Porträt

Nancy packt ihre Hefte zusammen, nimmt ihre Leselektüre und das Logbuch. Sie hat heute ein Lerngespräch mit ihrer Lehrerin und will Frau Tobias zeigen, was sie geschafft hat. „Hast Du diese Woche alles erreicht, was Du Dir vorgenommen hast?“, fragt Frau Tobias. „In Mathe habe ich viel geschafft“, sagt Nancy und zeigt ihre Rechnungen. „Dafür hast Du in Deutsch nicht zu Ende gelesen.“ „Ja, nächste Woche muss ich mehr lesen und schreiben“, sagt die Erstklässlerin.

Sie malt für ihre Matheleistungen einen lachenden Smiley in ihr Logbuch. Der für Deutsch schaut etwas zerknirscht. Aber etwas fehlt noch im Lerngespräch, denn die Erich Kästner Schule in Hamburg möchte auch, dass alle Schüler „individuelle Sozialziele“ erreichen. Die sollen die sozialen Kompetenzen und das Miteinander fördern.

„Du verstehst Dich im Moment nicht gut mit Esra, oder?“, fragt Frau Tobias. „Hmm... ja“, gibt Nancy zu. „Ich kann nächste Woche freundlich mit Esra sprechen.“ Frau Tobias findet das eine gute Idee. Zusammen kleben sie ein Symbol in Nancys Logbuch, damit sie nicht vergisst, was sie sich vorgenommen hat.

Seitdem die Schule ein neues Lernkonzept für sich entwickelt hat, ist das Logbuch ein wichtiger Teil des Lernens an der Erich Kästner Schule in Hamburg, an der Kinder von der Vorschule bis zum Abitur unterrichtet werden. Schulleiter Pit Katzer führte die sogenannte Lernzeit in Deutsch, Mathe und Englisch ein. Während dieser Zeit können die Schüler in einem Fach ihrer Wahl arbeiten und selbst die Schwierigkeitsstufe ihrer Aufgaben wählen. „Wir haben eine sehr heterogene Schülerschaft“, erklärt Katzer, manche brechen nach dem Realschulabschluss ab, andere erreichen die Hochschulreife – aber alle werden gemeinsam unterrichtet. „Da ist es unverzichtbar, dass die Schüler am gleichen Gegenstand lernen, aber auf unterschiedlichem Level“, sagt Katzer. Das Konzept der Erich Kästner Schule heißt: Gerade die Unterschiede machen uns stark. Es wurde angestoßen durch die lange Erfahrung der Stadtteilschule mit behinderten Kindern. Seit 20 Jahren lernen hier Kinder mit und ohne Handicap zusammen, die Lehrer kennen sich aus im Umgang mit unterschiedlichen Leistungsansprüchen.

Bei Frau Tobias fehlt heute ein Schüler. Es ist Simon, er ist im Gebäude nebenan im „Prisma“. Das ist Lernwerkstatt, Schulzoo und alternatives Lernangebot zugleich. Therapiehund Fafnir gehört auch dazu. Kinder, die sich in der Klasse schwertun, weil sie unkonzentriert, überfordert oder unterfordert sind, finden hier einen Raum zum individuellen Lernen. „Eben alle, die in der Klasse ihr Potential nicht entfalten können“, sagt Sozialpädagogin Gabriele Schütz, die das Prisma leitet. Simon ist noch nicht lange dabei, er kann sich schlecht konzentrieren. Alles, was er anfängt, gibt er nach wenigen Sekunden auf. Anfangs wollte er wieder weg, aber dann fragte Gabriele Schütz, ob er ihr nicht helfen könne, den Sand zu sieben. Und Simon hilft gerne. Jetzt siebt er, filtert kleine bunte Steine heraus, sortiert sie nach Farben und Formen, findet Murmeln, zählt, ob sie komplett sind.

„Es geht darum, jedem Kind Erfolgserlebnisse zu vermitteln, damit es gerne und erfolgreich lernt“, erklärt Schütz. Nach einer Stunde muss Simon zurück in die Klasse. Die Prisma-Leiterin lobt ihn: „Du hast heute selbständig gearbeitet, ohne Hilfe, das braucht viel Konzentration, toll gemacht.“ An der Erich Kästner Schule haben viele Kinder, so wie Simon, eine LSE-Behinderung. Sie haben Förderbedarf im Bereich Lernen, Sprache und Entwicklung. Viele brauchen keinen Rat, sondern nur Ermutigung.

Als Simon geht, warten schon einige Kinder vor der Tür. Denn Prisma ist bei allen Kindern beliebt und die wenigen Plätze in den Pausen sind sehr begehrt. Zurück in der Klasse, nimmt Simon wie alle anderen am Unterricht teil. Seine Klassenlehrerin Sarah Tobias merkt ihm an, wie gut ihm die Zeit im Prisma tut: „Davor hatte er regelmäßig die Klasse auseinandergenommen, Sachen um sich geschmissen. Jetzt arbeitet er konzentrierter und kommt mit den anderen Kindern besser klar.“ Nächstes Jahr werden 100 Schüler mit LSE-Handicap an der Schule lernen, mehr als in mancher Förderschule. Doch während in Förderschulen weniger als 20 Prozent den Hauptschulabschluss erreichen, sind es an der EKS fast 80 Prozent, die mindestens den Hauptschulabschluss schaffen. Inklusion ist Alltag auch im Kollegium. Die zweite Lehrerin in Simons Klasse ist sehbehindert, sie korrigiert Arbeiten unter einem Vergrößerungscomputer. Die Sportlehrerin sitzt im Rollstuhl.

Nächstes Jahr dürfen Simon und seine Klassenkameraden Instrumente ausprobieren, zum Beispiel Geige oder Saxophon – und bekommen dann zwei Jahre lang kostenlos Unterricht. Die Schule macht mit beim Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKI). Auch in den höheren Klassen wird viel Wert auf Kultur gelegt: „Viele unserer Jugendlichen stammen aus bildungsfernen Familien und bekommen von zu Hause wenig Anregung – die gibt es hier“, sagt Schulleiter Pit Katzer. Er findet, Schule habe auch eine kompensatorische Funktion, denn Kultur bereichere das Leben und sei wichtig für die Persönlichkeitsentfaltung. „Wir wollen Interessen wecken und fördern, egal, ob sie relevant für einen Schulabschluss sind.“ Daher gibt es einen kreativen Wahlpflichtbereich, in dem die Jugendlichen zwischen Bildender Kunst, Darstellendem Spiel, Literatur, Tanz, Foto und Modedesign wählen können. Sean hat Letzteres belegt, er ist jetzt in der 11. Klasse und bügelt gerade ein Stück Stoff für seinen Entwurf. Das Thema des Jahres heißt „Text“. Auf einer kleinen Puppe hat er seinen Entwurf drapiert, eine kurze bedruckte Hose will er nähen. „Ich kann meinen Ideen freien Lauf lassen und lerne doch etwas dabei“, sagt er.

Viele Aspekte des Unterrichts verfolgen ein bestimmtes Ziel, sagt Pit Katzer: „Die Schüler sollen die Sinnhaftigkeit des Lernens für sich erkennen, warum es wichtig ist, bestimmte Dinge zu beherrschen.“ Daher hat er auch die Naturwissenschaften zusammengelegt. Jetzt bestimmt nicht mehr der Stundenplan, ob Biologie, Physik oder Chemie unterrichtet wird, sondern das Thema. Und das lautet gerade „Verdauung“. Während also einige Schüler die dazugehörigen Organe und ihre Funktion an einem Modell lernen, weisen andere in einem Experiment Nährstoffe wie Stärke nach. Sophie erklärt, warum sie den fachübergreifenden Unterricht sinnvoller findet: „So lerne ich viel praktischer, ich kann mir alles besser anschauen und merken.“

Sophie ist erst nach der Grundschule an die EKS gekommen, sie hat das Turner-Syndrom. Es betrifft nur Mädchen, wegen einer Genveränderung kommen sie nicht in die Pubertät und sind kleinwüchsig – aber so intelligent wie andere Kinder. „In meiner Grundschule haben sie immer gesagt, ich könne dies nicht und das nicht, ich durfte immer nur Mandalas ausmalen“, sagt sie. „Dabei bin ich doch nicht in die Schule gekommen, um zu malen, ich wollte lernen!“ Die Erich Kästner Schule bemüht sich durch individuelle Lernprofile mit unterschiedlichen Lernniveaus, aus jedem Schüler das Beste herauszuholen, das Motto lautet: „Keinen Schüler verlieren.“ Und tatsächlich sind die Abschlüsse im 10. Jahrgang deutlich besser, als es die Grundschulempfehlungen erwarten lassen. Nur acht Prozent, die in der 5. Klasse angemeldet werden, haben eine Gymnasialempfehlung. Am Ende erreichen aber fast 40 Prozent die Versetzung in die Oberstufe. In Sophies Klasse geht noch ein weiteres Mädchen mit Behinderung, es ist Yasmina, sie hat das Down-Syndrom. Sie hat sich mit einer Klassenkameradin in eine Ecke zurückgezogen, beugt sich über ein Buch, formt leise die Lippen, ihre Freundin erklärt ihr etwas. Denn die Klasse hat sich ein eigenes „Sozialziel “ gesetzt: Bis zu ihrem gemeinsamen Realschulabschluss soll Yasmina lesen können.