Porträt
Eigentlich haben Maja und Hannah heute schulfrei. Doch die angehenden Abiturientinnen sitzen vor ihren Mathebüchern im „Selbstlernzentrum“ ihrer Schule. Das ist ein abgeschiedener Raum mit gemütlichen Sofaecken, Bücherregalen und Tischen für Gruppenarbeit. Die beiden besuchen das Berufliche Gymnasium des Regionalen Berufsbildungszentrums (RBZ) Wirtschaft in Kiel. Maja blättert in ihrem Heft, morgen hat sie eine Matheprüfung, aber die Vektorrechnung sitzt noch nicht. „Hier können wir ungestört üben“, sagt Hannah. „Es gibt keine Ablenkung, darum kommen wir auch, wenn wir freihaben, gerne hierher.“
Dass Maja und Hannah in dieser Schule Ruhe zum Lernen finden, ist nicht selbstverständlich. Denn rund 4.500 Schüler besuchen dieses berufliche Schulzentrum. Zwei Drittel davon sind Auszubildende und damit Teilzeitschüler. In sieben weiteren Bildungsgängen für rund 1.300 Vollzeitschüler/-innen reichen die Abschlüsse vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur. Entsprechend heterogen ist die Schülerschaft, viele unterschiedliche Biographien und schulische Vorleistungen treffen aufeinander. Doch die Schulleitung, das Kollegium und auch die jungen Menschen selbst tragen dazu bei, dass jeder den optimalen Weg durch die durchlässigen Bildungsgänge nicht nur findet, sondern auch durchsteht. Schulleiter Wulf Wersig sagt das so: „Es ist egal, wo einer anfangs steht, wichtig ist, ihm zu zeigen, was er erreichen kann.“ Sein Kollegium wendet viel Zeit für Zeugnisgespräche und eine Mut machende Schullaufbahnberatung auf. Man merkt es dieser Riesenschule kaum an, dass sie erst seit knapp einem Jahr in dieser Form existiert. Sie hat nichts weniger als eine beispielgebende Neugründung hinter sich, die im konstruktiven Zusammenwirken entstand. Denn zwischen 2009 und 2013 mussten die beiden kaufmännischen Berufsschulen in Kiel „Der Ravensberg“ und die „Ludwig-Erhard-Schule“ fusionieren. Keine leichte Aufgabe, bekennt Wersig: „Es ging um weit mehr, als nur zwei Standorte in einem Neubau unterzubringen. Jahrelang standen wir in einem Wettbewerbsverhältnis, plötzlich sollten wir eins werden. Manche hatten eher das Gefühl einer feindlichen Übernahme als einer Fusion.“ Doch dann richteten beide Schulen gemeinsame Arbeitsgruppen ein. Miteinander besuchte man Schulen in Schweden, Dänemark und den Niederlanden. Mit Ideen für einen besseren Unterricht kam man zurück, ein Gesamtkonzept für die vereinte Schule wurde erarbeitet. Fusion war nicht länger nur Last, sie wurde auch als Chance begriffen und genutzt.
Von der Größe und Komplexität der neuen Schule profitieren die Schüler, denn es ist gelungen, die besten Traditionen beider Schulen eindrucksvoll zu verknüpfen. Hier gibt es Projekte zu Themen, die aufhorchen lassen. Lehrer und Schüler haben schnell gemerkt, dass eine Schule dieser Größenordnung nur funktionieren kann, wenn man zusammenarbeitet. Der Zusammenhalt wird durch gemeinsame Feste und durch Vorhaben gestärkt, bei denen ganze Klassen miteinander arbeiten. Bei Infoabenden gewähren Berufsschüler Einblicke in ihre Praxisarbeit, Gymnasiasten und Ehemalige zeigen Wege durch höhere Bildungsgänge.
Seit Herbst 2013 gibt es das Nachhilfeprojekt „Schüler helfen Schülern“. Es wird von Lehrern organisiert, aber von den Schülern eigenständig durchgeführt. Jonna ist 18, sie kommt von einem Austausch aus Kanada zurück und bietet sich als Nachhilfelehrerin für Englisch an. Sarah vom Abendgymnasium ist dafür sehr dankbar, sie muss dringend die Grammatik auffrischen. Jeden Dienstagnachmittag üben die beiden gemeinsam – auch wenn sie nicht auf die gleiche Schule gehen. „Durch die Größe der Schule finden sich genügend Schüler für Nachhilfe, so dass wir auch in Kleingruppen lernen können“, sagt Jonna.
Die Lehrkräfte am RBZ verstehen modernen Unterricht als Lernen, das mit Praxis und echtem Leben zu tun hat. „Manchmal brauchen junge Menschen eben mehr als nur klassischen Unterricht“, sagt Oliver Zantow. Er arbeitet viel mit Jugendlichen, die Misserfolge und Schulabbrüche hinter sich haben. Einmal in der Woche trifft er sich mit ihnen im Café Kilimanjaro. Es befindet sich im Erdgeschoss des Altbaus, hier bietet seine Klasse in den Pausen selbst hergestellte Snacks und Getränke an, und man verkauft Fairtrade-Produkte.
Die Zuständigen planen die Mengen, rechnen Zutaten aus, kaufen ein, machen die Abrechnung. Das Praxisprojekt ist Teil des berufsvorbereitenden Jahres. Am Ende sollen die 15 Schüler den Hauptschulabschluss schaffen, der ihnen die Chance auf eine Lehrstelle oder Zugang zu einer weiterführenden Schule bietet. Doch dem verantwortlichen Lehrer geht es auch um die Sensibilisierung der Schülerschaft für Probleme der Dritten Welt. Mit Hilfe eines Partnerschaftsvereins betreibt das Café Kilimanjaro nachhaltige Bildungsarbeit in der Region, kooperiert mit Hochschulen und ermöglicht so u. a. für Lehramtsstudierende an der benachbarten Universität regelmäßige Schulpraktika an Partnerschulen in Tansania. Außerdem gibt es einen kontinuierlichen Schüler/-innen und Lehrer/-innenaustausch.
Nesar mag das Café, am liebsten bäckt er Waffeln. Vier Tage Unterricht, ein Tag Café Kilimanjaro. Für ihn ist die Arbeit im Café wichtig, denn er lernt hier ganz nebenbei Deutsch von seinen Mitschülern und von sonstigen Gästen. Der 18-Jährige stammt aus Pakistan. Er ist ehrgeizig, er fühlt sich ernstgenommen durch seinen Lehrer. Zantow ist sich sicher: „Irgendwann wird er studieren, denn er ist clever und fleißig, nur mit der Sprache hapert es noch.“ Nesar hat sich für die Berufsfachschule angemeldet. „In zwei Jahren will ich meinen Realschulabschluss machen“, sagt er.
„Ermöglichungskultur“, so nennen die Lehrer, worauf es ihnen ankommt. Sie wissen, es ist wichtig, die Schüler zu ermutigen und ihnen einen Vertrauensvorschuss zu geben. Dazu noch einmal Zantow: „Wir sagen: Bisher ist deine Schullaufbahn nicht so toll gelaufen, aber wir vertrauen dir, dass du dir ab jetzt Mühe gibst. Wir helfen dir, damit du es schaffst.“ So sei auch das Motto des RBZ gemeint: Transparenz, Offenheit und Vertrauen.
Offenbar trägt das Früchte: Vor ein paar Jahren kam ein polnisches Mädchen an die Schule. Sie wollte unbedingt Abitur machen, sprach aber kaum Deutsch. Da beschlossen die Lehrer, ihr Einzelunterricht zu geben. So schaffte sie ihr Abitur und konnte studieren. Sie entschied sich für das Lehramt. Heute arbeitet sie als Förderlehrerin am RBZ und gibt Schülern wie Nesar Unterricht. Damit auch sie es schaffen.