Porträt

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Kooperation auf allen Ebenen ist der Schlüssel zum Erfolg an der Integrierten Gesamtschule Franzsches Feld. Während in Niedersachsen im Schnitt jeder siebte Schüler die Schule abbricht, macht in dieser Schule jedes Kind einen Abschluss.

Jurina ist genervt. „Silja, du sollst nicht mehr so laut lachen!" nörgelt sie. „Und du brüllst mich immer an", blafft Silja zurück. Jetzt mischen sich auch noch Jonas und Marcel ein: „Die haut uns ohne Grund", beschweren sie sich. „Heut kommt’s aber geballt," wundert sich Sozialpädagoge Michael Mainka über seine elfjährigen Streithammel. Doch fünf Minuten später ist die Luft in Klasse sechs wieder rein. Jurina verspricht, nicht mehr zu brüllen und auch Silja lenkt ein. „Nächste Woche kann ich gar nicht mehr lachen, dann krieg ich eine Zahnspange, damit tut Lachen weh." Ruhe kehrt ein. Der Unterricht kann beginnen. Wenige Minuten später erntet Silja Applaus von ihrer Tischgruppe – als die Kinder gemeinsam einen Turm aus Stiften, Wäscheklammern, Schere, Luftpumpe und Kugeln bauen sollen. Ein schwieriges Geschicklichkeitsspiel, bei dem Silja ihrem Team zum klasseninternen Rekord verhilft.

„Wenn es Probleme gibt, muss man die erst beheben, das geht vor", sagt Sozialpädagoge Mainka. Kinder, die sich ärgern, könnten nicht richtig lernen. Auf solche scheinbaren Nebensächlichkeiten achtet man an der Integrierten Gesamtschule Franzsches Feld in Braunschweig. In sogenannten Tischgruppen von fünf bis sechs Schülern und im Klassenrat lernen die Kinder, über ihre Sorgen zu reden und wie man sie aus der Welt schafft. „Respekt, Zusammenhalt, Zuhören, Ordnung, Zusammenarbeit", steht auf einem Plakat in Klasse acht. Zusammenarbeit müsste eigentlich ganz oben stehen. Kooperation auf allen Ebenen ist der Schlüssel zum Erfolg an der Integrierten Gesamtschule Franzsches Feld. Während in Niedersachsen im Schnitt jeder siebte Schüler die Schule abbricht, macht in dieser Schule jedes Kind einen Abschluss. „Höchstens alle fünf Jahre haben wir einen, der es nicht schafft, das ist die absolute Ausnahme", sagt Schulleiter Andreas Meisner. Dabei besuchen auch behinderte Kinder seine Schule, die von der fünften Klasse bis zum Abitur führt. Kinder mit Hauptschulempfehlung sitzen neben Kindern mit Gymnasialempfehlung.

Jedes Jahr bewerben sich drei Mal so viele Schüler wie die Schule aufnehmen kann. „Einen Platz zu kriegen ist wie ein Sechser im Lotto", sagt Sibylle Gerloff, Elternvertreterin und Mutter von vier Kindern. Dabei sei es hier für Eltern anstrengender, weil man von ihnen mehr Mitdenken und Mitarbeiten verlange als anderswo. Sibylle Gerloff spricht aus Erfahrung, denn wegen Umzügen haben ihre Kinder bisher acht Schulen besucht. „Hier wird nicht das Normkind mit Normschule versorgt, sondern die Lehrer achten darauf, was jedes Einzelne braucht und sprechen es mit den Eltern ab."

Ein Beispiel ist ihre Tochter Rebekka. Die Dreizehnjährige ist überdurchschnittlich begabt, aber seit ihrer Geburt schwerhörig. „Sie braucht viel Lernfutter und zugleich Lernförderung", sagt ihre Mutter. An der Ganztagsschule bekomme sie beides. Ein Sonderpädagoge kümmert sich seit Klasse fünf um ihre Behinderung und übt mit Rebekka Lernstrategien, die Lehrer geben ihr immer wieder besonders schwierige Aufgaben. „Keiner betüddelt sie, sondern man spornt sie an, noch mehr aus sich heraus zuholen."

Das Ziel der Pädagogen in Braunschweig: Jedes Kind soll ein Gefühl für die eigenen Fähigkeiten entwickeln. Schon Fünftklässler lernen, sich selbst einzuschätzen. Das sei ganz schön schwierig, bekennt Luca aus der Sechsten. „Man ist meistens strenger mit sich selbst als die anderen." Statt Noten gibt es bis Klasse neun ausführliche Lernberichte der Lehrer, die die Schüler durch eigene Kommentare ergänzen. „Ich komme mit fast allen klar, auch den Lehrern", schreibt Katharina. „Aber in Mathe habe ich Schwierigkeiten, weil ich vieles nicht verstehe."
Ausreden wie „In Mathe bin ich eine Null", gibt es hier nicht. Denn die Lehrer lassen nicht locker, loben selbst kleine Fortschritte, halten aber auch mit Tadel nicht hinterm Berg. „Du lässt dich leicht ablenken und lenkst manchmal andere ab", schreiben sie Katharina ins Zeugnis. „Bitte bemühe dich, in Zukunft noch konzentrierter zu arbeiten und Tischgespräche zu vermeiden."

„Bei Kindern ist nichts zementiert", glaubt Englischlehrerin Walburga Temme. „Oft haben sie nur Angst vor einem Fach. Wenn sie aber in Ruhe arbeiten können, werden sie Schritt für Schritt besser und in höheren Klassen oft erstaunlich gut." Dabei hilft nicht nur der Lehrer, sondern auch der Nebensitzer. In Braunschweig wird Teamgeist nicht einfach erwartet, sondern Tag für Tag trainiert. Zum Beispiel beim gemeinsamen Turmbau in Klasse sechs. „Pack jetzt den Stift in den Locher rein", feuern Jonas und Jurina ihre Mitschülerin Silja an. „Das rutscht!" – „Nein, das rutscht nicht!" Silja findet das „Gequatsche" der anderen zwar anstrengend, aber auch ganz nützlich. „Hättest Du das allein auch hingekriegt?" fragt Sozialarbeiter Michael Mainka. „Nein, nicht so," bekennt  Silja. „Wenn man was nicht versteht, raten uns die Lehrer, fragt zuerst die anderen in der Tischgruppe," berichtet Rebekka, 13. „Das geht außerdem schneller." Also hilft Mareike ihrer Freundin Rebekka, wenn sie ein Problem mit der Rechtschreibung hat, Rebekka wiederum erklärt Jonas, wie er die knifflige Matheaufgabe lösen kann. „Jeder Schüler merkt, dass er was kann", sagt Benjamin, 15. Eine ausgesprochene „Lernstimmung", beobachtet Abiturientin Katharina an ihrer Schule. Und von der profitierten alle. „Wir haben manchmal den Eindruck", so die 15-jährige Leonie, „dass sogar die Lehrer was lernen."

Ingrid Eißele

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Tiffany, 10, heftet ein selbst gemaltes Plakat mit Vogelbildern an die Wand vor ihrem Klassenzimmer. „Die Blaumeise sieht aus, als hätte sie eine blaue Kappe auf", erklärt sie. Damit kriegt sie ihr Publikum: Cindy, 11, Chantal, 6, und Luca-Marie, 7, sitzen ihr gegenüber auf Stühlen und lachen über das Beispiel. Als Tiffanys Vortrag beendet ist, applaudieren sie. Die Mädchen üben ihre Referate, die sie in wenigen Tagen vor der Klasse halten wollen.

In einer anderen Schule wäre Cindy in der vierten, Chantal und Luca-Marie in der ersten Klasse. In der Marktschule gibt es diese Einteilung nicht. Kinder aller Altersstufen lernen gemeinsam in „Klassenfamilien". Das Konzept geht auf: Die Älteren lernen nicht nur Sozialkompetenz, das Erlernte verfestigt sich zugleich besser im Gedächtnis, wenn sie es den Jüngeren erklären. Die Kleinen werden von den Großen motiviert, sie genießen die Aufmerksamkeit der Großen. Das System ist flexibler als eine starre Alterseinteilung und erlaubt, auf den Lernstand jedes Kindes einzugehen.

Als einige deutsche Grundschulen vor zehn Jahren die ersten beiden Klassen zusammenlegten, ging man an der Marktschule noch einen Schritt weiter und vereinte alle vier Stufen – aus der Not heraus, wie Schulleiterin Ute Mittrowann einräumt: „Die Welt um uns herum veränderte sich, da konnten wir nicht einfach so weitermachen wie bisher." Aus dem ehemals bürgerlichen Viertel Bremerhaven-Lehe wurde in den Neunziger Jahren ein Brennpunkt mit einem hohen Ausländeranteil, zerrütteten Familien und großer Armut. Jedes dritte Kind lebt dort heute von Sozialhilfe, viele Kinder haben Lernbehinderungen. Diesem „Lernen in Heterogenität" wollten Mittrowann und ihre Kolleginnen gerecht werden. Das Kollegium entwickelte ein Schulprogramm, dessen Herzstück das jahrgangsübergreifende Lernen ohne Noten ist.

Bis heute nimmt die Schule damit eine Pionierrolle ein. Andere Schulen zögern, ein solches Modell einzuführen. Sie fürchten, damit vor allem den größeren Schülern nicht gerecht werden zu können. Dabei liegen die Vorteile auf der Hand, findet Konrektorin Silke Brandt: „Kinder eines Jahrgangs sind doch auch keine homogene Gruppe." Entwicklungsunterschiede von bis zu drei Jahren sind unter Gleichaltrigen in der Grundschule üblich. Die Marktschule will diesen natürlichen Unterschieden gerecht werden, indem sie sich am Einzelnen orientiert. Dass die Älteren aber nicht zu kurz kommen, zeigen auch die Zahlen: Die Übergangsquote aufs Gymnasium hat sich in den vergangenen Jahren von 13,5 Prozent (2005/06) auf 27 Prozent (2009/10) erhöht.

Nach einer halben Stunde Freiarbeit auf dem Flur ruft Lehrerin Vanessa Tons ihre Schüler ins Klassenzimmer. Luca-Marie, Chantal, Cindy und Tiffany hüpfen kichernd herein und setzen sich in den Stuhlkreis. „Wer leitet heute den Morgenkreis?" fragt Tons. Bilana, 9, meldet sich. „Welcher Tag ist heute?", fragt sie. Der Morgenkreis ist ein tägliches Ritual, das den Kindern Orientierung bietet. Wie viel Uhr ist es? Wie ist das Wetter? Bilana wartet stets, bis sich auch die Kleinen melden und lobt diese für richtige Antworten. Dann stellt sie den Tagesplan vor, der ausgedruckt an der Wand hängt: Wochenplanarbeit, Frühstückausgabe, Kunst. „Wer hat heute Förderunterricht?", fragt sie zum Schluss. „Leon, Henrik und Kevin" liest ein Mädchen vor.

Nicht nur die Altersunterschiede spielen hier keine Rolle, auch Förderunterricht oder psychologische Betreuung einzelner Schüler gehören zum Alltag und sind für die Kinder normal. Niemand wird deswegen gehänselt oder schief angeschaut. Unterschiede werden an der Marktschule als Vielfalt wahrgenommen, von denen man lernen kann. Auch beim Lernen. In jedem Schulfach gibt es Aufgaben in vier verschiedenen Schwierigkeitsstufen. Die Schüler wählen in Absprache mit der Lehrerin ihre Aufgaben, sie erkennen die Schwierigkeit an den Symbolen auf Mappen und Arbeitsblättern: eine Sonne für ganz leichte Aufgaben, ein Mond für etwas schwerere, dann folgen Stern und Regenbogen. So kann ein Kind beispielsweise in Mathe die Stern-Aufgaben bearbeiten, in Deutsch hingegen die leichteren Mond-Aufgaben.

Nach der Frühstückspause kehrt Ruhe ein. Wochenplanarbeit. Jedes Kind holt sich seine Mappe mit seinen individuellen Aufgaben, die die Lehrerin vorbereitet hat. Julian, 7, entscheidet sich für Mathe: Konzentriert legt er geometrische Formen aus Dreiecken. Wenn er nicht weiterkommt, fragt er seinen Nebensitzer, den ein Jahr älteren Pascal. Sobald ein Kind eine Aufgabe gelöst hat, bespricht es sich mit der Lehrerin, die sie überprüft und im Wochenplan abhakt. Damit ist sichergestellt, dass am Ende der Woche alles bearbeitet ist. Luca-Marie hat sich eine Deutsch-Aufgabe ausgesucht. „Wooomiiit kaaaann maaan schneideeen?" liest die Siebenjährige langsam vor. Sie sucht das Bild einer Schere und schreibt die Nummer des Bildes hinter den Satz. Dann radiert sie die Zahl wieder aus. Ihre große Freundin Bilana schaut ihr über die Schulter. „He, das war doch gut, was du da geschrieben hast", sagt sie.

Nach der Wochenplanarbeit steht Fachunterricht auf dem Stundenplan. Die Klasse von Lehrerin Jana Becker durfte sich das Thema – Ägypten – selbst aussuchen. In jeder Ecke des Klassenzimmers wird gebastelt und diskutiert. Der siebenjährige Manuel und die zehnjährige Kysha schneiden ägyptische Figuren aus. „Puh, ist das schwer", sagt Manuel, ein schmaler Junge mit Harry-Potter-Brille. „Soll ich dir mal was sagen", entgegnet Kysha lachend, „ich wäre damit in fünf Minuten fertig. Und jetzt hampel mal nicht so rum." Ihr Umgang wirkt vertraut wie der einer großen Schwester mit ihrem kleinen Bruder.

Im Fachunterricht bearbeiten die Kinder altersübergreifend ein Thema gemeinsam, jedes auf seinem Niveau. Eine komplexe Aufgabe für die Lehrerinnen, schließlich soll nach vier Jahren jedes Kind die Inhalte des Lehrplans durchgearbeitet haben, ohne dass sich etwas wiederholt. Weil das viel Vorbereitung bedeutet, haben sich die Lehrerinnen zu Teams zusammengetan, die Themen gemeinsam vorbereiten und parallel in ihren Klassen bearbeiten.

Das Gemeinschaftsgefühl an der Marktschule wird in solchen Situationen deutlich. Durch das altersübergreifende Lernen gibt es keine Wiederholer, niemand fällt durch und ist deshalb Außenseiter. Wer langsamer lernt, macht einfach die leichteren Aufgaben. Manche Kinder holen das binnen vier Jahren wieder auf, andere bleiben ein Jahr länger, manche schaffen die Grundschule schon in drei Jahren. Die ganze Zeit bleiben sie in ihrer Klassenfamilie bei „ihrer" Lehrerin. Das verbindet.

Freitagmittags dürfen Luca, Tiffany und Bilana puzzeln. Für die letzte Stunde haben sie sich das große Winterpuzzle vorgenommen. Während sie Pudelmützen und Schlitten zusammensetzen, planen sie das Wochenende. „Ich geh vielleicht schwimmen", sagt Luca-Marie. Bilana will Rollschuhlaufen. Es klingelt, die anderen springen auf. Aber die Mädchen wollen fertig puzzeln. Sie haben es nicht eilig, nach Hause zu kommen. „Seit du bei deinen Pflegeeltern wohnst, sehen wir uns kaum noch am Wochenende", sagt Tiffany traurig zu Bilana. Die neue Familie wohnt zu weit weg, vorher waren sie Nachbarinnen. Manchmal ist die Klassenfamilie verbindlicher als die Familie zuhause.

Eva Wolfangel

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Buntstifte kratzen über Papier. Sonst ist es still im Klassenzimmer der 5b. „Wir malen Szenen aus der Josefsgeschichte", erklärt Franziska, 11. Religionslehrerin Claudia Patzer wurde für einen Moment ins Lehrerzimmer gerufen – die mündlichen Abiturprüfungen stehen an. Eine fünfte Klasse, ganz ohne Aufsicht, geht das? Es geht.

Zumindest am Johann-Schöner-Gymnasium in Karlstadt am Main. Selbstständiges Arbeiten wird von der Eingangsklasse angeübt. Besichtigen lässt sich das auch im  „Lernatelier". Der Raum, eine Mischung aus Bibliothek, Computerraum und Leseecke, ist wie geschaffen für moderne Lernformen – fürs Arbeiten allein oder in der Gruppe. An diesem Vormittag recherchieren Siebtklässler zum Thema „Datenschutz im Internet". Einige blättern in Lexika, andere klicken sich durch Websites. „Man sollte im Internet nichts Privates über sich verraten", weiß Julia Gehrig. Die Zwölfjährige hat, wie die meisten in der Klasse, schon ein Profil beim Online-Netzwerk Schüler-VZ. „Ich will mit meinen Freundinnen chatten", sagt sie. Anders ihre Mitschülerin Kristin Opp: „Ich treffe meine Freundinnen lieber persönlich." Sie bekennt selbstbewusst: „Ich brauche kein Schüler-VZ." Mittlerweile hat sich eine kleine Traube um die beiden gebildet, jeder hat zu dieser Diskussion etwas beizutragen. Die Unterhaltung beenden? Dafür sieht Kurslehrer Jochen Diehl keinen Grund. „Das Lernatelier ist ein Ort der Kommunikation", sagt er. „Das Gespräch gehört ebenso zum Unterricht wie die Faktenrecherche."

Seit mehr als zehn Jahren entwickelt das Johann-Schöner-Gymnasium neue Konzepte für den Unterricht. Den Anfang machte eine kleine Gruppe Lehrer, die sich – als Reaktion auf das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der PISA-Studie – für mehr interne Evaluationen eingesetzt hatte. Die Ergebnisse waren eindeutig: Die Schule stand gut da, Verbesserungsmöglichkeiten gab es dennoch. Mehr Methodenvielfalt statt Frontalunterricht, die Förderung praktischer Kompetenzen, und eine differenzierte Unterrichtsgestaltung wurden als Ziele formuliert. Zudem wurde eine Öffnung der Schule für externe Projekte und Wettbewerbe, sowie mehr Mitbestimmung durch Lehrer, Eltern und Schüler gefordert. Häuslers Vorgänger Rolf Kellermann hatte, was den letzten Punkt angeht, zunächst Bedenken. Sollte er zusehen, wie seine Position geschwächt wird? Er ließ sich auf das Wagnis ein. „Eine Schule muss sich entwickeln, wenn sie auch in Zukunft stark sein will", sagt Albert Häusler. „Dieser Idee sind wir bis heute verpflichtet." Ziel des Veränderungswillens: Talente gezielt zu fördern, Schwächen konsequent auszugleichen. Fach- und Methodenunterricht wechseln einander ab.

Dazu, so Häusler, braucht es eine Kombination aus klassischer Wissensvermittlung und modernem Methodentraining. Im Übungskurs von Chemielehrerin Sylvia Türk-Rupp prüfen rund 12 Schülerinnen und Schüler die Löslichkeit verschiedener Salze. „Wir haben auch schon einen Feuerlöscher mit Spülmittel gebaut", erzählt Anneke Rieß begeistert. Die 13-Jährige mag eigentlich den Kunstunterricht mehr. Aber seit die Klasse in Chemie alle 14 Tage die Bücher gegen Reagenzgläser tauscht, kann auch sie sich für das Fach erwärmen. Ihr Mitschüler Emanuel Schirm, 14, hat das erste Experiment abgeschlossen und wendet sich dem nächsten zu. Chemie sei sein „Lieblingsfach", sagt Emanuel. „Egal, ob sie ein gutes Verständnis für Naturwissenschaften haben oder nicht: Die Schüler brauchen eine praktische Vorstellung von den abstrakten Begriffen", sagt Sylvia Türk-Rupp.

„Unterricht sollte sich an Schüler anpassen, nicht umgekehrt", findet Albert Häusler – unter seiner Leitung hat das JSG ein Förderkonzept für die Mittelstufe entwickelt, von dem starke wie schwache Schüler gleichermaßen profitieren: Mit der Einführung von G8 waren den bayerischen Gymnasien zusätzliche Schulstunden für die Stufen 7 bis 10 gewährt worden. Während die meisten Schulen diese in Form von Nachhilfe umsetzten, können die Schüler am Johann-Schöner-Gymnasium wählen: Wer in einem Fach Lücken hat, kann diese in „Intensivierungsstunden" schließen. Starke Schüler können ihre Kenntnisse in fach- und teilweise sogar stufenübergreifenden „Plus-Kursen" vertiefen: Mathe-Asse grübeln im Kopfrechenkurs, Naturfreunde pflegen den Apothekergarten auf dem Schulgelände, Technik-Freaks bauen einen Roboter. Wer sich für soziale Berufe interessiert, kann im Projekt „Seitenwechsel" gemeinsam mit lernbehinderten Jungen und Mädchen am Leo-Weismantel-Förderzentrum kochen, Musik machen oder Theaterstücke erarbeiten. Für jede Aktivität erhalten die Schüler Zertifikate, die sie in ihrem „Schöner-Ordner" abheften. „Die Nachweise haben schon vielen bei Bewerbungen geholfen", weiß Schulleiter Häusler.

Als er 2005 das Angebot bekam, von Würzburg nach Karlstadt zu wechseln, zögerte er nicht. Schließlich war das Johann-Schöner-Gymnasium schon damals bis weit über das Maintal hinaus bekannt für herausragende Ergebnisse bei Schulvergleichstest, vor allem aber für das Engagement von Lehrern, Eltern und Schülern. Immer wieder kommen die Impulse für Veränderungen aus den Gremien, in denen auch Eltern und Schüler sitzen. „Unsere Schüler merken, dass wir sie ernst nehmen", sagt Albert Häusler.

Einander mit Respekt begegnen – das ist Prinzip am Johann-Schöner-Gymnasium. Alle drei Wochen, beispielsweise, setzen sich Mädchen und Jungen in der Gruppe zusammen, um etwaige Probleme zu besprechen – Hausaufgabenstress, Hänseleien, aber auch die nächste Exkursion, all diese Themen können in der „Zfu-Stunde" – die Abkürzung für „Zeit für uns" – besprochen werden. Wenn es die Klasse wünscht, muss der Lehrer auch mal den Raum verlassen. Der Schul-Sanitätsdienst oder das „Schöner Café", die von Schülern betrieben werden, zeigen ebenfalls: An dieser Schule geht es um Selbstständigkeit. Als einzige Schule im Landkreis hat das Johann-Schöner-Gymnasium Zuwächse bei den Aufnahmen, in den Jahrgangsstufentests belegt es regelmäßig Spitzenplätze.

Mit dem Etikett „Eliteschule" kann Albert Häusler dennoch nichts anfangen. Die Elternschaft bestehe bei weitem nicht nur aus Akademikern, betont der Schulleiter. „Unsere Schüler kommen aus allen Schichten". Zudem: Schüler, die nur das eigene Vorwärtskommen interessiert, entsprechen nicht dem pädagogischen Leitbild der Schule. Gern gesehen ist, wenn sich die Schüler auch sozial engagieren, beispielsweise für eine Partnerschule in Äthiopien. Ein Schüleraustausch mit einer indischen Schule und Projekte wie „Learning through the Arts", bei dem Künstler mit Kindern Unterrichtsstoffe spielerisch erarbeiten, verkörpern einen Bildungsansatz, der über Büffeln hinausgeht. Derzeit lassen sich zwölf Lehrer zu Mentoren ausbilden, um Schülern zu helfen, wenn sie unter Mobbing leiden oder ihnen schlicht die Lust am Lernen fehlt. „Natürlich wollen wir gute Ergebnisse", sagt Albert Häusler. Mindestens genauso wichtig ist ihm aber: „Wir lassen niemanden hängen."

Mathias Becker

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Gemeinsam lernt es sich besser: In der integrierten Sekundarschule kommen Haupt-, Real- und Gesamtschüler zusammen – und behaupten sich in einem sozial schwierigen Umfeld.

Wie schnell er wächst. Wie er in die Höhe schießt, einzig den Kopf senkt zum Heft vor sich. Ingo* ist binnen eines Handschlags einen halben Meter gewachsen. Gerade ruhte seine Nase noch nahezu auf dem hölzernen Schreibtisch, den Rücken lustlos gekrümmt, als wollte er das Papier mit den Aufgaben verbergen. Da kam Mitschüler Norman vorbeigeschlendert, begrüßte ihn mit Handschlag und beugte sich übers Blatt. „Mann, Kumpel", murmelt er aufmunternd, „die Anfangsbuchstaben schreib mal etwas größer. Das liest sich dann besser". Und Ingo schreibt nun plötzlich, er schwingt den Kugelschreiber überm Papier – als hätte Normans Handschlag ihn unter Strom gesetzt; sitzt er doch nun aufrecht, hier im ersten Stock der Heinz-Brandt-Schule in Berlin-Weißensee.

In dieser Schule hilft man sich. Lehrerin Sabine Wanke geht von Tisch zu Tisch, wendet sich ihren Schülern zu. Und auch die Schüler schauen sich gegenseitig ins Heft, diskutieren mit gedämpften Stimmen die Resultate. Willkommen im Lernbüro: Jede dritte und vierte Stunde ist allen Schülern aus den siebten Klassen gewidmet. Mit Hilfe seines persönlichen Logbuchs plant jeder Schüler selbst, ob er während der Lernbürozeit Deutsch, Mathematik oder Englisch lernt – und was. Im Raum nebenan dreht sich alles um Mathe, und am Ende des Flurs gibt es Englisch; die Schüler setzen sich in die jeweiligen Fachräume. „Wir setzen auf Binnendifferenzierung", sagt Sabine Wanke. Hier lernen Schüler zusammen, die auf einen Hauptschul-, Realschul- oder Abiturabschluss hinsteuern. Das ist neu: Erst seit einem Jahr organisiert sich die Heinz-Brandt-Schule als integrierte Sekundarschule – vorher war sie eine Hauptschule. Nun ist sie Haupt-, aber auch Real- und Gesamtschule, außerdem bereitet sie Schüler auf den Wechsel zum Gymnasium vor. „Wir muten den Schülern seit der Reform mehr zu", sagt Rektorin Miriam Pech. „Sie nehmen ihr Lernen mehr in die eigene Hand. Sie wissen selbst ganz gut, wie weit sie sind." Das Vertrauen zahle sich aus. In einem schwarzen Ordner im Klassenraum stehen die Lösungen aller Aufgaben dieser Deutschstunde. Zwei Schülerinnen überprüfen danach ihre Grammatikleistungen. „Es ist noch nie passiert, dass sich jemand die Lösungen vor der Arbeit angeschaut hat", sagt Sabine Wanke. Wanke und ihre Kollegen bewegen sich als Moderatoren zwischen den Tischen, immer zu zweit in einer Klasse mit maximal 16 Schülern.

67 Prozent ihrer Schüler entlässt die Lehrstätte in Weißensee ins Duale System, das heißt, sie besuchen eine Berufsschule und machen parallel eine Lehre. Nur fünf Prozent wechseln ins Übergangssystem, die so genannte Warteschleife; der Rest geht auf weiterführende Schulen. Eigentlich keine sensationellen Zahlen – wäre das Umfeld nicht strukturschwach. „Viele Schüler kommen aus schwierigen Verhältnissen und wohnen in betreuten Wohngemeinschaften", sagt Miriam Pech, als sie über die Steinfliesen des über 100 Jahre alten Gebäudes geht. In Weißensee, neben den bürgerlichen Stadtteilen Pankow und Prenzlauer Berg gelegen, herrscht mehr Armut. Über 40 Prozent der Schüler sind aus sozialen Gründen lernmittelbefreit. Gleich an der Südseite zur Schule schließt sich eine ehemalige Arbeitersiedlung an. Aus so manchem Fenster hat schon lange niemand mehr geblickt.

In der Heinz-Brandt-Schule machen sich die Kids fit fürs Berufsleben, durch selbstständiges Lernen, viele Praktika – und durch „Service Learning".

In der Klasse 7.1. erzählt Patrick von seinem letzten Arbeitstag im Altenheim. „Ich machte eigentlich alles, vor allem Füttern", sagt er und lehnt sich in seiner dunkelblauen „Picaldi"-Sportjacke zurück. „Zurzeit sind viele Altenpflegerinnen krank." Einen Tag pro Woche verbringen die Siebtklässler im „Service Learning". In Unternehmen und sozialen Einrichtungen sammeln sie Berufserfahrungen. „Die Leute im Heim sind nicht so alt, die haben eher Alkoholprobleme", sagt Patrick. „Oh Mann, so enden will ich nicht." In der Klasse berichten die Schüler von ihren Einsätzen. Mirko etwa teilt bei der „Berliner Tafel" Essen an Obdachlose aus. „Ich bin jetzt auch in der Planung", sagt er, „ich checke die gespendeten Lebensmittel, ob sie noch gut sind". Seitdem falle es ihm schwer, sagt er, seinen eigenen Teller nicht leer zu essen. Durch die Praktika bilden sich die Schüler nicht nur beruflich fort. Sie übernehmen soziale Verantwortung, reifen in ihrer Persönlichkeit. „Wir vernetzen die Schule so stark wie es geht mit der Wirtschaft", sagt Miriam Pech. Sie eilt zu einer Sitzung des Pankower Wirtschaftsrats, in dem sie Mitglied ist.

In ihrem Büro telefoniert Gabriele Herbst mit der nächsten Kaserne. „Nö, die politische Lage können Sie weglassen", sagt die Lehrerin einem Unteroffizier, „die Schüler wollen vor allem die Ausbildungsmöglichkeiten bei der Bundeswehr kennenlernen". Gabriele Herbst organisiert die Praktika für ihre Brandtianer, jeden Januar gibt es eine Praktikumsbörse. „Die Schüler sollen gar nicht anders können als in einen Beruf zu gehen", schmunzelt sie. Jahrelanges Netzwerken zahlt sich nun aus. Die Schüler können aus einer Vielzahl an Berufen wählen.

Sie sollen sich dabei in guter Begleitung ihrer Lehrer wissen. Nicht wenige sind zuvor an der Realschule oder am Gymnasium gescheitert. Sie müssen zum Lernen erstmal wieder motiviert werden. Besonders wichtig dabei sind die 14-tägigen „Planungsgespräche". Dabei legen Schüler und Klassenlehrer unter vier Augen die nächsten Bildungsschritte fest. „Mit den Englisch-Vokabeln komme ich nicht voran", seufzt Nancy, 13, und legt ihr Logbuch auf den Tisch. Es enthält das persönliche Förderkonzept für Nancy. „Du musst Dir Zeit freischaufeln", sagt Bärbel Moritz, 51. „Dein Schulweg mit dem Bus dauert doch eine Stunde, oder? Du kannst auch im Bus lernen, arbeite unterwegs mit Karteikarten, dann wird das schon." Die beiden vereinbaren, dass Nancy ihre Klassenfreundin Renate fragt, ob sie als Lernpatin Nancy beim Englisch büffeln unterstützt.

Das nächste Planungsgespräch von Klassenlehrerin Moritz: Annie, 13, kam erst vor einem Vierteljahr in die Klasse. Jetzt zieht sie Bilanz. „Ich bin akzeptiert, in der Klasse fühle ich mich richtig wohl", sagt sie, knetet dabei ihre Hände. „Probleme können wir untereinander klären." An ihrer früheren Schule sei das nicht mehr möglich gewesen. „Da war ich das Opfer". Sie sei gemobbt, geschlagen und getreten worden, habe sogar Todesdrohungen bekommen.

Es ist Mittag. Draußen blüht eine Linde in hellem Weiß. Vom Flur her dringt Lärm von zum Essen ziehender Schüler, Annie lächelt.„ Und das Lernen ist hier ganz anders. Die Schulstunden vergehen wie im Flug."

* Name geändert

Jan Rübel