Porträt

Die Fünfen, die Anna* gemalt hat, schlängeln sich mit einer deutlichen Unwucht über die Seite. "Du darfst welche wegradieren und neu probieren", sagt Andrea Franz zu der Sechsjährigen, die neu in der Löwenklasse ist. "Die hier", sagt Anna. "Nein, das sind die Schönsten", widerspricht die Pädagogin. "Doch, die!" "Nein, such Dir von diesen hier welche aus" – Frau Franz zeigt auf die obere Hälfte des Blattes. "Nein, will ich aber nicht." Das Mädchen mit den drei lustigen Zöpfen hat manchmal einfach keine Lust auf Vorgaben und Regeln. Damit kämpfen die Pädagogen in der Bremer Grundschule am Buntentorsteinweg seit ihrer Einschulung im Februar. Doch heute werden sie einen kleinen Erfolg erleben.

Die Löwenklasse ist eine von sechs gemischten Lerngruppen der Jahrgangsstufe 1– 2 in der dreizügigen Grundschule. Andrea Franz unterstützt die Klassenlehrerin gemeinsam mit einer weiteren Sozialpädagogin. Unzählige Male haben sich die drei Frauen die Köpfe zerbrochen, wie Anna besser mit dem Schulalltag zurechtkommen könnte. "Kognitiv ist Anna fit", sagt Franz, sozial hingegen verhalte sie sich noch wie ein Kindergartenkind.

Die Einschulung im Februar ist ein Versuch der Bremer Schule, möglichst individuell auf den Stand eines Kindes einzugehen. "Warum sollte man auch nur einmal im Jahr einschulen?", fragt Schulleiterin Meike Baasen. Jedes einzelne Kind so individuell wie nur möglich zu fördern – das ist der Anspruch der Schule. Anna sitzt trotzig vor ihrem Arbeitsblatt und sagt, sie wolle ihre Ruhe haben.

Andrea Franz zieht sich zurück an ihren Schreibtisch. Das Mädchen hat sie an ihre Grenzen gebracht. Anfangs wussten die Pädagogen nicht, was sie mit ihr anfangen sollten. Anna blieb im Stuhlkreis nicht sitzen, sie wollte etwas anderes spielen, sie konnte sich nur wenige Minuten lang auf eine Aufgabe konzentrieren – wenn alle anderen Kinder in die Pause stürmten, blieb sie frustriert an der Garderobe sitzen, weil sie sich noch nicht selbst anziehen konnte. Sie ging nur an der Hand einer Lehrerin widerstrebend in die Pause. "Wir müssen viel miteinander reden, schließlich hat jeder seine Sichtweise zu einem Kind", sagt Franz. Ihre Lehrer bastelten für Anna eine Punktekarte: Jedes Mal, wenn sie sich zügig anzieht, bekommt sie einen Stempel, bei zehn Stempeln darf sie mit Andrea Franz Muffins backen. Seither geht es viel besser. Statt eines weiteren Misserfolgs erlebt das Mädchen, in dessen Familie es eine Mutter, drei Kinder und drei Väter gibt, dass Erwachsene alle an einem Strang ziehen. Das ist neu in Annas Leben.

Solche verbindlichen Strukturen kennen viele Kinder aus dem Einzugsbereich der Grundschule nicht. Hier gibt es viele zerrüttete Familien. Der jahrgangsübergreifende Unterricht, die enge Zusammenarbeit des Kollegiums, der Wechsel zur Ganztagsschule – das alles entstand aus der Not heraus. Als Meike Baasen 2001 als Schulleiterin an die Brennpunktschule kam, seien die Zustände äußerst schwierig gewesen, erinnert sie sich: Wenn Schüler auf dem Pausenhof randalierten, gab es kein gemeinsames Vorgehen. "Die Lehrer waren Einzelkämpfer." Dieser Ruf eilte der Schule voraus: Bildungsnahe Familien schickten ihre Kinder lieber auf Privatschulen.

Das Kollegium erkannte, dass die Kinder des Stadtteils eine engere Begleitung brauchen. Meike Baasen beantragte als ersten Schritt die Umwandlung von der Halbtags- in eine gebundene Ganztagsschule. Die große Breite an Entwicklungsständen in den ersten Klassen führte dazu, dass die Schule als eine der ersten in Bremen Klasse 1 und 2 zusammenlegte. "Große Heterogenität kann man besser bearbeiten, wenn man sie vergrößert", glaubt die Schulleiterin.

Nur wenige Meter neben Anna absolviert Keno im Stuhlkreis seine Einmaleins-Prüfung. Der sechsjährige schmale Junge mit den großen dunklen Augen hat sich für die Prüfung selbst beworben. "Fünf mal acht?", fragt ihn ein größerer Junge, "40", sagt Keno prompt. Mit dem Malen von Fünfen hat er sich kaum aufgehalten. Keno ist ein halbes Jahr an der Schule und mit dem Stoff der zweiten Klasse bald durch. Überflieger wie ihn gab es früher kaum. Mittlerweile schicken auch Bildungsbürger ihre Kinder auf die Schule, dank der individuellen Förderung. Vielleicht wechselt Keno ein Jahr früher zu den Großen. Auch das soll im Team besprochen werden, mit der Fachkompetenz aller, die mit ihm zu tun haben.

Der Übergang von der gemischten Eingangsstufe in die damalige dritte Klasse hat am Buntentorsteinweg einst zu einem großen Konflikt zwischen den Lehrern geführt. "Da kamen zwei halbe Klassen zusammen, die sich kaum kannten, und sollten auf einmal eine homogene Jahrgangsklasse bilden", erinnert sich Konrektor Bastian Rojahn, "das konnte nicht funktionieren." Die Lehrer der dritten Klassen waren sauer auf ihre Kollegen: "Ihr bereitet uns die Kinder nicht richtig vor." Ein Graben ging durchs Kollegium, erinnert sich Rojahn. Ein einjähriger Diskussionsprozess mit externer Moderation ergab schließlich, dass nur eine gemischte Stufe 3 – 4 das Problem lösen könne.

Baasen ließ das Schulhaus umbauen, so dass je zwei Lerngruppen eine ganze Etage für sich haben – mit zwei Klassenräumen und einer Art gemeinsamem Wohnzimmer in der Mitte und jeweils großen Fenstern in den Wänden. Der Unterricht ist dadurch transparent, die Pädagogen haben Blickkontakt. Das passte nicht allen Lehrern. "Hier kann nur arbeiten, wer offen ist für Transparenz und Teamarbeit", sagt Baasen.

Große Pause im Lehrerzimmer. Jana Schlösser und Hendrik Paul, zwei junge Lehrer, stehen am Tresen und planen, wie sie ihre gemeinsamen Klassenzimmer einrichten. Sie sind ein enges Team, sagt Paul: "Jana unterrichtet bei mir Deutsch und Englisch, ich bei ihr Mathe." Damit tragen sie gemeinsam die Verantwortung für die "Partnerlerngruppen", genannt Marienkäfer (Jahrgangsstufe 1– 2) und Eulen (3 – 4). Wer aus den Marienkäfern herauswächst, wechselt nur auf die andere Seite des Gemeinschaftsbereichs zu den Eulen. Das kann auch mitten im Schuljahr sein oder nur in einzelnen Fächern.

Konrektor Rojahn erinnert sich an arbeitsreiche Jahre, als das gesamte Lehrmaterial neu erarbeitet werden musste. Für die Pioniere gab es keine vorgefertigten Arbeitshefte. Seither existieren zwei mal sechs jahrgangsgemischte Lerngruppen, die den Stoff parallel bearbeiten. "Es ist etwas Besonderes, dass sich sechs Lehrer einigen, woran und wie sie arbeiten", sagt Bastian Rojahn, "hier ist keiner König in seinem Raum." Der ganze Lehrstoff steht zur Diskussion, das bringt auch Konflikte mit sich. "Aber es lohnt sich, weil nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht."

Am Ende der vierten Stunde springt Anna auf. In Windeseile zieht sie ihre Schuhe an, schnell die Jacke drüber, nix wie los. Jubelnd rennt sie mit einer Freundin um die Wette auf den Pausenhof. Andrea Franz schaut ihr beeindruckt hinterher. "So etwas führt auch bei uns zu Arbeitszufriedenheit", sagt sie bewegt. Die vielen zusätzlichen Teamstunden haben sich gelohnt. Für alle.

* Name geändert