisschen unruhig heute. Willst Du mal kurz mit Jonas rausgehen?" Lukas nickt. Es gibt zwar eine Integrationsassistentin, aber mit Jonas loszuflitzen, das findet Lukas natürlich viel besser, und einen Augenblick später sind die beiden weg. Als sie nach einer Runde um den Schulhof zurückkehren, ist Lukas viel ruhiger. "Kein Mitschüler würde das für sich einfordern", sagt Marnie Pietrzak.

"Die Kinder haben begriffen, dass für Lukas eben manchmal etwas andere Regeln gelten." Ob Überflieger oder Kind mit besonderem Förderbedarf, ob Schüler mit oder ohne Migrationshintergrund, ob Akademikertochter oder Arbeitersohn: "Unser Motto ist: Es ist normal, verschieden zu sein", sagt Volker Masuhr. Und die Beliebtheit der Schule zeigt, dass hier, an der Grenze zu Dänemark, auch viele Eltern verstanden haben, was in Skandinavien längst als unbestritten gilt: dass starke Schüler vom gemeinsamen Lernen mit weniger starken Klassenkameraden profitieren. Und dass man soziale Verantwortung am besten in einer Gruppe lernt, die die Gesellschaft in ihrer Vielfalt abbildet.

Ideen, die Volker Masuhr schon kannte, als es das Wort "Inklusion" noch lange nicht gab. Früher leitete der Sonderpädagoge eine Förderschule, 2006 kam das Angebot der Waldschule, gepaart mit dem Wunsch des Landes, hier etwas zum Positiven zu drehen. Masuhr, einst Handballer in der Bundesliga, begriff die Krise als Chance, die Schule völlig neu aufzustellen. Ob Klassenstufen, Frontalunterricht oder Schulnoten: Alles wurde zur Debatte gestellt. "Ich wollte eine Schule, in der Kinder Verantwortung tragen", sagt er. Er weiß aber auch: Wer die Eigenständigkeit und Partizipation aller fördern will, braucht auch einen gewissen Anteil starker Schüler.

Masuhr entschied sich für einen ungewöhnlichen Schritt: Kurz nach Amtsantritt engagierte er eine Zirkusschule, die mit den Schülern ein Programm trainierte. 12.000 Euro sollte das Projekt kosten, ein Sponsor trug einen Teil, doch ein Kostenrisiko blieb. Sie stellten ein Zirkuszelt auf dem Schulhof auf und rührten die Werbetrommel. Mit Erfolg: Die Flensburger kamen in Scharen. Alle drei Shows: ausverkauft. Besucherzahl: 1.400. Finanzieller Verlust: null. Die Zeitungen überschlugen sich vor Begeisterung. "Plötzlich hatten wir ein Alleinstellungsmerkmal. Wir waren die Schule, die Besonderes auf die Beine stellt." Ein Ruf, an dem sie bis heute arbeiten: Konzerte mit Musikern des Landestheaters, Sängerpatenschaften des Flensburger Musiktheaters, Projekte mit einem Wissenschaftsmuseum - Unterricht findet an der Waldschule längst nicht mehr nur im Klassenraum statt.

Für Marketing und Vertrieb ist seit dem Zirkusprojekt gesorgt. Nun musste nur noch das Produkt erneuert werden. Masuhr und sein Kollegium entschieden sich für den großen Umbau: Erste und zweite Klassen wurden zu jahrgangsübergreifenden Lernverbänden zusammengelegt. Im Rahmen einer Fortbildung lernten die Lehrer, wie man Unterricht mit mehr Eigenarbeit gestaltet. Lehrerteams entwickelten Kompetenzraster, die den Lernstand der Schüler dokumentieren. Mittlerweile tun diese das parallel sogar selbst: Ihr Heft mit dem Titel "Mein Lernweg" zeigt auf, welche Ziele im laufenden Halbjahr erreicht werden sollen. Wer etwas gelernt hat, malt das entsprechende Kästchen aus. "Am liebsten würden wir die Noten ganz abschaffen", sagt Volker Masuhr. Er weiß, dass das ein heikles Thema ist, ist sich aber sicher: "Eine detaillierte Dokumentation ist wertvoller als ein Zeugnis mit Noten", weil sie Stärken und Schwächen eines Schülers aufzeige und kleine Erfolgserlebnisse möglich mache.

Die vielen Besucher, die heute durch die Flure gehen, können kaum glauben, dass die Waldschule mal eine Problemschule war. Die Türen vieler Klassenzimmer stehen offen - so beschwert sich nicht immer nur der Lehrer über Lärm, sondern auch mal die Nebenklasse. "Flüsterschule" nennen sie das, und es funktioniert, weil der Unterricht durch eigenständiges Arbeiten geprägt ist. In der Pause streifen sich manche Schüler grüne Shirts über und verleihen Spiele oder verkaufen Brötchen. Nach dem Unterricht schlüpfen einige Viertklässler in die Rolle von Streitschlichtern: Sie laden Streitende zu Mediationsgesprächen ein. Ein Amt, dem eine dreivierteljährige Ausbildung vorausgeht. "Wir haben uns davon verabschiedet, Wissen in Köpfe zu trichtern", sagt Volker Masuhr. "Uns geht es um die Frage: Wie entwickeln wir Persönlichkeiten?"

* Name geändert

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Das Geheimnis der Jenaplanschule Rostock offenbart sich in einem Dreieck. Genauer gesagt: in Hunderten Dreiecken, man stößt auf sie überall im Gebäude mit seinen vanillefarbenen Wänden. Lernbüro Mathe der Jahrgänge 7 und 8 im Gruppenraum "Sokrates", 8:20 Uhr: Justin und Lea diskutieren aufgeregt. "Dieses Dreieck hat mehr Fläche als die anderen", sagt er, "es hat mehr Umfang." Lea kontert: "Aber seine Höhe ist geringer." Zu ihnen beugt sich Madeleine Knuth, 31. "Das sind beides Argumente", sagt die Lehrerin. "Fallen Euch noch weitere ein?"

Die Dreiecke auf dem Papier liegen neben Geodreiecken auf Einzeltischen, die Schüler zu Quadraten oder Hexagonen zusammengeschoben haben. Im "Lernbüro" erarbeiten sich die Schüler Lernstoff, in dem sie in der kommenden Woche geprüft werden. Madeleine Knuth huscht von Tisch zu Tisch, lauscht, fragt und lacht. Jüngere Schüler fragen ältere und andersherum; wer Jahrgang 7 und wer Jahrgang 8 ist, erschließt sich nicht. Da schaut Martin Plants Lockenkopf herein. "Lernbüros heißen so", sagt der Rektor, "weil jeder selbständig in einer fachlich vorbereiteten Lernumgebung arbeitet." Vor 15 Jahren machte sich diese Schule in der Hansestadt an der Ostsee auf einen langen Weg, sie war eine Neugründung von reformpädagogisch beseelten Lehrern und Eltern - in Trägerschaft der Stadt Rostock. Eine staatliche Alternative zur Dreigliedrigkeit des Schulsystems sollte gefunden werden, ein Ort des gemeinsamen Lernens statt der frühen Aufteilung. Viermal zog die Schule seitdem um. Und verfeinerte in den Jahren ihre Unterrichtsstruktur, die nur auf den ersten Blick mit ihren verschiedenen Modulen unergründlich erscheint. Heute hat die Jenaplanschule Rostock den Lernprozess auf eine Weise individualisiert, die ihren Unterricht vorbildlich für andere macht. Die integrierte Gesamtschule mit Grundschule bietet den Pennälern an, von der ersten bis zur zehnten Klasse zusammenzubleiben. Bei Vergleichsarbeiten bringen sie weit überdurchschnittliche Leistungen hervor. Seit 2011 zum Beispiel haben nur drei Schüler ihren Abschluss mit der Berufsreife gemacht, die anderen in mittlerer Reife; 65 Prozent von ihnen besuchten danach Gymnasien oder Fachgymnasien. "Wir wollen keinem Elitekonzept folgen", sagt Martin Plant. "Wir haben die Leistungen aller Schüler und als Ganzes im Blick. Heterogenität begreifen wir als Schlüssel zum Erfolg."

Das Primat der Unterschiedlichkeit durchzieht das Schulleben. Auch Inklusion sei schließlich nichts anderes als Umgang mit Heterogenität, meint Martin Plant. Das zeigt der an das Lernbüro anschließende "Modulunterricht“. Jörg, Jahrgang 8, lernt hier wie die 21 anderen Schüler die Geometrie von Dreiecken. Das Lernbüro Mathe haben die Schüler freiwillig gewählt, statt Lernbüro Deutsch, Englisch oder Französisch - die sind dann zu anderen Zeiten dran.

Das Modul Mathe ist Pflicht für Jörg, insgesamt werden es heute 200 Minuten Dreieckskunde werden. Jörg ist einer von mehreren Schülern mit psychosozialen Problemen; von den Eltern gibt es schon seit langem nicht die Wertschätzung, die ein Kind braucht, und neuerdings ist er im betreuten Wohnen untergekommen. Die Schule nimmt immer mehr Quereinsteiger mit psychischen Problemen auf. Sie ist damit einerseits Spiegel der Gesellschaft und der zunehmenden mentalen Erkrankungen, andererseits hat sie sich als Lehrstätte mit vielfältigen Integrationsformen einen guten Ruf erarbeitet. Hier fällt Jörg nicht auf. Er erfährt Respekt, Förderung und Forderung zugleich. Zunächst konstruiert er allein ein Dreieck nach vorgegebenen Winkelmaßen. "Ihr habt höchstens 15 Minuten Zeit dafür", ruft Madeleine Knuth streng, "wir müssen im Plan bleiben." Dann tun sich die Schüler in Vierergruppen zusammen, vergleichen ihre Ergebnisse. "Mist, meines ist nicht genau rechtwinklig", resümiert Jörg. "Wie zeigt man, dass die Dreiecke kongruent sind?", fragt die Lehrerin. Jörg formuliert Regeln, schreibt sie auf.

Auch bei den Kleinen ist der Unterricht an den Tischgruppen jahrgangsübergreifend. Erster, zweiter und dritter Jahrgang lernen hier gemeinsam wie Lehrling, Geselle und Meister. Henri unterstreicht Subjekt und Prädikat, nebenbei wirft der Drittklässler einen Blick auf Nadines Heft; die Zweitklässlerin soll den gleichen Satz richtig von der Tafel abschreiben. "Tulpenfeld schreibt man am Ende mit d", sagt Henri und zieht nun sein Rechenheft vor. Es ist selbständige Lernphase in der Gruppe "Kunterbunt". Lehrerin Katja Dobbert und Horterzieherin Nicole Postelt wandeln zwischen den Hexagonen umher. Erklären tun hingegen oft die Schüler selbst, so wie Henri, der jetzt dem Erstklässler Ingo am Abakus hilft. "Vier hast Du, dann nimmst Du zwei Kugeln weg - wie viele bleiben Dir?" Ingos Augen strahlen, er hat etwas kapiert. Rektor Martin Plant, der an mehreren Orten zugleich zu weilen scheint, sagt auf dem Flur: "Es gibt ein weiteres magisches Dreieck an unserer Schule: das zwischen Lehrern, dem Schulverein und den Horterziehern." Während Lehrer und Horterzieher gemeinsam arbeiteten und gestalteten, agiere der Verein als Träger des Horts.

Ein paar Schritte weiter, auf einem Treppenabsatz, sitzt Franka. Die Drittklässlerin hat sich einen Kopfhörer aufgesetzt. "Im Gruppenraum ist es mir zu laut", sagt sie, "hier lerne ich besser."

Es geht auf die Mittagszeit zu. Drei Räume weiter hat Torsten Ruchhöft acht Schüler der Jugendgruppe "Fallada" zu sich geholt, es geht um die Besprechung ihrer Projektarbeiten. Die Neunt- und Zehntklässler hatten Vorträge zum Thema "Konflikte" erarbeitet, auf Englisch gehalten und später auf Deutsch niedergeschrieben; nun bespricht Torsten Ruchhöft mit ihnen die Noten. "Das war ein bisschen sehr faktenlastig", sagt er zu einer Arbeit über Tierforschung, "Du hättest mutiger sein können mit Deiner eigenen Meinung." Es ist "Feierabend". Freitagmittag, nach dem Essen, kommen die Stammgruppen, wie die Klassen in der Schule heißen, zusammen und lassen die Woche Revue passieren. "Das Projekt ›Konflikte‹ war schwierig", sagt Jasmeen, "es gibt so viele Meinungen zu einem Thema."

In der Gruppe "Picasso" geht es um einen anderen Konflikt. Lehrer Göran Stehr will ein Thema vom heutigen Morgenkreis aufgreifen. Da sprachen sie über Migranten in der Stadt. Ein Schüler hatte gesagt: "Die benehmen sich am Strand wie Penner." Und: "Wir zahlen für die Steuern." "Die füllen ihre Kinder mit Alkohol ab." Lehrer Stehr hatte nachgebohrt: "Und wenn ich meinem Kind Alkohol geben würde, wäre das genauso schlimm? Würdet Ihr genauso darüber reden?"

Lehrer Stehr wirft nun über einen Beamer einen YouTube-Film an die Wand, es geht um Fremdenfeindlichkeit in den verschiedenen Bundesländern. Er fragt: "Warum gibt es davon mehr in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern als in Berlin, wo doch viel mehr Migranten leben?" Benny hebt den Arm. "Weil die Berliner sich daran gewöhnt haben? Da gibt es ja ganze Türkenviertel.“ Die Schüler stutzen. Warum hat man Angst vor etwas, das man nicht kennt - und keine, wenn man es kennt? Für heute gehen sie auseinander. Und Montag sehen sie sich wieder, beim gemeinsamen Lernen.

Porträt

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Zeus trägt einen grauen Pulli, Jeans und Turnschuhe, selbstbewusst steht er auf dem Schulhof der Gesamtschule Barmen in Wuppertal. Lorena, 11, bittet ihn um eine gute Ernte. Der Göttervater ist schließlich auch zuständig für das Wetter. Zeus fordert als Gegenleistung zwei Kühe. "Na gut", sagt Lorena, blond, Hörgeräte am Bügel ihrer Brille. Sie überreicht ihm die beiden Kühe, gespielt von Lilli und Sabrina. Die beiden Mädchen kriechen über den Boden. "Jetzt wird die Ernte gut", seufzt Lorena erleichtert. Die Schüler der 5f applaudieren. Die Fünftklässler nehmen im Fach Gesellschaftslehre (eine Kombination aus Erdkunde, Geschichte und Sozialkunde) gerade die griechische Mythologie durch. Bei schönem Wetter haben sie den Unterricht nach draußen an den Schulteich verlegt, sie beschäftigen sich mit einem Arbeitsbogen: "Viele Götter für alle Fälle". In kleinen Gruppen entwickeln sie Rollenspiele und tragen sie vor.

"Jetzt bitte Euer Feedback", sagt Klassenlehrerin Jennifer Brekeller. "Ich fand Eure Idee zu Zeus gut, das war witzig", sagt eine Mitschülerin. "Ich fand es auch richtig gut, weil Ihr gute Gesten hattet", ergänzt ein anderer. Leon, der Zeus gespielt hat, und die drei Mädchen setzen sich. Dann tritt Poseidon, alias Aliyah, in die Mitte. Ihre Mitschülerin Melissa möchte eine Bootsfahrt machen und bittet den Meeresgott um ruhige See, "damit mir nichts passiert". Die Kinder sprechen in ein Mikrofon, das sie um den Hals tragen, denn zwei ihrer Mitschüler haben starke Einschränkungen beim Hören. Ganz selbstverständlich reichen sie das Mikro hin und her. Auf den ersten Blick ist in der Schar der Fünftklässler nicht zu erkennen, welches Kind besonderen Förderbedarf hat und welches nicht. Die 5f ist eine Inklusionsklasse. Zwei weitere Kinder sind in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung beeinträchtigt.

An der Gesamtschule Barmen werden Kinder mit Handicaps nicht separiert, sondern der Anspruch ist, dass alle Schüler gemeinsam lernen. Das Gebäude für die 1.361 Schüler und ihre 121 Lehrer ist ein Traum: roter Klinker mit viel hellem Holz und einem Glasdach. Drinnen wachsen Palmen und Farne – wie in einem Gewächshaus. Obwohl den ganzen Tag Kinder und Jugendliche den langen, mit Parkett belegten Mittelgang auf und ab laufen, Mädchen und Jungen auf Stufen hocken, reden, diskutieren und arbeiten, wird es nie richtig laut. Die Pflanzen schlucken die Geräusche und sorgen für eine entspannte Atmosphäre. Die Kinder und Jugendlichen gehen rücksichtsvoll mit ihrer Schule um. Trotz seiner 15 Jahre wirkt das Schulgebäude neu, modern und sauber: Es liegt kaum Müll herum, es gibt keine Kritzeleien oder Zerstörung. Daniel, 13, aus der 8c lobt die Pflanzen, und seine Klassenkameradin Jessi, 14, schwärmt davon, wie sich die Schule an manchen Tagen im Wasser des Schulteichs spiegelt. "Das gibt es nicht an vielen Schulen." Ihre Mitschüler nicken. Schüler und Lehrer fühlen sich offensichtlich wohl hier. Der Raum als "dritter Pädagoge" – in Wuppertal wird spürbar, wie wohltuend sich gelungene Architektur auf Unterricht, Lernen und das Miteinander auswirkt.

Die Gesamtschule Barmen ist eine Insel mitten in einem sozialen Brennpunkt. Der Strukturwandel hat Wuppertal hart getroffen. Früher war hier Textilindustrie angesiedelt, heute verschärft sich die soziale Ungleichheit: Oben leben die Gewinner, unten im Tal an der Wupper die Verlierer. Wuppertal gehört zu den höchstverschuldeten Städten Deutschlands. 2014 lebte fast jedes dritte Kind von Hartz IV. "Für einige Schüler ist die Schule ein schönerer Ort als ihr Zuhause. Sie freuen sich, wenn sie nach den Ferien wieder zu uns kommen dürfen", sagt die Schulleiterin Bettina Kubanek-Meis, 56. Etwas mehr als die Hälfte ihrer Schüler wächst mit nur einem Elternteil auf, ein Drittel hat einen Migrationshintergrund. In den fünften Klassen hat schon fast die Hälfte aller Kinder ausländische Wurzeln. Die Begabungen der Kinder sind sehr unterschiedlich. Doch den Lehrern gelingt es, ihre Schüler zu besseren Leistungen zu führen als von der Grundschule am Ende der vierten Klasse prognostiziert: Rund 60 Prozent der Jugendlichen wechseln in die Oberstufe, obwohl nur 17 Prozent der Schüler mit einer Gymnasialempfehlung gestartet waren. Bei landesweiten Tests erzielen die Schüler in der Regel nicht nur bessere Ergebnisse als Klassenkameraden an anderen Gesamtschulen, sie liegen oft auch über dem Landesdurchschnitt. Seit Jahren hat kein Schüler mehr die Schule ohne Abschluss verlassen. So etwas spricht sich herum: Die Schule ist so beliebt, dass jedes Jahr die Zahl der Anmeldungen die Zahl der Plätze bei weitem übersteigt. Neulich habe sogar eine Mutter angerufen, deren Kind gerade erst in den Kindergarten gekommen sei, sie wollte es bereits jetzt anmelden, erzählt Ralph Bühn. Der 50-jährige Ingenieur ist Mitglied der Elternpflegschaft der Schule. "Die Lehrer sind super engagiert, ein tolles Team! Unsere Kinder, wir alle fühlen uns sehr wohl", sagt er. An der Gesamtschule gibt es viele Regeln. Manche wirken zunächst befremdlich und scheinen nicht zu einer modernen Schule zu passen. So wie die Kleiderordnung, die auf Wunsch der Schüler verfasst wurde. "Die Kinder fordern Regeln von uns, sie brauchen einen Rahmen, damit sie sich sicher fühlen", sagt Schulleiterin Kubanek-Meis. Die Regeln werden nicht einfach von oben erlassen, sondern in Absprache mit Schülern und Eltern getroffen. Sie sind Ausdruck von Fürsorge und Wertschätzung.

So trägt kein Schüler Shirts mit rassistischen und antidemokratischen Sprüchen oder Aufschriften, die sie selbst oder andere verhöhnen. "Wir wünschen uns eine Kleidung, die deutlich macht, dass Schule ein öffentlicher Arbeits- und Lebensraum ist, in dem wir uns mit Achtung und Respekt begegnen", heißt es in der Kleiderordnung. Auch das Handyverbot wird ohne großes Murren respektiert. Telefone und Smartphones dürfen nur benutzt werden, wenn der Lehrer es im Unterricht erlaubt. "Neulich haben wir die Handys in Mathe benutzt", erzählt Achtklässler Daniel. "Wir sind rausgegangen, haben eine Umfrage zu Cannabis gemacht und dann die Ergebnisse als Statistik ausgewertet. Das war gut." Das Klima an der Schule hat die Mitglieder der Schulpreis-Jury bei ihrem Besuch im Januar beeindruckt. "Ich habe selten eine Schule erlebt, an der Schüler, Lehrer und Eltern so respektvoll und wertschätzend miteinander umgehen", lobt Erziehungswissenschaftler Professor Michael Schratz von der Universität Innsbruck, Sprecher der zwölfköpfigen Jury. "Andere Schulen können von der Gesamtschule Barmen lernen, wie Partizipation und Teilhabe in exzellenter Weise gelebt werden."

Vor neun Jahren begann an der Gesamtschule eine "neue Zeit": Die Lehrer stellten ihren Unterricht um. "Seitdem hetzen wir nicht mehr so durch den Tag, die Zahl der Unterrichtsstunden hat sich reduziert, das Lernen ist nachhaltiger", sagt die Schulleiterin. Die Schüler haben fünf Lerneinheiten à 65 Minuten pro Tag und eine lange Mittagspause von 70 Minuten. Täglich gibt es bis zu zwölf Angebote im Ganztag mit Unterstützung von Eltern und außerschulischen Partnern. Die Schüler können Steppen lernen, in der Video-AG arbeiten oder sich zum Schmökern in die Bibliothek zurückziehen. Der Unterricht ist vielfach lehrergesteuert, wird aber nicht vom Pädagogen dominiert, er tritt viel mehr als Berater und Begleiter auf. Die Lernarrangements sind sehr fein auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler abgestimmt. "Die Lehrer sind wie Resonanzkörper", hat Erziehungswissenschaftler Schratz beobachtet. "Sie spüren, was ihre Schüler brauchen. In ihrem Unterricht fordern sie die Kinder und Jugendlichen heraus, sie führen sie gezielt an ihre Leistungsgrenzen – und darüber hinaus." Dazu setzen sie verschiedene Methoden des individuellen Lernens ein: Wochenplan- und Portfolioarbeit, Präsentationen, Partner- und Gruppenarbeit. Chemie in der 8e: Die Schüler arbeiten in Gruppen zu heterogenen und homogenen Stoffgemischen, starke und schwache Schüler zusammen. Einige der Teenager albern mit den Schutzbrillen herum. Funktioniert es, wenn Haupt-, Real- und Förderschüler zusammen mit Gymnasiasten lernen? Marie, 14, versteht die Frage gar nicht. "Wieso nicht? Das klappt gut. Nicht jeder kann alles, aber wir helfen uns." Sie möchte Abi machen. Timo, der ihr gegenübersitzt, träumt davon, Mechaniker zu werden. "Jeder ist unterschiedlich gut: Der eine kann dies, der andere das." Die Lehrer arbeiten in Jahrgangsteams, entwickeln gemeinsam Projekte, Klassenarbeiten, Tests – eine komplette "Unterrichtspartitur" für alle Fächer. "Das Team ist hilfsbereit und aufgeschlossen, dafür bin ich als Anfängerin sehr dankbar", sagt Jennifer Brekeller, die junge Klassenlehrerin der 5f. An anderen Schulen gehe es im Kollegium ganz anders zu.

Hausaufgaben gibt es an der Gesamtschule Barmen nicht, die meisten werden während der Schulzeit erledigt. Arbeitsstunde in der 5f: Die Elfjährigen wählen selbständig zwischen Aufgaben in Mathe, Deutsch und Englisch. Brauchen sie Hilfe, können sie sich an die Mitschüler, an die beiden Klassenlehrer Jan-Michael Platz und Jennifer Brekeller oder an ihre Paten aus der zehnten Klasse, Franziska, Lisa, Fabienne und Martin, wenden. Als Fabienne mit blaugefärbten Haaren das Klassenzimmer betritt, hängt sofort eine Traube von Kindern an ihr, alle wollen von der 16-Jährigen in den Arm genommen werden. Robin, 11, bekommt leuchtende Augen, wenn er von ihr spricht.

"Es fällt viel leichter, einen Schüler zu fragen als einen Lehrer. Fabienne hilft mir in Mathe und Deutsch." Die Paten melden sich freiwillig und werden ein halbes Jahr lang auf ihre Aufgabe vorbereitet, sie machen beispielsweise eine Ausbildung zum Streitschlichter. "Uns macht es Spaß, mit den Kindern zu arbeiten, ihnen etwas mitzugeben", sagt Franziska, 16. Sie begleiten ihre Patenklasse bei Wandertagen, helfen bei Projekten und gehen mit ihnen auf Klassenreise. Zehntklässler Martin hat einige seiner Schützlinge sogar vorab in ihrer Grundschule besucht. An der Gesamtschule Barmen ist jeder Schüler für irgendetwas verantwortlich: sei es als Pate, Medienscout oder Schulsanitäter. Es gibt zahlreiche Ordnungsdienste. Die Schüler treten offen und selbstbewusst auf. "Ohne uns läuft hier nichts", sagen die Mitglieder der Schülervertretung. "SCHULe- MIT-WIR-KUNG" steht in großen Buchstaben auf den Fenstern des Gebäudes, das Leitmotiv zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben an der Schule. Für ihren Umgang mit Verantwortung bekommt die Gesamtschule von der Schulpreis-Jury deshalb sogar die absolute Höchstnote: eine Eins plus. Während die Schüler der 5f an ihren Aufgaben arbeiten, bitten die beiden Klassenlehrer Jan-Michael Platz, 30, und Jennifer Brekeller, 28, einzelne Kinder zu sich, um mit ihnen ihren Leistungsstand zu besprechen. Das passiert ganz nebenbei – diese Form des Feedbacks ist offenbar genauso selbstverständlich für die Kinder wie die Arbeit mit dem Logbuch. Lilli, eine zierliche, blonde Elfjährige, rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, vor ihr liegt der sogenannte "Förderbogen". "Wo siehst Du denn Deine Stärken?", fragt die Klassenlehrerin. "Weiß nicht", antwortet Lilli. "Was kannst Du denn besonders gut? Zuhören? Oder trösten?" "Gar nichts!" "Ach Quatsch, Lilli!" "Nö, weiß nich’, sagen Sie mal!" "Nein, Du zuerst. Mir fällt ganz viel bei Dir ein." "Ich bin sehr ordentlich." "Ja, siehst Du. Und Du bist sehr hilfsbereit, tröstest immer." Behutsam lenkt die Klassenlehrerin den Blick ihrer Schülerin auf ihre Stärken. Sie vereinbaren, dass Lilli sich mehr melden soll und sich ruhig mehr zutrauen kann. "Hast Du Angst vor Fehlern, ist das so?" – "Ja, manchmal." Bei den Zielen kreuzen sie im Lern- und Arbeitsverhalten den Punkt "Mut zum Ausprobieren, zum Fehlermachen" an. Fehler sind an der Gesamtschule ausdrücklich erwünscht – sonst lernt man schließlich nichts. Das hat nichts mit Kuschelpädagogik zu tun, im Gegenteil: Die Ansprüche an dieser Schule sind hoch. Besonders begabte Schüler können beim "Drehtürprojekt" im Fachunterricht an eigenen Projekten arbeiten, stunden- oder fachweise am Unterricht höherer Klassen teilnehmen.

Die Schüler können aus zahlreichen Angeboten zur Förderung frei wählen – und tun das auch. Freiwillig. Denn die Lernangebote klingen nicht nach lästigem Förderunterricht, sondern heißen zum Beispiel bei den Fünftklässlern "Fehlerteufel" (Rechtschreibung), "Fit im Rechnen", "Lerndetektive" (Lernstrategien) oder "Bewegung macht Spaß" (motorische Förderung). Ziel ist es, selbstgesteckte Ziele zu erreichen. Leistung bedeutet an der Gesamtschule Barmen weit mehr, als nur gute Noten und Abschlusszeugnisse zu bekommen oder Pokale zu gewinnen. In ihrer Bewerbung für den Deutschen Schulpreis schreiben die Pädagogen: "Leistung zeigt sich nach unserem Verständnis in vielen Bereichen menschlichen Lebens und Zusammenlebens, wo sich Schüler für ihre Mitschüler einsetzen, wo sie Verantwortung übernehmen, und zwar sowohl für sich selbst als auch für die anderen."

Bei der Schulentwicklung haben sich die Lehrer in den letzten Jahren vor allem auf drei Schwerpunkte konzentriert: Vielfalt leben, Verantwortung übernehmen und Medien kompetent nutzen. "Bei der Bewerbung für den Schulpreis haben wir gemerkt, wie wunderbar das zu den sechs Kriterien passt", sagt die didaktische Leiterin Dorothee Block. Die 62-Jährige hat die Schule mit aufgebaut. "Wir haben unseren Traum von Schule umgesetzt. Nach 20 Jahren Arbeit zu reflektieren, was wir alles machen – das hat uns gutgetan und die Schule nochmals vorangebracht." Als Mitarbeiter der Robert Bosch Stiftung kurz vor Ostern anriefen, um Eltern, Lehrer und Schüler zur Preisverleihung nach Berlin einzuladen, war die Stimmung an der Schule bereits ausgelassen – die Schulleiterin wurde gerade von den angehenden Abiturienten mit Konfetti beworfen. "Wir freuen uns über die Nominierung und sind unglaublich stolz", sagt Bettina Kubanek-Meis. "Aber die Auszeichnung ist für uns kein Lebensziel. Wir wollen vor allem gute Schule für diese Kinder machen."

Porträt

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Als unser Sohn in der vierten Klasse von seiner Lehrerin die Empfehlung fürs Gymnasium bekam, haben wir uns für ihn gefreut. Und uns auf die Suche nach einer guten Schule gemacht. Er ist gut im Rechnen, hat Spaß an Experimenten. Also schauten wir gemeinsam mit ihm ein Hamburger Gymnasium an, das ein besonderes Profil in Mathematik und Naturwissenschaften hat. Am Tag der offenen Tür herrschte großes Gedränge. Plätze an der Schule sind begehrt. Im Chemie- Raum stand ein jugendlicher Lehrer mit Dreitagebart und Schutzbrille am Pult und fackelte Fünf-Euro-Scheine ab. Aber das Geld verbrannte nicht. Wir staunten, was man in Chemie alles machen kann. Ältere Schüler schüttelten vor der Nase unseres Sohnes ein Reagenzglas hin und her, bis sich die Silbernitratlösung als silberner Bezug am Glas abgesetzt hatte. Das Röhrchen durfte er mit nach Hause nehmen.

Wir schauten noch weitere Gymnasien in Hamburg an, und wir besuchten an deren Tag der offenen Tür die Klosterschule. Wir wussten: Diese Schule hatte sich beim Deutschen Schulpreis beworben - dem Prüfsiegel für gute Schulen. Entsprechend neugierig waren wir.

Wir liefen die Flure entlang durch das alte Gebäude auf der Suche nach den Fachräumen für Bio, Physik und Chemie. Und kamen an Räumen für Kunst und Film vorbei - die Schule trägt seit 2008 den Titel "Kulturschule". Bei der Filmwerkstatt meinte unser Zehnjähriger: "Cool, dass man hier so etwas machen kann."

Überall standen die Türen weit offen. Im Physikraum waren schon ein paar Kinder. An den Wänden standen Tische mit Aufbauten für Experimente, Kugelbahnen, die Kraft der Masse, nichts Großes. Aber mein Sohn blieb stehen und fing an, etwas zu probieren. Mehrere Kinder gesellten sich dazu. Irgendwann löste sich ein junger Mann von der Wand und trat auf sie zu: der Physiklehrer. Er stellte sich neben die Kinder, er wollte wissen, wie sie heißen, wofür sie sich interessieren. Diese Szene spiegelt für mich den Geist der Klosterschule wider: Die Schüler stehen im Mittelpunkt und handeln selbst, wann immer sie können, und die Lehrer sind ganz nah an ihnen dran.

Nach dem Besuch verkündete unser Sohn, er wolle auf die Klosterschule gehen. Zu unserer Überraschung ist er nicht nur an Mathe und Naturwissenschaften interessiert, sondern spielt sehr gern Theater. Das Fach ist fester Bestandteil in seinem Stundenplan. Den Schulpreis hat die Klosterschule im Jahr 2012 nicht bekommen, sie wurde aber nominiert. Danach zogen sich Lehrer und Schulleitung nicht etwa beleidigt zurück, sondern setzten sich mit Anregungen und Kritik auseinander. "Die Rückmeldungen der Jury zu unserem Unterricht haben uns nachdenklich gemacht und uns weitere Impulse für unsere Entwicklung gegeben", sagt Ruben Herzberg, seit 21 Jahren Leiter der Klosterschule. Die Lehrer haben sich einiges bei anderen Schulen abgeguckt: die Arbeit in Jahrgangsteams bei der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, Anregungen für das pädagogische Konzept holten sie sich unter anderem an der Offenen Schule Kassel-Waldau. Auch die Einstellung der Gymnasiallehrer ist etwas Besonderes: "Kollegen, die an unserer Schule arbeiten wollen, müssen wissen, dass sie in erster Linie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unterrichten - und dann Fächer", sagt Schulleiter Herzberg, 63. "Wir sind ein Gymnasium, und am Ende machen all unsere Schüler das Zentralabitur, aber die individuellen Bedürfnisse der Mädchen und Jungen stehen für uns im Mittelpunkt."

Die Fürsorge beginnt bereits vor der Einschulung in der fünften Klasse: Mit jedem Kind und seinen Eltern führen Lehrer ein 20 bis 30 Minuten langes Gespräch. Die Schüler werden gebeten, etwas Persönliches mitzubringen. Unser Sohn hatte bei seinem Aufnahmegespräch auch ein Foto seiner Fußballmannschaft dabei und unterhielt sich mit der Mittelstufenkoordinatorin Meike Ludzay über seinen Sport.

Bei Schülern, die nicht die Voraussetzungen fürs Gymnasium mitbringen, berät Schulleiter Herzberg mit den Eltern, welche Schule passen könnte - und telefoniert mit Kollegen, um den Kindern zu einem Platz zu verhelfen. Die Klosterschule liegt mitten in der Hansestadt am Berliner Tor, nicht die beste Gegend, das Einzugsgebiet ist groß. Viele der 930 Schüler kommen aus bildungsorientierten Elternhäusern, andere aus schwierigen Verhältnissen. Über ein Drittel hat ausländische Wurzeln. An dem Gymnasium lernen auch über 50 junge Menschen, die in psychologischer Behandlung sind. Schulleiter Herzberg will darum "kein großes Tamtam machen", wie er sagt. "Darunter sind einige besonders begabte Schüler, die bei uns erfolgreich ihr Abitur machen." "Der Klosterschule gelingt eine Entkoppelung von Leistung und Herkunft", lobt die Schulpreis-Jury. Das sei "beispielgebend". Besondere Begabungen werden gefördert; wer Schwierigkeiten hat, bekommt einen älteren Schüler als Lerncoach an die Seite, der mit ihm Lernstrategien entwickelt. Die Leistungsrückmeldungen sind ausführlicher als an anderen Gymnasien, zum Halbjahr führen die Lehrer ein detailliertes Lern- und Entwicklungsgespräch mit Schülern und Eltern. Kurz nach Ostern konnte man auf den Fluren der Klosterschule beobachten, wie Lehrer und Schüler an kleinen Tischen saßen - sie diskutierten ihre Noten. "Das motiviert", sagt die 15-jährige Erge aus der 9b. Ihre Klassenlehrerin Anke Ott, 32, erklärt: "Die Schüler sollen lernen, ihre Leistungen selbst einzuschätzen. Und wenn ich ihnen jetzt sage, woran sie arbeiten können, bringt das mehr, als am Ende des Schuljahres eine Note zu geben."

"Unsere Schule ist besonders", sagt Erge. "Von anderen Schülern höre ich, dass sie die ganze Zeit rumsitzen und auf die Tafel starren. Das gibt es bei uns nicht." Der Unterricht findet immer in Doppelstunden statt und dauert bis 16 Uhr. Mittags haben die Schüler 80 Minuten Pause. Sie können in der "Oase" etwas essen, auf dem Hof Fußball spielen, Kurse wie "Mangas zeichnen", "Trommeln" oder "südamerikanische Tänze" besuchen oder sich im Bewegungsraum austoben. Sie können sich aber auch in den Mädchen- oder Jungenraum zurückziehen. Doch Schulleiter Herzberg ist besorgt, ob er die Standards an seiner Schule halten kann, denn sein Budget für den Ganztag wurde mehrfach gekürzt. "Ganztag braucht mehr Mittel als ein normales G8-Gymnasium." Und gute Schule geht nur im gebundenen Ganztag, davon ist er überzeugt. Hausaufgaben sind an der Klosterschule weitgehend abgeschafft. "Denn Hausaufgaben sind ein Mittel zur Segregation und sozial ungerecht", sagt Herzberg. "Gebildete Eltern können helfen, Mütter und Väter mit Sprachschwierigkeiten nicht." Übungen in den Hauptfächern Mathe, Deutsch und Englisch machen die Schüler deshalb während der sogenannten "Studienzeiten".

Studienzeit in der 9c: Einige Schüler lesen einen englischen Text, andere berechnen Oberflächen. Manche der Teenager haben Kopfhörer im Ohr, sie hören Musik. "Das haben sich die Schüler gewünscht, wir haben lange diskutiert", sagt Dennis Becker, 32, Klassenlehrer der 9c. "Ich war dagegen, ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie so besser arbeiten können", sagt er. "Aber sie haben mich überzeugt: Die Leistungen sind gestiegen, und es ist ruhiger." Die Klosterschule hat ihre Hausaufgaben gemacht und den Unterricht systematisch verbessert, sie geht konstruktiv mit der Vielfalt ihrer Schüler um und arbeitet an einer Feedback-Kultur bei der Beurteilung von Leistung. Deshalb bekommt sie nun den Deutschen Schulpreis verliehen. Als Mutter ist es ein gutes Gefühl, dass sich nicht nur unser Sohn und inzwischen auch unsere Tochter an dieser Schule wohlfühlen, sondern dass auch die Jury ihr ein exzellentes Zeugnis ausstellt. Die beste Schule ist schließlich gerade gut genug für unsere Kinder.

Porträt

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Außer einem langen Vorstrafenregister hatte Niko* wenig, bevor er auf die Don Bosco- Schule in Würzburg wechselte. Keinen Abschluss, keine Perspektive, keine Idee, nicht mal einen Traum davon, was aus ihm werden soll. Wie auch, wenn sich sofort jede Tür schloss, sobald er seine Akte zeigen musste? Mehrere Schulen hatten ihn abgelehnt, ein Verfahren wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung lief noch, Niko stand mit einem Bein im Gefängnis - und das mit 16 Jahren.

Niko ist einer der Jugendlichen, die am Ende in der Statistik auftauchen als einer von mehr als 46.000 Schülern, die jedes Jahr ohne Hauptschulabschluss aus dem Bildungssystem ausgespuckt werden.

Bevor es so weit kommt, hilft in Würzburg die Don Bosco-Schule. 1.450 Schüler betreut sie insgesamt, 600 davon besuchen dort die Berufsschule. Viele der Schüler, die meisten zwischen 17 und 25 Jahren, "befinden sich in schwierigen Lebenslagen", sagt Schulleiter Dr. Harald Ebert. Einige leiden an psychischen Krankheiten, andere sind junge alleinerziehende Mütter oder Flüchtlinge aus einem Bürgerkriegsland. Manche wurden in ihren bisherigen Schulen gemobbt, von Lehrern rücksichtslos behandelt. "Die möchten wir erst mal wieder motivieren, ihr Selbstvertrauen mit kleinen Erfolgen stärken." Hinzu kommt ein heterogenes Bildungsniveau: In manchen Klassen sitzen Zuwanderer mit mangelnden Deutschkenntnissen neben depressiven Studienabbrechern oder Abiturienten, die den Familienbetrieb nach ihrer Ausbildung übernehmen möchten. Die Schülerschaft hat sich gewandelt. Noch vor 15 Jahren besuchten vor allem Schüler mit einer klassischen Lernbehinderung, aber gutem handwerklichen Geschick die Don Bosco-Schule. Heute sitzen immer mehr Jugendliche in den Klassenzimmern, die bereits psychiatrisch behandelt werden. Zudem werden in wenigen Jahren 30 bis 40 Prozent der Schüler aus Zuwandererfamilien stammen, schätzt Ebert. Damit wandelten sich auch die Bedürfnisse und Herausforderungen, und der Schulleiter begriff, dass sich auch seine Schule verändern musste: "Schule muss dem Schüler folgen, nicht der Schüler der Schule."

In der Ausbildung scheitern inzwischen viele Schüler mit Sprachproblemen an der beruflichen Theorie. Sie können Erklärungen nicht verstehen, Begriffe nicht zuordnen. Deshalb findet der Unterricht an der Don Bosco-Schule bei Bedarf in einer vereinfachten Sprache statt. "Ich kann einem Tischler mit handwerklichem Talent doch nicht seinen Beruf verweigern, weil er mir über seine Arbeit keinen Aufsatz schreiben kann", sagt Ebert.

Schwierigkeiten gibt es allerdings noch beim Schritt von der Schule ins Berufsleben. Denn die Vorschriften der Handwerkskammern nehmen bislang zu wenig Rücksicht auf Sprachbarrieren oder kognitive Einschränkungen. Ebert spricht deshalb mit Mitarbeitern der örtlichen Kammern und auch mit Politikern und entdeckt bei ihnen die Bereitschaft, die Standards anzupassen.

"Wir erzeugen im Bildungssystem oft unnötige Barrieren, die Auszubildende behindern", sagt Ebert. "Wir müssen nicht die Auszubildenden in Frage stellen, sondern unser System. Denn am Ende kommt es darauf an: Was muss man im späteren Berufsleben wirklich beherrschen?"

"Wir verstehen uns als Ombudsstelle", sagt Ebert. Er will Lobbyist sein für die Minderheiten, mit denen er tagtäglich arbeitet. Viele wüssten nicht, was ihre Rechte sind, welche Fördermöglichkeiten ihnen zustehen und schon gar nicht, wie sie diese in Anspruch nehmen könnten. Deshalb betreut das Don Bosco Beratungszentrum neben den Berufsschülern noch weitere 850 junge Leute, die nicht die eigene Schule besuchen. Sozialarbeiter helfen bei Behördengängen, füllen mit ihren Schützlingen Antragsformulare aus, leisten Berufs- und Lebensberatung. Integriert ist auch ein Projekt für Schulverweigerer. Lehrer kümmern sich um Jugendliche, die während des Unterrichts am Bahnhof herumsitzen, und versuchen, die Schulschwänzer fürs Lernen zu begeistern. Studenten der Würzburger Hochschulen geben Einzelunterricht, organisieren Ausflüge, proben mit den Jugendlichen Tanz- oder Theateraufführungen und kochen gemeinsam. Durch diese individuelle Betreuung schaffen zwei Drittel den Sprung zurück ins reguläre Bildungssystem.

300.000 Euro an Fremdmitteln treibt Ebert jedes Jahr ein, um seinen Schülern neben Plan A auch Plan B zu bieten. "Wir sind eine kirchliche private Schule", sagt Ebert.

"Das bedeutet nicht, dass wir die Religion vor uns hertragen, sondern vor allem, dass wir unsere Werte auch wirklich leben. Wir sind eine Solidargemeinschaft und kämpfen um jeden Einzelnen." In der angrenzenden Justizvollzugsanstalt werden junge Häftlinge unterrichtet. Zusätzlich investierte die Kirche im vergangenen Jahr 70.000 Euro, um Flüchtlingen nicht nur in der Don Bosco- Schule, sondern auch im nahe gelegenen Flüchtlingsheim Deutschkurse geben zu können. Sinan* lernt gerade mit Migranten aus der Ukraine, Afghanistan und Serbien, nach dem Weg zu fragen. Vor einem Jahr floh er aus Syrien vor dem Krieg. Sinan und seine Frau wollten eine Familie gründen, aber in Syrien sahen sie keine Zukunft. Jetzt sitzt seine Frau Rana* im Raum nebenan, lernt Vokabeln und sieht ab und zu in den Kinderwagen neben ihr. In manchen Klassen gibt es eine Art Gleitzeit, damit die Mütter ihre Kinder noch in die Kita bringen können. "Wir sind froh, dass wir hier lernen können", sagt Sinan. "Wir wollen doch irgendwann arbeiten, ein Leben haben, nicht nur im Heim warten."

Das ist ein Vorteil in der bayerischen Bildungspolitik: Hier sind alle Flüchtlinge, unabhängig von ihrem Status, bis zu einem Alter von 21 Jahren berufsschulpflichtig. Sinan ist bereits 25 Jahre alt, "aber wir versuchen, unsere Kapazitäten auszuweiten, damit noch mehr Flüchtlinge Deutsch lernen können und vielleicht irgendwann mal einen Berufs- oder Schulabschluss hier machen können", sagt Schulleiter Ebert. Ist die Belastung bei diesem Einsatz für die Lehrer nicht zu hoch? "Ich habe den Eindruck, dass sich viele Kollegen gerne stärker engagieren, wenn sie dafür mit dem Gefühl nach Hause gehen, etwas bewirkt zu haben", entgegnet Ebert. Das bestätigt auch seine Kollegin Ulrike Sendelbach, die im berufsvorbereitenden Jahr tätig ist. "Wir gehen davon aus, dass jeder Schüler auf seine Weise leistungsfähig ist. Wir müssen nur herausfinden, in welchem Bereich." Deshalb stellt sie stark individualisierte Lehrpläne zusammen. Manche brauchen viele Praktika, weil sie noch nicht sicher sind, welches Berufsfeld für sie interessant sein könnte. Andere benötigen mehr Lehrstoff, weil sie ihren Hauptschulabschluss schaffen müssen. Diese Schule verbindet eine Vielfalt von Schicksalen, Kulturen, Lebenswegen. Und ein gemeinsames Ziel: den Schritt in den Arbeitsmarkt zu schaffen.

Niko hat diesen Schritt fast geschafft, in einigen Wochen macht er seinen Abschluss als Bäcker. Dafür hat er sich die vergangenen drei Jahre reingehängt, sogar das Verfahren wurde eingestellt, weil er so fleißig an seiner Zukunft abseits der Kriminalität arbeitet. "Die Lehrer haben nicht in meine Akte geschaut", sagt er. "Ich habe hier eine neue Chance bekommen. Meine letzte, und ich habe sie wahrgenommen."

* Namen geändert