Porträt

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Wenn Noris vorlesen soll, wird seine Stimme immer ganz leise. Schüchtern schiebt er vorweg: „Aber mein Text ist nur ganz kurz.“ Der dunkelhäutige Junge mit den breiten Schultern wirkt eigentlich nicht wie einer, der sich klein machen muss. Aber das Vorlesen fällt dem Zwölfjährigen sichtlich schwer, seine Mitschüler lauschen geduldig, wie er ein Wort nach dem anderen zögerlich über die Lippen schiebt. „Das war doch gut“, sagt sein Nebensitzer Pablo hinterher aufmunternd.

Deutsch in der 6a in der Integrierten Gesamtschule Bonn-Beuel. Auf den ersten Blick eine klassische Stunde. In Kleingruppen besprechen die Schüler ihre Hausaufgaben. Erst auf den zweiten Blick fallen die Besonderheiten von Bonns größter Schule auf. An einem Tisch sitzt ein Kind im Rollstuhl, ein Mädchen am Nebentisch wirkt viel jünger als ihre Mitschüler. Sie ist erst neun und hat einige Klassen übersprungen, dafür Schwierigkeiten, sich sozial zu integrieren. Einer ihrer Klassenkameraden ist fünf Jahre älter, er musste Schuljahre wiederholen. Zwei andere Kinder der Klasse gelten als lernbehindert. Der gemeinsame Unterricht mit ihren Klassenkameraden ohne Behinderung bietet diesen Kindern viele Möglichkeiten jenseits der klassischen Förderschulen. Das erlebt gerade auch Noris, dem eine Sprachbehinderung attestiert wurde. Noris’ Freunde halten sich mit solchen Definitionen nicht auf. „Lies doch einfach ein bisschen lauter“, sagt Pablo, „du denkst immer, das ist peinlich, wenn du liest, aber das ist es gar nicht.“

Noris und Pablo sind zwei von knapp 1400 Schülern, die an der IGS Bonn-Beuel unter dem Motto „Eine Schule für alle Kinder“ gemeinsam lernen. Ein zentrales Standbein dabei ist der gemeinsame Unterricht von Förderschülern und solchen, die keine sonderpädagogische Förderung benötigen. Von sechs Parallelklassen sind je zwei gemischt. Jeder Schüler wird gemäß seiner Bedürfnisse individuell gefördert, dafür sorgen die Lehrer mit sonderpädagogischer Ausbildung, die die Fachlehrer begleiten. Aber vom Leitsatz „Jedes Kind ist einzigartig“ soll die ganze Schule profitieren, denn: Heterogenität fördert und fordert alle. Das hat die Wissenschaft der Schule schon vor 24 Jahren bestätigt, als die IGS gemeinsamen Unterricht auch gegen anfängliche Widerstände durchsetzte. Inzwischen hat es sich herumgesprochen; die Nachfrage nach Schulplätzen ist am 30. Geburtstag der Schule größer als das Angebot.

Das war nicht immer so. Noch vor zwölf Jahren litt die IGS unter einem für Gesamtschulen nicht seltenen Problem: Angesichts der Konkurrenz dreier privater Gymnasien in direkter Nachbarschaft war die Gymnasialspitze fast weggebrochen. Gesamtschulen hatten den Ruf, nur die Schwachen zu fördern. „Man muss natürlich dafür werben, dass Heterogenität eine große Chance ist“, sagt Jürgen Nimptsch heute. Das tut der Schulleiter seit seinem Amtsantritt.

1996 richtete sich die Schule neu aus, die individuelle Förderung wurde zentraler Teil des Profils. Innerhalb weniger Jahre verdoppelte Nimptsch die Zahl der Schüler mit Förderbedarf, zudem wurde die Förderung Hochbegabter ins Programm aufgenommen. „Durch die Integration wird Sozialkompetenz wie von selbst erworben“, sagt Nimptsch.

Sozialkompetenz klingt reichlich abstrakt für das, was die Schüler an der IGS täglich erleben. „Man lernt halt, anderen zu helfen“, sagt die zehnjährige Carolin. Und wieso auch nicht: „Die sind ja genauso nett wie die anderen Kinder.“ Zuvor hat sie ihrer geistig behinderten Freundin Annika beim Experiment „Hast du Töne?“ eine Stimmgabel angeschlagen, ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen und die Stimmgabel an die Wange gehalten. „Was fühlst du?“ Annika hat die Nase gekräuselt und gegrinst. „Es kribbelt.“ Gemeinsam haben die Schülerinnen die Beobachtung in Annikas Heft geschrieben. „Stationenlernen“ heißt die Methode, mit der die Schüler der 5a an diesem Morgen im Fach Naturwissenschaften das Wesen der Töne und Schwingungen erforschen. Es ist das erste Mal, dass die Jüngsten der Schule eine Lernmethode ausprobieren, die sie durch alle Klassen begleiten wird: In Kleingruppen machen sie verschiedene Experimente. Förderlehrerin Gerlinde Klein hat ein besonderes Auge auf Annika sowie auf ein gehbehindertes Mädchen, einen Jungen im Rollstuhl und einen autistischen Jungen. „Wir thematisieren natürlich, dass sie anders sind“, sagt sie. Aber es wird wie selbstverständlich damit umgegangen.

Aber es gab auch andere Zeiten. Zeiten der Unsicherheit. Jonas brachte Gerlinde Klein an ihre Grenzen. Vor sechs Jahren war er ihr erster autistischer Schüler. „Jonas hat in der fünften Klasse die Hälfte der Zeit unter dem Tisch verbracht und geweint“, erinnert sie sich. Mit solchen Situationen umgehen, das lernt man in keinem Studium. Gerlinde Klein hat sich Schritt für Schritt herangetastet, viel gelesen und mit Therapeuten gesprochen. Sie wurde in dieser Zeit zu Jonas´ Ansprechpartnerin. In kleinen Schritten lernte sie, wie sie den Schüler erreichen konnte, was ihm half. „Für Autisten gibt es keine andere Schule“, sagt sie. Weder Einrichtungen für geistig Behinderte noch Schulen für Erziehungsschwierige werden ihnen gerecht. Die Jahre haben die Lehrer zu Experten werden lassen. Vieles hängt von ihrem Engagement ab. Jede Integrationsklasse wird von einem Fachlehrer und einem Integrationslehrer mit sonderpädagogischer Ausbildung betreut. „Nach etwa fünf Jahren im Schnitt haben beide Kompetenzen in beiden Bereichen“, sagt Schulleiter Nimptsch. Eine Ausbildung zum Lehrer für Integrationsklassen gibt es nicht. Nur die Praxis zählt. Für die Lehrer bedeutet das oft mehr Arbeit, doch der Erfolg motiviert. Nimptsch hat keine Probleme, geeignetes Personal zu finden, viele wollen an der Schule unterrichten, die mit einem einst umstrittenen Konzept beste Ergebnisse erzielt: Bei Lernstandserhebungen erhält die Schule seit 2005 durchgängig in allen Fächern die Auszeichnung „exzellente Ergebnisse“, die Schüler liegen mit ihren Abschlüssen über dem Durchschnitt, in 30 Jahren verließen nur zwölf ohne Abschluss die Schule. Die Kinder mit Förderbedarf erreichen im gemeinsamen Unterricht ungleich bessere Abschlüsse als Gleichaltrige auf reinen Förderschulen.

Auch Jonas muss sich heute nicht mehr unter dem Tisch verstecken. Er ist in der 11. Klasse und wird in zwei Jahren Abitur machen. Dass er es so weit geschafft hat, ist nicht selbstverständlich, findet er: „Es ist ein großes Glück, dass ich auf dieser Schule gelandet bin.“ Er hat den Raum bekommen, den er brauchte. Wenn ihm mal wieder alles zu viel wurde, durfte er allein in der Bibliothek sein. Die Lehrer übten soziale Verhaltensweisen mit ihm ein und warben bei den Mitschülern um Verständnis. Heute merkt man ihm den Autismus kaum noch an. Dank der IGS, sagt er: Die Möglichkeiten des gemeinsamen Unterrichts und die Offenheit der Lehrer und Mitschüler hätten ihn aus einem Loch geholt. „Ich will mir gar nicht vorstellen, was ohne Frau Klein aus mir geworden wäre“, sagt er leise. Nach dem Abitur wird er Geologie studieren.

Eva Wolfangel

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„Die Schule arbeitet ganzheitlich und projektorientiert. Anderen Schulen ist sie in ihrer Entwicklung zehn Jahre voraus.“ (Die Jury)

Wer es mal zu etwas bringen soll, der ging in Hildesheim früher auf ein klassisches Gymnasium. Zum Beispiel auf das Josephinum, eine katholische Schule, gleich neben dem tausend Jahre alten Marien-Dom erbaut und fast so alt. Wer heute in Hildesheim etwas werden will, der geht auf die Robert-Bosch-Gesamtschule (RBG). Die liegt hinterm Bahnhof im Norden der Stadt neben dem Zentralfriedhof.

Die Schule im nüchternen Betonbau aus den 70er Jahren kann sich vor Anmeldungen kaum retten, im Sommer musste Schulleiter Wilfried Kretschmer von 380 Bewerbern über die Hälfte ablehnen. Noch vor 15 Jahren kämpfte die Schule um jeden neuen Schüler. Anfang der 90er Jahre war sie ganz unten. Damals hatte die Gesamtschule einen miesen Ruf und galt als Schule für Schwache. Jetzt bekommt sie den Deutschen Schulpreis.

Die Schule wurde nach folgenden Kriterien beurteilt: Leistung, Umgang mit Vielfalt, Unterrichtsqualität, Verantwortung, Schulleben und Schulentwicklung. Bei allen sechs hat die Schule die Jury der Robert Bosch Stiftung überzeugt. Der Sprecher der elf Experten, Peter Fauser, Professor an der Universität Jena, hat die Schule im Sommer zwei Tage inspiziert. Bei seinem Urteil über die Hildesheimer Gesamtschule gerät der Erziehungswissenschaftler regelrecht ins Schwärmen: „So guten Unterricht habe ich selten gesehen“, sagt er. „Die Schule arbeitet ganzheitlich und projektorientiert. Anderen Schulen ist sie in ihrer Entwicklung zehn Jahre voraus. Sie wird hochprofessionell gemanagt.“ Sein Kollege aus der Jury, der niederländische Schulinspektor Johan van Bruggen, hat schon viele gute Schulen gesehen. Er sagt über die Robert Bosch Gesamtschule: „Gute Schulen haben den Willen zu lernen. Die Lehrer in Hildesheim sind nie zufrieden, sie suchen immer nach Möglichkeiten, noch besser zu werden.“

Für Nicolas ist das abstrakte Theorie. Für den Elfjährigen zählt etwas anderes: „Hier kümmert sich einer um den anderen“, sagt er. Nico geht erst seit ein paar Wochen in die sechste Klasse der Robert-Bosch-Gesamtschule und gehört bereits dazu. An seiner alten Schule hatte er Probleme, Freunde zu finden.

Zusammen mit vier Mädchen sitzt er um einen Tisch. Sie sind allein in dem großen Klassenraum. Die fünf Sechstklässler bekleben Holzrahmen mit buntem Papier. „Wir basteln für den Weihnachtsbasar“, erklärt Nico, während er vorsichtig dünnes Seidenpapier mit Klebstoff bestreicht. Lynn bestreut ihren Rahmen derweil mit Glitzer. Die Mutter einer Schülerin leitet diese so genannte „Gruppenstunde“. So wie 149 andere ehrenamtliche Eltern, in den fünften und sechsten Klassen. „Mir macht das Spaß“, sagt Claudia Skibbe, die Mutter von Mayra-Lee, einer Klassenkameradin von Nico, die ebenfalls Rahmen beklebt. „Und wir Eltern bekommen einen ganz anderen Einblick in den Schulalltag unserer Kinder.“ Auf der Suche nach einer Schule für ihre beiden Töchter hat sie sich bewusst für die Gesamtschule entschieden – gegen ein Gymnasium. „Für mich zählt soziales Engagement, ich will keine Einzelkämpfer“, sagt Claudia Skibbe.

Während Nico und die Mädchen basteln, kochen ihre 20 Klassenkameraden mit Eltern Marmelade oder spielen Inline-Hockey in der Turnhalle. Fünf Mädchen proben ein Theaterstück im Schwarzlichtraum. „Das ist besser, als den ganzen Tag rum zu sitzen wie an meiner alten Schule“, erzählt Nico, während er das klebrige Seidenpapier vorsichtig um den Rahmen wickelt. „Diese Gruppenstunden sind mindestens so wichtig wie Deutsch oder Mathe“, erklärt Nicos Klassenlehrerin Rosemarie Steinkühler. „Wer in einer kleinen Gruppe funktioniert, kommt auch in der großen klar.“

1318 Schüler gehen auf die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim, sie werden von 103 Lehrer unterricht. Außer dem Namen, den die Schule in den 70er Jahren erhielt, gibt es keine Verbindungen zu der Stiftung. „In den letzten Jahren haben wir die Person Robert Bosch wieder für uns entdeckt“, sagt Schulleiter Wilfried Kretschmer. „Er passt zu uns mit seinem Verständnis von Bildung und Völkerverständigung.“ Seit 28 Jahren gehört die Gesamtschule zum Netzwerk der UNESCO-Projektschulen.

Die RBG ist eine riesige Schule, aber keine Lernfabrik. Trotz der hunderte von Schülern, die täglich durch die Pausenhalle strömen, gibt es kein Zeichen von Vandalismus. Selbst eine Stehlampe aus zartem Reispapier neben einem Podest bleibt heil. Überall stehen Grünpflanzen, kein Schüler rupft an ihren Blättern. An den Wänden auf den Gängen hängen Plakate oder Bilder von Schülern, Schmierereien gibt es nicht. In der Pausenhalle stehen Terrarien mit Schildkröten und ein großer Vogelkäfig, die von Schülern gepflegt werden. Auf dem großen Schulgelände finden sie überall Nischen, kleine Gärten, den Steg am Schwimmteich oder das UNESCO-Café, ein Brunnen unter einem Baldachin, gestaltet von Schülern.

Haupt- und Realschüler und Gymnasiasten lernen gemeinsam, ab der siebten Klasse wird der Unterricht schrittweise in A und B Kurse differenziert. Bei der Zusammensetzung der Klassen orientiert sich Schulleiter Wilfried Kretschmer an der Empfehlung der Grundschule für die weiterführende Schule. Etwa 55 Prozent haben eine Empfehlung für die Haupt- und Realschule. Jeder Dritte schafft hier einen höheren Abschluss, als von der Grundschule prognostiziert. Keiner bleibt sitzen, und kaum einer geht ohne Schulabschluss. Jury-Sprecher Peter Fauser sagt: „Das ist eine enorme Leistung. International wird kritisiert, dass die deutschen Schulen viel zu selektiv sind. Die übliche Formel, die Herkunft eines Schülers entscheidet über seine Zukunft, gilt an der Hildesheimer Gesamtschule nicht.“

Das gelingt, weil die Schüler Verantwortung für ihr Lernen übernehmen. So wie in der Deutschstunde der 6.3. bei Christoph Dommnich. Er ist der zweite Klassenlehrer von Nico. Die Klasse wiederholt die Regeln einer Erzählung. Zunächst soll jeder Schüler die allein auflisten, dann mit seinem Nachbar diskutieren und in der Gruppe ein Plakat dazu entwerfen. Anschließend muss jede Gruppe ihr Plakat vor der Klasse präsentieren. Nico schreibt auf: „1. Man soll in der Vergangenheit schreiben, 2. spannende Wörter benutzen, 3. Höhepunkte spannend machen und 4. wörtliche Rede.“ – „Es ist wichtig, dass die Kinder, die Regeln selbst aufschreiben“, erklärt Lehrer Dommnich, „Ich kann ihnen die fünfmal erzählen, viele behalten sie trotzdem nicht.“ Nico malt inzwischen mit seiner Gruppe auf einem gelben Plakat eine Spannungskurve, gemeinsam listen sie die Regeln auf.

Jetzt präsentieren die Schüler ihre Arbeit, Nicos Gruppe ist als erste dran: Christian, Nico, Isabelle, Semra und Shannon gehen nach vorn und kleben ihr Plakat an die Tafel. Semra und Shannon erklären, was sie aufgeschrieben haben. Ihre Mitschüler melden sich, um die Präsentation zu kommentieren. Lehrer Dommnich sagt: „Denkt dran: Erst etwas Positives sagen, dann: ,Man könnte eventuell noch verbessern...’.“ Michele sagt: „Ich fand nicht so gut, dass ihr gesagt habt: ,Man muss, muss’.“ – „Stopp!“, unterbricht sie der Lehrer. „Gut finde ich, dass ihr die Spannungskurve aufgemalt habt“, verbessert sich Michelle. Das findet auch Finn, aber er kritisiert, dass nicht alle aus der Gruppe vorgetragen haben.

Ein paar Mädchen kichern, die Klasse wird unruhig, die Konzentration lässt nach. Kein Wunder, es ist bereits 14.30 Uhr. „Alle stehen jetzt mal auf“, sagt Lehrer Dommnich. „Wollt ihr Laurenzia oder eine Entspannungsübung?“ Die Schüler rufen: „Laurenzia!“ Dann singen sie laut: „Laurenzia, liebe Laurenzia mein, wann wollen wir wieder beisammen sein? Am Mooontag!“, und gehen dabei zum Takt in die Knie. Nach ein paar Minuten sind alle völlig aus der Puste – aber die Spannung ist raus, es ist wieder ruhig. Der Unterricht kann weitergehen. „Nach dem Mittag kann ich nicht eineinhalb Stunden durcharbeiten“, sagt Christoph Dommnich. „Das ist für alle die Hölle – für die Schüler und für mich auch.“

An der RBG dauert der Unterricht bis 15.30 Uhr, für die Oberstufe bis 16.15 Uhr. Kein Klingeln unterbricht das Lernen; die Schulglocke wurde abgeschafft, „weil wir keine Fabrik sein wollen“, sagt Schulleiter Wilfried Kretschmer. Der Unterricht wird überwiegend in Doppelstunden organisiert, dazwischen gibt es 20 bis 25 Minuten Pause, mittags haben die Schüler 45 Minuten Zeit zum Essen in der Schulkantine mit bunten Stühlen im Keller der Schule. Am Nachmittag stehen nicht bloß zusätzliche Freizeitangebote auf dem Stundenplan, sondern Unterricht. Erholungszeiten, Sport, Musik und Theater sind über den Tag verteilt. Nico ist in der Bläserklasse, alle 25 Schüler der 6.3. lernen ein Blasinstrument. Nico spielt Klarinette, Christian Waldhorn und Semra lernt Tuba. Die Instrumente bekommen sie von der Schule gestellt. „Hier finde ich es eindeutig besser als in meinem alten Gymnasium“, sagt Nico. „Wenn um halb Vier die Schule vorbei ist, habe ich keine Hausaufgaben mehr.“

Einzelarbeit, Gruppenarbeit, Präsentieren ziehen sich wie ein roter Faden durch den Unterricht von der fünften Klasse bis zum Abitur. An „Methodentagen“ lernen die Schüler, wie man Referate hält, die wesentlichen Thesen in Texten unterstreicht oder recherchiert. Die Techniken wenden sie jeden Tag an. Während der Arbeits- und Übungsstunden arbeitet jeder Schüler für sich: Nico malt ein Plakat über Ungarn für das Fach Gesellschaft, sein Tischnachbar Christian schreibt an seiner Erzählung für Deutsch weiter und Lynn macht ihre Englischaufgabe zu Ende. Wer mit seiner Aufgabe fertig ist, geht zu einem Zettel an der Wand und zeichnet auf dem Wochenplan seine Aufgabe ab.

„Wir fanden es toll, den Wochenplan für alle sichtbar abzuhaken“, erzählt Franca. „Das war ein Wettbewerb, wer ist der Schnellste?“ Die 16-Jährige geht in die zehnte Klasse und benutzt wie alle Großen für ihre Arbeitsplanung jetzt einen Timer. Während der Arbeitsstunde in der 10.1. üben die meisten für eine Chemie-Arbeit. Franca ist im A-Kurs, Sharon, 16, geht in den B-Kurs und hat die Reaktionsgleichung noch nicht kapiert. Franca erklärt es ihr geduldig. „Es ist leichter, einen Schüler zu fragen“, sagt Sharon, „deshalb gehe ich zu Franca, sie ist der Crack bei uns.“– „Und ich muss es verstanden haben, um es erklären zu können. Dafür kann ich Sharon in anderen Fächern fragen. Das ist ein Geben und Nehmen“, sagt Franca. Die Starken helfen den Schwachen – noch ein Grund für den Erfolg der Schule.

Nach einer Erfolgsgeschichte sah es lange Zeit nicht aus. Gegründet wurde die RBG 1971. Gegen die Gymnasien in Hildesheim konnte sich die Schule nicht durchsetzen. Die Schüler blieben weg, vor allem die guten. Vor über fünf Jahren machte sich die Schule auf den Weg. „Wir haben uns buchstäblich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen“, sagt Schulleiter Wilfried Kretschmer, 55.  Er kam 1979 als Referendar an die Schule und wollte ursprünglich nach fünf Jahren wieder weg, die Süßwasser-Forschung lockte den Lehrer für Biologie und Politik. Doch aus fünf wurden 28 Jahre, erst war er Oberstufenkoordinator, seit 2002 ist er Schulleiter.

Auslöser für systematische Reformen war die Wahl zur Expo-Schule im Jahr 2000. Ausgerechnet die Gesamtschule wurde ausgewählt und nicht eines der Gymnasien, sich auf der Weltausstellung in Hannover zu präsentieren. „Das war das erste Mal, dass wir öffentliche Anerkennung bekamen“, sagt Kretschmer. Danach suchten sich die Lehrer einen professionellen Unternehmensberater und zogen Bilanz: Wo liegen unsere Stärken? Wo unsere Schwächen? „Wir stellten fest: Wir machen tolle Projekte, aber konventionellen Unterricht“, erzählt der Schulleiter. Es gab viele Ideen, die kaum aufeinander abgestimmt waren. 25 Lehrer, die Schulleitung und das „mittlere Management“, so Kretschmer, entwarfen einen Masterplan. Die Ziele: Entwicklung eines Leitbilds, Schaffung transparenter Gremien, Erarbeitung eines modernen Lehrplans und eines pädagogischen Konsens, Verbesserung des Unterrichts.

Sie entwickelten „Jahresarbeitspläne“. Die bunten graphischen Übersichten hängen überall in der Schule. Vor den Sommerferien plant ein Lehrerteam das gesamte Schuljahr, Stufe für Stufe, Fach für Fach. So entsteht nicht nur eine Übersicht, sondern die Fachlehrer stimmen ihren Unterricht aufeinander ab und legen gemeinsam Lernziele fest. In der sechsten Klasse findet das Thema Afrika zum Beispiel parallel in drei Fächern statt: Kunst, Gesellschaft und Religion, Werte und Normen. Geschichtslehrer Christian Augustin, sagt: „Wir wollen weg von: Ich und mein Fach, hin zu: Wir und unsere Schule.“

Die Lehrer arbeiten in „Jahrgangsteams“ und Fachbereichen zusammen. Ständig überprüfen sie ihre Arbeit: Sie befragen ihre Schüler und hospitieren gegenseitig im Unterricht. An anderen Schulen wäre das undenkbar. Doch hier hat keiner Angst vor Offenheit – im Gegenteil, sie motiviert. Der Krankenstand unter den Lehrern ist mit zwei Prozent auffallend niedrig.

Projektwochen, die den gesamten Unterricht lahm legen, wie an anderen Schulen, gibt es nicht. Fächerübergreifendes Lernen findet so oft wie möglich und in jedem Fach statt. Das geht so weit, dass Schüler in der Oberstufe aus dem Biologie- und Geschichtskurs gemeinsam Facharbeiten zum Thema Natur schreiben. Auch in Kunst und Deutsch wird zu dem Thema gearbeitet.

Gelernt wird nicht nur in der Schule. So fährt der achte Jahrgang jedes Jahr zur Sommerschule auf die dänische Insel Aarö. Die Schüler erforschen die Natur und die Lebensbedingungen auf der Insel und halten Referate. Das Camp ist ein fester Bestandteil in der Schullaufbahn, es ist ein Initiationsritus für die Schüler. „Die Woche schweißt richtig zusammen“, schwärmt Franca aus der Zehnten.

Kann jede Schule so arbeiten wie die Robert-Bosch-Gesamtschule? „Natürlich!“, sagt Schulleiter Kretschmer. „Das ist eine Frage des Wollens, nicht der Ressourcen.“

Catrin Boldebuck

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An der Montessori-Oberschule übernehmen  Kinder Verantwortung für ihre Mitschüler und lernen dabei wie von selbst.

Das Wichtigste sagt sie zuletzt. „Soziale Intelligenz steht bei uns an erster Stelle!“, sagt Ulrike Kegler und fährt mit den Fingern vor und zurück. So, als wolle sie die Worte an der Wand festnageln. Sie dreht sich um, hinter ihr hängt ein rotes Bild an der Wand. Überall in der Schule dominieren bunte Farben. „Hätten Sie gedacht, dass diese Schule von innen so hübsch ist?“ fragt sie.

Nein, auf diesen Gedanken kommt keiner, der das Gebäude nur von außen kennt. In der Tat ähnelt die Montessori-Schule in Potsdam dem Verwaltungstrakt eines abgewickelten Industriekombinats. Grau in Grau duckt sie sich zwischen aufgeplatzten Waschbetonplatten auf der einen und windschiefen Bäumen auf der anderen Seite.
Ulrike Kegler lächelt. „Wir hätten auch zuerst die Fassade renovieren können, aber der Wandel muss von innen kommen.“

In Potsdam hat sie den Wandel geschafft. Nach der Wende kämpfte die Anstalt ums Überleben. Es gab nicht genug Anmeldungen. 1991 begann man mit der Integration behinderter Kinder und übernahm Ideen aus der Montessori-Pädagogik. „Beides war eher dem Überlebenstrieb geschuldet als innerer Überzeugung,“ sagt Ulrike Kegler, die damals als Lehrerin nach Potsdam wechselte und die erste Montessori-Klasse aufbaute.
Doch der damalige Rektor und die Kollegen  begegneten der  Montessori-Pädagogik mit großer Skepsis. Das Prinzip des  offenen Unterrichts widersprach ihren Methoden in wesentlichen Punkten. Es verzichtet zum Beispiel auf jede Form des Frontalunterrichts. So sitzen die Kinder im Kreis, keiner dreht dem anderen den Rücken zu, alle teilen sich die Lernmaterialien,  Rücksicht gehört zu den obersten Geboten, lebenswichtig in einer Schule, in der auch behinderte Kinder am normalen Unterricht teilnehmen.

Als der Schulleiter in den Ruhestand ging, bat das Schulamt Ulrike Kegler, den Posten zu übernehmen. „Die Lehrerrolle hat sich seither völlig verändert,“ sagt ihre Kollegin Monika Peater. Sie sitzt in der Ecke eines Klassenzimmers, auf einem kleinen Stuhl an einem kleinen Tisch. Auf dem Boden liegt ein bunter Teppich. In Regalen, auf Augenhöhe und Griffweite der Kinder stehen Rechenhilfen,  Lesebücher und eine Weltkugel.

Hinter ihr baut sich eine Wand  aus Ordnern auf, jeder Schüler hat einen eigenen, den er gestalten kann, wie er möchte. Irgendwo vor dem Fenster steht der Lehrertisch. Sie sagt: „Man steht nicht mehr gottgleich vor der Klasse, sondern ist eher Moderator.“ Aber: „Natürlich achten wir darauf, dass die Schüler die Lernziele erreichen.“ Offenbar mit Erfolg. Bei den zentralen Abschlussprüfungen und Vergleichsarbeiten des Landes Brandenburg schneiden viele Montessori-Schüler überdurchschnittlich gut ab.

Auf dem Fußboden hocken der achtjährige Raul, Piratentuch um den Kopf, Haare bis zu den Schultern, und der ein Jahr jüngere Carl. Sie versuchen, eine Matheaufgabe zu lösen, minutenlang und immer wieder auf anderen Wegen, von denen manche zum Ziel führen und andere irgendwo versanden. Schließlich geht Raul zum Klassenlehrer und fragt: „Was stimmt den nun, Herr Meyer?“

Als Meyer auf eine Lösung deutet, setzt sich Raul wieder neben Carl auf den Boden und erklärt mit Hilfe von bunten Kugeln, die er über den Teppich rollt, wie er auf die Lösung gekommen ist. Aber Carl hat bald keine Lust mehr, holt sein Schreibheft und beginnt, Buchstaben zu üben. Er kann das besser als Leonora, die neben ihm sitzt und weil er dazu noch ein Jahr älter ist als sie, guckt sie ihm bewundernd über die Schulter und tut es ihm nach. Als der Lehrer den Raum verlässt, blickt keiner der Schüler auf, so vertieft sind alle in ihre Arbeit.

Jede Klasse besteht aus Kindern verschiedener Alterstufen, jeder Schüler gehört also zuerst zu den Jüngeren, dann zu den Älteren und wenn er in die nächste Gruppe kommt, ist er wieder  Anfänger. Auf diese Weise können Ältere den Jüngeren helfen, Jüngere können Ältere fragen. Ziel ist eine Schulform, in der das Lernen wichtig ist, nicht ein auswendig aufgesagtes Ergebnis.

Am Anfang war solch ein Arbeiten schwierig. Um sich an die neue Art des Unterrichts zu gewöhnen, teilten sich zwei Lehrer eine Klasse, „da sind dann Eifersüchteleien ausgebrochen,“ sagt Monika Peater. Das Kollegium habe sich belauert und Einer habe dem Anderen den Erfolg nicht gegönnt. Manche besuchten Weiterbildungskurse, andere boykottierten die Montessori-Pädagogik. „Die Widerstände waren teilweise sehr groß,“ sagt sie  und faltet die Hände wie zum Gebet. „Das ist jetzt komplett weg.“ 

Vor allem die Kinder profitieren davon. Zum Beispiel Franz, der seinen elften Geburtstag feiert. Die Kinder sitzen im Kreis um eine Kerze, die Lebenslicht und Sonne in einem darstellt. Franz hat einen Globus in der Hand. Er läuft elfmal um die Kerze, wobei sich spielerisch erklärt, dass sich die Erde  um die Sonne dreht und wie lange das dauert.

Danach wählt Franz elf Schüler aus, einen für jedes Jahr. Weil er eine Sprachstörung hat, redet er nicht besonders laut, aber alle helfen ihm, Worte in Sätzen zu ordnen. Schließlich umringen sie ihn und heben ihn mit dem Stuhl elfmal über ihre Köpfe. Seine Beine fliegen hoch, er lacht und gluckst. Nachdem sie ihn wieder runtergelassen haben, beklatschen sich gegenseitig.

Die Schule hat 461 Schüler, 461 unterschiedliche Persönlichkeiten, die es zu betreuen gilt. „Das Ende der Fahnenstange,“ sagt Ulrike Kegler. Die Kapazitäten sind zu klein, „außerdem renovieren wir jetzt endlich mal die Fassade.“ Sie grinst. „Alles in allem sind wir auf einem guten Weg.“  Von den Lehrern, die das Kollegium bildeten, als sie in Potsdam anfing, sind gerade mal drei übrig geblieben.

Philipp Kohlhöfer

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„Die Schüler haben das Gefühl, die Schule mitzugestalten. Sie empfinden sie als etwas Besonderes.“ (Die Jury)

Dass im Proberaum dicke Luft herrscht, hört man schon draußen auf dem Flur. „Ich bin doch nicht eure Kindergärtnerin!“, schimpft eine Frauenstimme. „Wenn Ihr nicht zuhören könnt, brechen wir ab! Zehn Minuten Pause!“

Ein Dutzend Neuntklässler schleicht mit gesenkten Köpfen aus dem Raum. Einige haben ihre Texte nicht richtig gelernt, einer hat mit dem Nachbarn getuschelt. So was kann die Regisseurin nicht ausstehen. Ulrike Gubisch, Schauspielerin am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, verlangt Konzentration, Disziplin und höchste Aufmerksamkeit. Schließlich will sie mit ihnen ein anspruchsvolles Stück einstudieren: „Die Hexenjagd“ von Arthur Miller. In drei Wochen ist Premiere.

Klassenlehrer Arnulf Kunze wirkt nicht besonders mitleidig. „Sie dürfen ruhig die Ernsthaftigkeit spüren,“ sagt er. Das Theaterprojekt der Klasse neun an der Helene-Lange-Schule ist keine nette Abwechslung vom Schulalltag, sondern das wirkliche Leben – und das kann auch mal so hart sein wie Frau Gubisch. Alles darf passieren, nur nicht, dass sich die Truppe vor vollem Saal mit Stottern und lahmen Rezitationen blamiert. Also wird fünf Wochen lang Tag für Tag geprobt, auch an den Samstagen, manchmal bis in den späten Abend, so lange, bis jeder Satz und jede Geste sitzen. Die Schüler nehmen ihrer Regisseurin den Kasernenhofton nicht übel, denn sie spüren ihre Leidenschaft. „Du musst in seinem letzten Satz mitatmen, fall ihm ins Wort!“, feuert Ulrike Gubisch Henriette an. „Solche Projekte in der Pubertät sind nicht nur wichtig für die Identitätsfindung, sondern binden auch die Klassengemeinschaft zusammen,“ sagt Schulleiterin Ingrid Ahlring. Henriette holt tief Luft, ihre Stimme wird laut und hart, gekonnt fährt sie ihrem Mitspieler in die Parade.

Ernsthaftigkeit, Selbstdisziplin und Hingabe an die Sache, das sind zentrale Anliegen der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, die seit den Achtziger Jahren zu den wichtigsten Reformschulen in Deutschland zählt und als „Leuchtturm“ unter den Schulen gilt – ein Anspruch allerdings, den auch eine Versuchsschule wie die Helene-Lange-Schule jeden Tag neu einlösen muss, im Theaterraum wie im Klassenzimmer.

Dabei macht die Schule mit ihren 600 Schülern auf den ersten Blick einen eher kuscheligen Eindruck. Brauner Nadelfilzteppich überall, Pflanzen, selbst gemalte Bilder an den Wänden, Ruheecken. Wohnzimmeratmosphäre auf den Fluren. Schüler der Klasse sechs fläzen sich in Gruppen auf dem Teppich, in ihre Hefte vertieft, lassen sich von keinem stören. Soviel Konzentration und Respekt will erlernt sein. „Die ersten Jahre, wenn wir Rituale wie das Ruhezeichen einführen, sind schweißtreibend, “ räumt Ingrid Ahlring ein, „aber es lohnt sich.“

Als hilfreich empfinden die Lehrer dabei, dass keiner von ihnen ein  Einzelkämpfer ist. Jede Klassenstufe hat ihr eigenes Lehrerzimmer, die sechs bis acht Lehrer arbeiten eng zusammen, jeder kennt die Lernfortschritte, Stärken und Schwächen aller hundert Schüler seines Jahrgangs. Die Türen stehen auch während des Unterrichts fast immer offen. Die Lehrer begleiten ihre Schüler sechs Jahre lang von Klasse fünf bis zehn, danach wechseln die Besten aufs Gymnasium – mehr als die Hälfte der Schüler. Noten gibt es erst ab Klasse sieben. Keiner bleibt in der Gesamtschule sitzen.  Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – hat die Schule einen Leistungsbegriff, der weit über gute Noten hinausgeht. „Unsere Schüler sollen Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen,“ sagt Ingrid Ahlring. „Wir erwarten viel - wir wollen, dass sie selbständig werden,“ sagt Englischlehrerin Marianne Strasser, die vor zwanzig Jahren ans „Hela“ kam. Dabei dürfen sie sich Zeit lassen. Sauer wird Marianne Strasser nur,  „wenn einer rum sitzt und nix tut – das tadle ich.“

Casimir aus der 9 c wechselte vom Gymnasium auf die „Hela“, wie die Schüler ihre Schule nennen. „Da musste man vor der Bio-Arbeit dicke Ordner auswendig lernen. Im Gedächtnis haften blieb gar nichts. Hier ging ich mit einem Klassenkameraden in den Wald, um herauszufinden, welche Bäume und Tierarten es gibt.“ Zum Schluss hatte er wieder einen Ordner in der Hand – aber alles darin war selbst erarbeitet. „Da ist man richtig stolz.“ Leistung werde an dieser Schule mehr respektiert als anderswo, sagt Casimir. „Auf meiner alten Schule galt einer, der gute Leistungen bringt, gleich als Streber.“

Ebenso viel Wert legt die Schule aber auf „überfachliche Kompetenzen.“ Tolerant zu sein beispielsweise, Menschen in völlig anderen Lebensumständen verstehen zu lernen.

Tommaso, der später mal Arzt werden will, machte sein Betriebspraktikum als Vierzehnjähriger im Krankenhaus, wo er Patienten wusch. Besonders an die Nieren ging ihm die Antwort einer Patientin. „Ich fragte sie, ob ich ihr helfen könne, sie sagte nur: „Du kannst mir nicht helfen. Sie lag im Sterben.“ Casimir besuchte mit einer alten Dame die Synagoge und irgendwann erzählte sie und ihre Freundinnen ihm von ihrer Zeit im Konzentrationslager von Riga – und was es hieß, unter solchen Bedingungen schwanger zu sein. „Solche Erfahrungen verändern dich,“ sagt er. „Wäre ich an einer anderen Schule, wäre ich heut anders.“  

Zu den wichtigsten Institutionen der Schule zählt der Klassenrat, der jeden Freitag tagt. Wer Schüler ernst nimmt, so die Erkenntnis der Lehrer, gibt ihnen die Möglichkeit, Demokratie und damit die eigene Kompetenz zu erfahren statt „Objekt“ zu sein. Dazu gehört auch die Freiheit, den Lehrer kritisieren zu dürfen. Regel: „Man darf den anderen nicht persönlich angreifen, sondern muss sachlich bleiben,“ fasst Lena zusammen. Wer dagegen verstößt, bekommt die rote Karte gezeigt und fliegt aus dem Stuhlkreis.

In Klasse 8 c steht heute die neue Sitzordnung auf der Tagesordnung des Klassenrats. Jannik eröffnet die Diskussion. Dann werden die Sitznachbarn ausgelost. Plötzlich lauter lange Gesichter. „Ach du Scheiße!“ – „Nein, ich sitz nicht neben dem!“ Tobias will nicht neben Julius. Jule nicht neben ihre Freundin Dominique, „weil wir uns dann gegenseitig ablenken.“ Ein Mädchen in der hinteren Reihe weint – sie sitzt jetzt schon das dritte Mal neben einem Jungen, neben dem sie sich schlecht konzentrieren kann. „Können wir nicht noch mal losen?“, fragt einer. „Das bringt es nicht, einer ist immer unzufrieden,“ lautet der Einwand. „In der Grundschule hat einfach die Klassenlehrerin bestimmt,“ schlägt Jule vor. Doch das will Klassenlehrerin Carmen Bietz nicht. Und die Klasse auch nicht. Die Stunde ist zu Ende. Drei Nächte dürfen ihre Schüler drüber schlafen. Dann lautet die salomonische Entscheidung: Wir losen noch einmal neu, aber an diesem Ergebnis ist nicht mehr zu rütteln. „Ist doch nicht so schlimm,“ sagt Sarah einsichtig, „wir haben uns doch jedes Mal aneinander gewöhnt, oder?“ Schließlich ist hier das wirkliche Leben.

Ingrid Eißele

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„Diese Schule ist stolz auf jedes Kind, das sie behält und nicht darauf aus, Kinder zu verlieren.“ (Die Jury)

Warnung: An dieser Schule wird Lehrern einiges zugemutet. Das fängt schon beim Vorstellungsgespräch an. „Sie können Englisch und Geschichte – was können Sie sonst noch?“ ist eine Lieblingsfrage des Schulleiters an Bewerber.

An dieser Schule wird auch Kindern einiges zugemutet. Wer schlechte Noten schreibt, wird schon mal verdonnert, die Arbeit so oft nachzuschreiben, „bis aus der Fünf eine Zwei geworden ist.“ Oder gemeinsam mit älteren Schülern in den Sommerferien den Stoff nachzubüffeln – die Schule bleibt dafür vier Wochen lang geöffnet.

Der Direktor der Friedrich-Schiller-Schule im schwäbischen Marbach stellt Ansprüche an Lehrer, Schüler und Eltern. Letzteren gibt er schon mal auf, „daheim für bessere Stimmung zu sorgen und nicht dauernd zu fragen, wann der Fünfer weg ist.“

Günter Offermann, 57, ist ein Machertyp, der eher durch seine Schule fliegt als geht, nebenbei Papierschnipsel aufklaubt und vor Ideen nur so sprudelt. Ein Patriarch, so heißt es über ihn, aber einer, der zuhören kann – und nicht nur die eigenen Ideen gelten lässt. „Ich brauche ständig jemand um mich, den ich anlabern und nach seiner Meinung fragen kann,“ sagt Offermann. „Zum Beispiel, was haltet Ihr vom Laptop in Klasse fünf?“ Ein Schulleiter könne noch so viele Ideen haben, stellt er klar, „getragen werden sie von der Mannschaft.“ Manchen Zahn haben ihm die Kollegen gezogen. „Aber wenn etwas beschlossen war, haben sie mich nie im Stich gelassen.“

Wie man überzeugt, hat der Sohn eines Obsthändlers schon im Laden der Eltern gelernt, wo er auch mal Bananen verkaufte, „die schon ein bißle fleckig waren.“ Dass er seinen Kollegen weder überreife Früchte noch unreife Ideen andrehen konnte, war ihm schnell klar, als er vor 18 Jahren als Schulleiter antrat. Davor hatte er zehn Jahre lang unterrichtet und vier Jahre als Referent im Oberschulamt viele Kontakte geknüpft. Offermann versuchte es erst gar nicht auf autoritäre Art. „Ein Schulleiter in Baden-Württemberg kann nichts anweisen – er muss überzeugen.“

Das Werk scheint gelungen. Binnen fünfzehn Jahren hat sich die Schülerzahl auf fast 2000 Schüler verdoppelt, damit zählt die Schule in Marbach zu den größten Gymnasien in Deutschland. Allein Klassenstufe fünf besteht aus zehn Parallelklassen. Und Offermann will weiter expandieren. Die Partnerschaft mit einer Schule in China will er weiter ausbauen, Chinesisch als zweite Fremdsprache in Klasse sechs einführen. „Je früher, desto besser.“

Weltoffen sollen sie sein, die Schüler aus Marbach. „Wir haben viele Eltern, die für internationale Konzerne wie Bosch arbeiten.“ Er führte vor drei Jahren „internationale Klassen“ ein. Dort lernt Elftklässlerin Eva aus Marbach gemeinsam mit Liina aus Finnland und Mart aus  Estland  – alles auf Englisch. Die Gastschüler leben ein Jahr lang bei Marbacher Familien und sorgen für ein internationales Netzwerk, das von China bis Argentinien und von USA bis Estland reicht.

Einige Schüler wollen zusammen mit einem pensionierten Lehrer einen Griechisch-Kurs einführen? Der Schulchor hat eine Einladung nach Shanghai bekommen? „Super!“ Der Rektor hilft, dass das Projekt läuft und kümmert sich um die Finanzierung. Jeder Schüler „braucht zumindest eine Sache, von der er sagt, hier kriege ich Anerkennung – egal ob Spanisch, Chinesisch oder die Tüftler-AG. Dann gilt der Deal, den Rest nehm’ ich mit. So einfach muss man Schule konstruieren.“

Ähnlich einfach klingt auch eine anderer Satz von Günter Offermann, der zugleich die größte Herausforderung für ein Gymnasium darstellt: „Jeder kommt ans Ziel.“ Schüler „abzuschulen“, nur weil sie schwierig sind, gilt am Friedrich-Schiller-Gymnasium als verpönt. „Einer, der als struppig gilt, aber das Zeug hat zum lernen, um den kümmern wir uns selbst,“ stellt der Schulleiter klar. Jeder Lehrer ist für Erfolg oder Misserfolg seiner Schüler verantwortlich. „Abschieben, im Stich lassen, das geht hier nicht,“ stellt Englischlehrerin Andrea Saffert klar. Vergangenes Jahr empfahl die Schule siebzehn von insgesamt rund tausend Schülern der Unter- und Mittelstufe den Wechsel auf die Realschule, „weil sie insbesondere mit der zweiten Fremdsprache überfordert waren.“ Das sind wenige im Vergleich zu anderen Gymnasien, aber immer noch Siebzehn zuviel.

„Wenn ein Schüler absackt, versuchen wir herauszukriegen, woran es liegt“, sagt Offermann. „Liegt es an der Qualität des Unterrichts? Hat er Liebeskummer? Oder Probleme daheim? Das muss geklärt werden. Der Lehrer ist dafür da, dass er wieder gut wird.“ Der Lehrer? Nein, ein ganzes „Unterstützungssystem“.
Fünfte Stunde – auffällig still ist es auf den Fluren, obgleich hinter den Türen im Oberstufenflügel fast 400 Schüler arbeiten. Allenfalls Murmeln ist im „Tutoriat“, der Übungsstunde, erlaubt. Die Mathelehrer Andreas Dold und Falk Bittermann halten sich im Hintergrund. „Wir werden nur noch bei ganz schwierigen Fragen gebraucht“, sagt Andreas Dold. Die Hauptarbeit machen die Schüler. Stärkere helfen den Schwächeren. Nina aus der Dreizehnten erklärt Jessica die zweite Steigerung der Parallele. Jan hilft Sarah bei einer komplizierten Gleichung.

„Rollentausch“ nennt das Andreas Dold, und er dürfte zum Schwierigsten zählen, was man einem Gymnasiallehrer zumuten kann – Verantwortung abzugeben, den Schülern die Bühne zu überlassen. „Manchmal ist es besser, wenn ihnen etwas in ihrer eigenen Sprache erklärt wird,“ sagt Andreas Dold. „Einen Gleichaltrigen traut man sich eher zu fragen als den Lehrer“, bestätigt Jessica, 18.

Überheblichkeit gegenüber Schwächeren ist verpönt. Schulsprecher Constantin hilft in der Mittagspause Hauptschülern bei den Hausaufgaben. Gymnasiastin Hannah, 17, übt mit dem elfjährigen Miguel aus der Hauptschule Deutschaufsatz. Gymnasiasten, Realschüler und Hauptschüler planen einen gemeinsamen Ruder-Achter. „Wir wollen den Kindern zeigen, wie die Welt aussieht,“ erklärt der Direktor. Auch die, die nur einen Steinwurf entfernt liegt.

Ingrid Eißele

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Die Schülerin steht schon eine Weile in der Tür des Sekretariats. Was macht sie hier? „Ich wollte nur mal Hallo sagen,“ erklärt sie. „Ich vermisse die Schule.“  Im Hintergrund eilt Schulleiter Peter Friedsam durch den Raum, kramt irgendwas zusammen, er muss los. Als er die ehemalige Schülerin hört, bleibt er kurz stehen und freut sich. Nicht nur, weil sie vor sechs Monaten ihren Abschluss gemacht hat und eine Lehrstelle hat. Er fühlt sich bestätigt, er sagt: „Hier will eben keiner weg.“

Den meisten Ehemaligen geht es ähnlich. Denn die 1977 gegründete Ganztagsschule Carl- von- Linné in Berlin- Lichtenberg ist mit 470 Schülern nicht nur  die größte Schule für behinderte Kinder in Europa, sondern unterrichtet auch als einzige sonderpädagogische Institution nach dem Prinzip der Gesamtschule. Eine schwere Aufgabe bei  Schülern  mit Querschnittslähmung oder offenem Rücken, bei Kindern, die an Legasthenie, Epilepsie oder Diabetes leiden. Oder gar an  schweren Herzfehlern, „Da muss immer eine Begleitperson bereitstehen, die bei einem Anfall sofort eine Spritze setzen kann, sonst sterben sie,“ erklärt Friedsam. Umso erstaunlicher, dass jeder seiner Schüler einen Abschluss. macht. „Manche Leute halten uns für chaotisch, aber wir haben einen roten Faden: den Schulabschluss.“

Auch Carolin* aus der siebten Klasse wird ihn schaffen. Sie steht mit ihrem Rollstuhl vor einer Tafel voller Tiersymbole und Buchstaben. An ihrem Stuhl ist ein Computer angebracht, der der Schülerin mit Sprachfehler helfen soll, sich auszudrücken. „Stell dir vor, der Motor deines Stuhls ist kaputt,“ sagt Lehrer Frank Bühling. „Was machst du?“ Carolin wackelt hin und her, schlägt mit den Fingern auf die Tastatur und sagt etwas Unverständliches, aber ihr Lehrer versteht, dass sie „schieben“ gesagt hat.“

„Fast geschafft“ sagt er, aber eines noch: „Bilde mal einen Satz mit ’schieben.“ Carolin drückt auf der Tastatur herum, Buchstabenfolgen gleiten über den Monitor, der Computer besitzt ein Programm, das  nach dem passenden Wort sucht. Von allen acht Rollstuhlfahrern, die an dem Sprachcomputer ausgebildet werden, ist Carolin eine der schnellsten. „Kannst du mich schieben?“ steht schließlich auf dem Bildschirm.

Mittlerweile ist Peter Friedsam zurück in seinem Büro. Er reibt sich die Hände, so, jetzt hat er kurz Zeit: „Ist doch Quatsch, wenn ein Kind nach der Schule den ganzen Tag im Rollstuhl sitzt und  aus dem Fenster sieht. Wie soll man denn da selbstbewusst werden?“ Lernen funktioniere  durch Emotionalität, davon ist er überzeugt, aber will man in Lichtenberg, Storkower Straße, östliches Ostberlin, wirklich emotional sein?

Plattenbauten bestimmen die Szene. Die Schule sieht aus wie aus einem Baukasten zusammengesteckt, irgendwann, so scheint es, hatte der Bauherr keine passenden Komponenten mehr und hat einfach andere benutzt. „Hm“ macht Friedsam, aus dem Fenster sehend, „deswegen gehen unsere Schüler oft auf Reisen.“

Jedes Jahr gibt es Sommercamps und Klassenfahrten. Im nächsten Sommer wird die Schule einen Surfkurs anbieten. Vor Jahren gab es ein EU- Programm, bei der die Lehrer nach Brüssel eingeladen wurden: „Wir haben die Schüler einfach mitgenommen,“ sagt Friedsam. „Wir stärken das Ich, indem wir mit den Schülern so oft es geht Sachen außerhalb der Schule machen.“  Als  einzige Schule für Körperbehinderte beteiligt sich seine Anstalt an  landesweiten Vergleichstests. Dabei werden den Schülern in einer Art Klausur eine Reihe von Aufgaben in Fächern wie Deutsch, Mathe und Englisch vorgelegt. „Das traut sich sonst keine Sonderschule“ sagt Friedmann und freut sich dass seine Schüler besonders bei Englischtests regelmäßig besser abschneiden als nicht behinderte Schüler.

Nsimba, acht Jahre alt, zwei Zöpfe baumeln an ihrem Kopf, sehr gut in Mathe und Deutsch, aufgeweckt und redegewandt, hat Sichelzellenanämie, eine Blutkrankheit, die in schweren Fällen zu Organschäden führen kann.

Sie steht im Musikraum und hüpft auf der Stelle. Hier gibt’s keine Stühle, hier wird Wert auf Bewegung gelegt. Hampelmann, Boxen, sich im Kreis drehen, Knie vor die Brust, das klappt bei den Meisten ganz gut, Nsimba hat damit ohnehin keine Probleme. Eigentlich hat sie, von ihrer unsichtbaren Erkrankung abgesehen, überhaupt keine Probleme. „Die wird es weit bringen,“ sagt Hella Schulze, ihre Klassenlehrerin. Gäbe es da nicht ein außerschulisches Dilemma: Nsimba kommt aus Angola, ihre Eltern sind  verschollen, sie lebt bei einer Pflegefamilie. Plötzlich sind Leute aufgetaucht, die behaupten Verwandte zu sein, sie wollen das Mädchen zu sich holen, haben einen Anwalt, sogar einen Pfarrer eingeschaltet. Sind sie wirklich Verwandte? Der Beweis fehlt. Ist das im Sinne des Mädchens? Die Schule glaubt es nicht, interveniert beim Jugendamt und bekommt Recht. Das Mädchen bleibt wo es ist.

„Und das ist noch ein leichter Fall,“ sagt Friedsam. Oft sind Eltern mit ihren behinderten Kindern überfordert, dann muss die Schule einspringen. Das Angebot ist vielfältig. In einfachen Fällen reicht  es, Kontakte zu Behörden oder Hilfsangeboten herzustellen oder den Eltern einfach zuzuhören. Vierzig so genannte ambulante Lehrer gehen zu den Kindern nach Hause und geben Tipps, wie Eltern zum Beispiel die Wohnung behindertengerecht gestalten können.

„Stimmt schon, wir sind eine Schule,“ sagt Peter Friedsam, zum ersten Mal sitzt er ruhig in seinem Sessel.  „Aber wir machen mehr als Schule. Wir machen lebensfähig.“

Philipp Kohlhöfe

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert

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Lange bevor die meisten Schulen an derlei dachten, hat die Grundschule Kleine Kielstraße ein Leitbild entwickelt. Die Ziele gelten bis heute: Zukunftsorientiertes Lernen, professionelle Zusammenarbeit im Kollegium, Elternarbeit, ganztägige Betreuung und Öffnung zum Stadtteil.

7.45 Uhr
Julia Herdramm wartet schon. Sie prüft, ob in den roten, blauen und gelben Ablagen alle Arbeitsblätter bereit liegen. Die 32-Jährige ist die Klassenlehrerin der „Dumbos", eine der acht Eingangsklassen, in die Erst- und Zweitklässler an der Grundschule Kleine Kielstraße gemeinsam gehen. Die Tafel hat sie mit bunten Blättern bemalt, davor ist ein Sitzkreis aus Holztruhen aufgebaut, in der Mitte stehen Schalen mit Kastanien, Bucheckern und Eicheln. Nach und nach kommen 25 Jungen und Mädchen herein.

Anika, acht Jahre, strubbelige dunkle Haare, packt Zettel und Buntstifte aus und fängt an zu malen, Nikos mit Playboy-Ohrstecker greift sich ein paar Kastanien, bohrt Löcher hinein und bastelt Giraff en, Ahmed verzieht sich mit einem Buch in die Leseecke aufs Sofa. Julia Herdramm geht zu Samuel, der verschlafen am Tisch sitzt. Sie streicht ihm über den Rücken und fragt: „Wie geht es dir?" Und dann fordert sie ihn auf: „Hast du deinen Satz schon geschrieben?" Eine halbe Stunde haben die Kinder Zeit anzukommen, bevor der Unterricht beginnt. „Viele Kinder haben von zu Hause keinen festen Rhythmus. Sie brauchen die Rituale in der Schule", sagt die blonde Lehrerin.

Die Grundschule Kleine Kielstraße liegt im Norden von Dortmund. Das vierstöckige, hundert Jahre alte Schulgebäude ist umschlossen von einer Hochhaus-Siedlung aus den 70er Jahren, dem „Hannibal". Fast tausend Menschen aus 30 Nationen leben hier. Viele haben Satellitenschüsseln auf ihren Balkons installiert, in einem Fenster hängt eine Deutschland-Flagge mit der Aufschrift „Pit Bull". 83 Prozent der Kinder, die in die Kleine Kielstraße gehen, sind Kinder mit Migrationshintergrund. Die meisten stammen aus der Türkei oder Griechenland. Ein Großteil der Eltern lebt von Arbeitslosengeld, viele Kinder wachsen ohne Vater auf. Es gibt Kinder, die kommen ohne Frühstück zur Schule, einige tragen im Winter noch Sandalen, etliche sprechen kaum Deutsch. Manche haben Krieg erlebt. „Klar möchte man solche Kinder am liebsten mit nach Hause nehmen", sagt Julia Herdramm, „aber ich bin keine Sozialarbeiterin, wir machen hier Schule!"

Schulleiterin Gisela Schultebraucks-Burgkart sagt: „Diese Kinder haben nur eine Chance: Bildung." Die 54-Jährige ist seit 33 Jahren im Schuldienst, immer in sozialen Brennpunkten. „Wenn die Probleme zu groß werden, dann hindern sie die Kinder am Lernen", beobachtet sie. Daher hat sie, als die Schule 1994 gegründet wurde, nicht mit den Kollegen diskutiert: „Welche Bücher schaffen wir an?", sondern: „Was für eine Schule wollen wir?" Lange bevor die meisten Schulen an derlei dachten, hat die Grundschule Kleine Kielstraße ein Leitbild entwickelt. Die Ziele gelten bis heute: Zukunftsorientiertes Lernen, professionelle Zusammenarbeit im Kollegium, Elternarbeit, ganztägige Betreuung und Öffnung zum Stadtteil.

Ihre Arbeit macht die Grundschule so gut, dass sie in diesem Jahr den Deutschen Schulpreis bekommt, den die Robert Bosch Stiftung und die Heidehof Stiftung in Kooperation mit dem stern und dem ZDF erstmals verleihen. Das Plakat zu dem Wettbewerb hängt auf dem Flur, jemand hat stolz  darauf geschrieben: „Wir sind dabei!"

Der holländische Schulinspektor Johan van Bruggen gehört zur Experten-Jury, er hat die Grundschule im Sommer zwei Tage besucht. „Eine exzellente Schule entfacht bei ihren Schülern den Wunsch zu lernen", sagt er. „Sie hat nicht nur gute Absichten, sondern prüft kontinuierlich, ob sie diese Ziele auch erreicht." Die Dortmunder Grundschule ist bei allen sechs Kriterien Spitzenreiter: Leistung, Schulklima, Verantwortung, Unterrichtsqualität, Umgang mit Vielfalt und Schule als lernende Institution. „Von der Kleinen Kielstraße kann sich so manches Gymnasium etwas abgucken", sagt van Bruggen.

8.15 Uhr
Die Dumbos sitzen auf den Kisten vor der Tafel. Julia Herdramm legt den Finger an den Mund und hebt die andere Hand, ein Zeichen, das überall an der Schule gilt, wenn die Kinder zu laut werden. Alle sind sofort ruhig, nur Dzemil zappelt herum, der Siebenjährige wurde im Sommer eingeschult und hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. „Komm zu mir und setz dich neben mich", fordert ihn die Lehrerin auf, „dann kannst du besser zuhören."

Die Kinder lesen ihre Sätze vor, jeden Morgen schreiben sie einen in ihr Heft. „Wir haben das Thema Herbst" steht bei Anika, sie zeigt ihr Bild mit den gelben, roten, orangen und blauen Blättern, erklärt wie sie ein Blatt untergelegt und durchgepaust hat. In dieser Woche dreht sich in der E7 in Sachkunde, Deutsch und Mathe alles um den Herbst. Solche fächerübergreifenden Projekte sind typisch für die Kleine Kielstraße. Genauso wie die Lernwerkstatt, Unterricht in der Muttersprache, Tanz- und Theaterangebote. „Wir können den Kindern heute keinen Wissens-Rucksack mehr fürs ganze Leben schnüren", sagt Schulleiterin Schultebraucks. Deshalb sollen sie vor allem lernen zu lernen – mit allen Sinnen.

Alle Klassenzimmer sind gleich gestaltet: mit Sitzkreis, Lese-Ecke und Computer. Jedes Kind, jede Lehrerin findet sich sofort zurecht. Und jeder kann sehen, wie hier gearbeitet wird: Die Klassentür ist immer offen. In der Runde besprechen die Kinder, welche Früchte und Blätter sie gestern im Park gesammelt haben. „Woran erkennt man ein Kastanienblatt?" will Lehrerin Julia Herdramm wissen. Die siebenjährige Michelle, blonde lange Haare, hört mit offenem Mund zu, wie der ältere Samuel erklärt, dass es aussieht wie die Finger einer Hand. Anschließend gehen die Kinder zu den roten Ablagekörben. Sie nehmen sich ihr Arbeitsblatt und setzen sich an ihren Platz. Keiner rennt, keiner drängelt, sie arbeiten ruhig und konzentriert.

Die acht Erstklässler sollen Blätter und Früchte zuordnen, die 14 Zweitklässler außerdem noch die Bäume erkennen. Jedes Kind hat seinen auf ihn zugeschnittenen Wochenplan, jedes löst die Aufgaben in seinem Tempo. Wer mit Deutsch (rot) und Mathe (blau) fertig ist, darf sich aus der gelben Ablage ein Extrablatt nehmen und zum Beispiel ein Rätsel lösen. Am Ende der Woche reflektieren die Kinder in ihrem Lerntagebuch, was sie gelernt haben. Samuel schreibt: „Ich hab in der Sporthalle Seilchen gesprungen. ich habe rinde gesamel und ich war noch im Hoesch park ich käne jets die Eichel  und die Bucheke." Wer wie Michelle noch nicht schreiben kann, malt: ein Strichmännchen, ein Blatt, und sie schreibt das Wort „Maus". Ab der dritten Klasse werden die Kinder nach Jahrgängen aufgeteilt. Erst wenn sie so weit sind, werden sie versetzt: Die meisten nach zwei Jahren, einige kommen sogar schon nach einem Jahr in die dritte Klasse. Etwa 15 Prozent der Kinder bleiben drei Jahre in der Eingangsstufe.

10 Uhr
Nach dem Frühstück ist Flurlesen. Einmal im Monat können sich die Kinder auf dem bunt bemalten Gang von Plakaten einen Gutschein abreißen: etwa zehn Bücher werden angeboten, vom Bilderbuch bis zum Kinderkrimi. Mit ihrer Eintrittskarte gehen sie zu einer Lehrerin ins Klassenzimmer, die ihnen die Geschichte vorliest. Die Kinder genießen die halbe Stunde – viele kennen das nicht von zu Hause. „Lesen, lesen, lesen – das ist der Schlüssel zu Bildung", sagt Schulleiterin Gisela Schultebraucks. „Da oben", zeigt sie während der großen Pause auf dem Schulhof, „im zweiten Stock habe ich selbst mal als Schülerin gesessen, mit 55 Kindern in einer Klasse. Der Lehrer hat mich übers Knie gelegt, weil ich mich nach einem Radiergummi gebückt habe", erzählt sie. Heute sind Achtung und Respekt zentrale Merkmale an ihrer Schule. Die Kinder lernen, dass man Konflikte ohne Gewalt lösen kann. Dafür gibt es die Stopp-Regel: Wird ein Kind beschimpft oder geschlagen, sagt es: „Stopp!" Größere Streitereien werden aufgeschrieben und einmal in der Woche im Klassenrat diskutiert. Gisela Schultebraucks kennt jedes der 385 Kinder an ihrer Schule. „Wie kannst du dir bloß all unsere Namen merken?", wundert sich Lazaros aus der 4b. „Ganz einfach", sagt sie, „ihr wart doch alle bei mir zur Einschulung." Der Start in die Schule wird sorgsam vorbereitet: Bereits acht Monate vor Schulbeginn werden die zukünftigen Erstklässler eingeladen und getestet. Wer Probleme beim Sprechen, Zählen oder mit der Motorik hat, wird extra gefördert. 82 Prozent der Schüler hatten im vergangenen Jahr bei der Einschulung Defizite in Deutsch.

Auch bei der Elternarbeit leistet die Kleine Kielstraße viel mehr als normale Schulen. Jeden Tag hat das Elterncafé geöffnet. Dort bekommen die Mütter nicht nur Kaffee, sondern Computer-, Alphabetisierungs- und Sprachkurse und sogar eine Schuldnerberatung. „Wir wollen die Mütter stark machen für ihre Kinder", sagt die Schulleiterin. Mit den Eltern schließt sie einen Erziehungsvertrag ab, den beide unterschreiben.

11 Uhr
Im Elterncafé sitzen 14 Frauen, fünf tragen Kopftücher. Auf den Tischen liegen Grammatikhefte. Zwei Frauen üben den Besuch beim Arzt: „Ich habe Fieber, 40 Grad, ich huste", sagt die eine in schleppendem Deutsch. „Du brauchst Medizin", sagt die andere. „Stopp, was war falsch?" unterbricht die Kursleiterin. „Wir hier untereinander, wir können uns duzen, aber beim Arzt sagt man ,Sie‘."

Währenddessen sitzt Gisela Schultebraucks mit Ulrich Henning, dem Geschäftsführer der Landesentwicklungsgesellschaft (LEG), in ihrem Büro. Rund 300 Wohnungen besitzt die LEG im Hannibal. Aus dem Fenster blicken sie direkt auf die Siedlung. Vor elf Jahren haben sie einen Verein gegründet und krempeln seitdem das Viertel um. Auf dem ehemaligen Parkplatz haben sie einen Spielplatz gebaut, den Straßenstrich haben sie abgedrängt. Die LEG unterstützt die Schule und zahlt 9.000 Euro jährlich für das Elterncafé. Denn schließlich nützt es auch der Wohnungsgesellschaft, wenn die Frauen Deutsch können.

Gisela Schultebraucks nutzt jede Möglichkeit, jeden Kontakt für ihre Kinder, und sie nimmt an dem Modellprojekt „Selbständige Schule" teil. Dadurch hat sie mehr Freiheiten und eine halbe Lehrstelle zusätzlich. Anne Reimann, 55, arbeitet seit 30 Jahren mit ihr zusammen. „Sie war schon immer eine, die gesucht hat: Was kann man machen. Und sie war immer die Vorreiterin", erzählt die Lehrerin. „Sie hat ein unglaubliches Gefühl für Situationen und Menschen", sagt Julia Herdramm. „Sie hält uns den Rücken frei, damit wir guten Unterricht machen können", sagt Jan von der Gathen, 34, der einzige Mann unter 27 Lehrerinnen. Was sie will, das erreicht  Gisela Schultebraucks. Freundlich, aber sehr beharrlich. Sie selbst vergleicht sich mit ihrer Großmutter, die an einem großen alten Herd stand. „Sie rührte in dem einen Topf und drehte beim anderen noch ein bisschen die Flamme auf. So hielt sie alles am Kochen."

11.30 Uhr
Sami, 8, und Yasmina, 9, liegen entspannt auf einem warmen Wasserbett unter einem Baldachin. Ihre Hände haben sie auf dem Bauch gefaltet, an der Decke kreisen kleine, bunte Lichtkegel: erst rot, dann gelb, schließlich grün und blau, im Hintergrund läuft leise Entspannungsmusik. Die beiden Kinder atmen tief ein und aus. Unter Anleitung von Heidrun Selge gehen sie auf Traumreise, schweben in Gedanken auf einem Zauberteppich über den Wolken, landen im Wald und fi nden einen Schatz. Heidrun Selge ist Sonderschullehrerin, sie fördert an der Kleinen Kielstraße Kinder mit Lernschwächen. „Snoezeln" wird diese Form der Entspannung genannt, das Wort kommt aus dem Holländischen. Selbst ganz zappelige Kinder werden dabei ruhig.

13.30 Uhr
Die Schule ist vorbei, die meisten gehen nach Hause, knapp hundert Schüler bleiben zum Mittagessen. Anschließend machen sie Hausaufgaben und verbringen den Nachmittag mit Spielen, Werken in der Holzwerkstatt oder gehen zum Schwimmen.
Auch für die Lehrerinnen der Eingangsklassen ist die Schule noch nicht aus. Bei selbst gemachten Salaten, Keksen und Gummibären bereiten sie gemeinsam den Unterricht der nächsten Woche vor, Projekt-Thema ist der Bauernhof. Aus der Themenkiste suchen sie das Material vom letzen Jahr heraus, Spiele, Wortkarten und Bücher. Sie diskutieren, welche Tiere dran kommen und welche Satzteile neu eingeführt werden sollen: Verben oder Adjektive? So entsteht der Wochenplan mit einzelnen Lernschritten und Aufgaben. „Durch die Teamarbeit gewinnen wir Zeit", erklärt Julia Herdramm. Für Problemfälle und die individuelle Betreuung ihrer Schüler. Trotz ihres Engagements – überlastet oder gar ausgebrannt fühlt sich keine. 

16 Uhr
Die letzten Kinder trotten nach Hause. Hausmeister Olaf Stöhr schließt die Schule ab. „Manchmal tun mir unsere Kinder leid, wenn sie auf die weiterführende Schule kommen", sagt Lehrerin Anne Reimann. „Weil sie hier so gute Methoden kennen gelernt haben und dann wieder in Reih und Glied sitzen müssen." Dabei kann jede Schule so arbeiten wie die Kleine Kielstraße. Wenn es die Lehrer wollen. 

Catrin Boldebuck

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Dreißig Jahre lang ist es her, dass sich die Offene Schule Waldau auf den Weg gemacht hat. Inzwischen ist etwas passiert, und zwar so grundlegend, dass Kollegen aus ganz Deutschland nach Kassel-Waldau reisen, um zu erfahren, wie die wunderbare Wandlung der Gesamtschule gelang.

Erich Frohnapfel weiß, wie es aussieht, wenn eine Schule kurz vor dem Exodus steht. Der Englischlehrer hat erlebt, wie er und seine Kollegen sich einen Weg durch pöbelnde Schüler bahnen mussten, "die sich gegenseitig auf die Nasen hauten" und Anweisungen einfach ignorierten. "Ein grauenhafter Zustand!" Als Lehrerinnen weinend aus den Klassenzimmern kamen, war klar, "es musste ganz schnell was passieren."

Dreißig Jahre lang ist es her, dass sich die Offene Schule Waldau auf den Weg gemacht hat. Inzwischen ist etwas passiert, und zwar so grundlegend, dass Kollegen aus ganz Deutschland nach Kassel-Waldau reisen, um zu erfahren, wie die wunderbare Wandlung der Gesamtschule gelang. Denn noch immer ist Waldau ein Problemviertel, eine Plattenbausiedlung mit vielen Sozialfällen unter den Bewohnern und fünfzig Prozent Migranten. Dennoch kann sich Schulleiterin Bärbel Buchfeld vor Bewerbungen aus anderen Stadtteilen kaum retten. Um die 150 Plätze für Fünftklässler konkurrierten zuletzt mehr als doppelt so viele Bewerber, viele davon mit einer Gymnasialempfehlung. Die Eltern nehmen in Kauf, dass ihre Kinder bis Klasse zehn mit Kindern unterrichtet werden, die nur Empfehlungen für die Haupt- oder Realschule mitbringen. "Die Rückgewinnung der pädagogischen Vernunft", so nennen die Lehrer an der Waldau-Schule ihr Konzept. Es begann mit der Einsicht, dass in ihrem Fall kleine Korrekturen nicht reichen würden. Sie schauten sich vorbildliche Schulen in Göttingen und Köln, Bielefeld und Hamburg an und lernten: Eine gute Schule ist eine überschaubare und persönliche Schule.

Frohnapfel und seine Kollegen lösten die alte Schulorganisation auf und machten aus einem Massenbetrieb mit über tausend Kindern sechs kleine Einheiten: Jeweils zwölf Lehrer unterrichten eine Jahrgangsstufe mit etwa 150 Kindern von Klasse fünf bis Klasse zehn – ohne Unterbrechung. Das sorgt für Kontinuität bei Schülern und Lehrern. Jede der sechs "Minischulen" hat ein eigenes Lehrerzimmer. Das erspart hektische Rennerei in den Pausen und bringt die Kollegen zusammen. "Hier ist man nicht nur ein Fachlehrer", erzählt Junglehrerin Andrea Kaluschke in dem gemütlichen Raum mit weißer Sitzecke. Das Team ist auch "Familie." Zu ihrem Einstand in ihrer neuen Wohnung hat Andrea Kaluschke alle Kollegen eingeladen.

Die Lehrer im Zwölferteam sind nicht nur für den eigenen Unterricht verantwortlich, sondern auch für das, was im Klassenzimmer nebenan passiert. Alle Lehrer kennen alle Kinder eines Jahrgangs. Keine Unterrichtsstunde darf ausfallen. Ist ein Kollege krank, regeln sie untereinander, wer ihn vertritt. Jede Klasse hat zwei Klassenlehrer – das Kernstück der Schulreform. Junglehrerin Andrea Kaluschke unterrichtet mit Erich Frohnapfel die Klasse 6 C im Wechsel. Die beiden Pädagogen werden unterstützt von Sozialpädagogen und Psychologen und tauschen sich jeden Tag über ihre Schüler aus. "Vieles kann man schon riechen, wenn man morgens zur Tür herein kommt," sagt sie. Nein, was sie machten, sei keine Kuschelpädagogik. "Wir sind auch mal streng," stellt Erich Frohnapfel klar. "Wenn sich einer wie in Dreckbacken benommen hat, dann muss man es ihm auch sagen."

Die Arbeit im Tandem hat sich bewährt, besonders in Klasse fünf und sechs. "Ein Blick reicht manchmal schon, um zu wissen, was der andere denkt", sagt Deutschlehrerin Martina Moritz über ihren Kollegen Klaus Siebrecht. Auch die Kinder finden die Doppelbesetzung – immer Mann und Frau – gut. "Wenn man mit dem einen Streit hat, kann man mit dem anderen sprechen", sagt Zabi. Schon kurz nach der Einschulung fahren die Kinder eine Woche mit ihren Lehrern ins Schullandheim, um sich besser kennen zu lernen. Danach folgt ein Hausbesuch der beiden Klassenlehrer bei jedem Kind. Der liefert bei Börek oder Kuchen wertvolle Einblicke. "Wir wissen, in welchen Kinderzimmern ein Fernseher steht, ob Väter nur selten auftauchen oder Alkoholiker sind," sagt Schulleiterin Bärbel Buchfeld. Fast immer beginnt mit dem Hausbesuch ein direkter Draht zu den Eltern, die sich vertraglich verpflichten müssen, ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen. Jedes halbe Jahr treffen sich die beiden Klassenlehrer mit Eltern und Kind zum Erziehunsgespräch und besprechen, welche Fortschritte das Kind gemacht hat. "Wir stecken ganz viel Kraft in die ersten Jahrgänge," sagt Deutschlehrerin Moritz. "Das ist Arbeit, aber die zahlt sich aus." Natürlich gibt es dennoch immer wieder Zoff im Klassenzimmer. "Wir haben hier eine harte Klientel," so die Lehrerin. Wenn beispielsweise ein Schüler seine Mitschülerin "Hure" schimpfe, "wird der Unterricht sofort unterbrochen. Die Klasse entscheidet daraufhin,wie die Beleidigung wieder gut zu machen ist." Zum Beispiel, indem der Missetäter den Kehrdienst für das Mädchen übernimmt.

Im Klassenrat lernen die Kinder, die Rechte des anderen zu respektieren, sie werden zu Co-Erziehern auch auf dem Schulhof. "Es soll sich doch kein Lehrer vormachen, dass er alles im Griff hat – die schlimmsten Sachen laufen außerhalb des Klassenzimmers", weiß Martina Moritz.
Klartext redet Martina Moritz auch mit Eltern. Als sich ein türkischer Vater weigerte, ihr die Hand zu geben und mit ihr über seine Tochter zu reden, die er nicht auf die Klassenfahrt schicken wollte, wurde die Pädagogin laut. In einem demokratischen Land habe er mit ihr zu reden. Das tat er dann auch. Und die Tochter durfte mitfahren. Die Mischung aus Konsequenz und Kümmern zeigt Erfolg. Siebzig Prozent aller Schüler der Offenen Schule Kassel-Waldau schaffen den Sprung auf eine weiterführende Schule, beispielsweise das Gymnasium – und immerhin 68 Prozent der Migrantenkinder, drei mal mehr als im übrigen Hessen.
Doch damit wollen sich die Lehrer nicht zufrieden geben. Auch eine gute Schule müsse ständig dazu lernen, betont Erich Frohnapfel. "Nächste Woche fahren wir nach Hamburg- Bergedorf und schauen uns an, wie die das in Klasse neun und zehn machen. Zum Abgucken waren wir uns nie zu fein."

Ingrid Eißele

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An der Max-Brauer-Schule lernen die Grundschüler seit zwanzig Jahren in einem ihnen gemäßen Lerntempo. Für die älteren Schüler wurde die Profiloberstufe eingeführt. Die Schüler wählen nicht mehr einzelne Kurse, sondern Fächerpakete, zum Beispiel „Sprache und Kultur“.

Die Schule ist eine Baustelle: Im Klassenraum der 6b stehen rot-weiße Warnschilder, an einigen selbst gezimmerten Latten hängen Bauhelme. Symbole – denn nicht das Gebäude der Max-Brauer-Gesamtschule wird umgebaut, sondern der Unterricht: In der fünften und sechsten Klasse gibt es keine Einteilung in Fächer mehr, keine Hausaufgaben, keine Klassenarbeiten und keine Zensuren.

„Wir lernen hier im Lernbüro“, erklärt Niclas. Der Elfjährige arbeitet an seinem Naturtagebuch. Zusammen mit Marcell hat er tagelang Mehlwürmer beobachtet. Die beiden Jungs wollen wissen: Wie verhalten sie sich? Was fressen die? „Sie verteilen sich und kommen zusammen, wenn es dunkel wird“, sagt Niclas. Die braunen Würmer ernähren sich vor allem von Holz, aber am liebsten mögen sie Haferflocken. „Sie haben keine Wirbel und sind ungefähr so eiweißhaltig wie Scampis“, erklärt er. Zwei Tische weiter schreibt Johnny einen Vortrag über das physikalische Phänomen des Auftriebs, Jakob arbeitet am Computer in der Leseecke.

Was die Schüler in Mathe, Deutsch oder Englisch lernen, entscheiden sie selbst. Dazu stellt Klassenlehrerin Inge Feddersen mit jedem ihrer 23 Schüler einen Wochenplan auf. Zu Beginn des „Lernbüros“ besprechen sie, woran sie heute arbeiten wollen und tragen es in ihr „Blaues Buch“ ein. Hannah hat sich vorgenommen: „Ich will mit Özgen in die Pausenhalle gehen und Englisch machen.“ Die beiden Mädchen wollen Text-Aufgaben im Englisch-Workbook lösen und Vokabeln lernen. In der Pausenhalle können sie ungestört miteinander reden, denn im Lernbüro darf nur geflüstert werden.

Inge Feddersen sitzt vorn am Pult und spricht leise mit Sophie. Die Elfjährige hat zu Beginn der Stunde ihr Namensschild an die Tafel geheftet, das heißt, dass sie etwas mit ihrer Lehrerin besprechen möchte. „Bei dieser Art von Unterricht lerne ich meine Schüler viel besser kennen, das genieße ich sehr“, sagt Inge Feddersen, 56. Denn sie hat Zeit für jeden einzelnen. Der Unterricht endet nicht mehr automatisch nach 45 Minuten, und die Schule geht bis 16 Uhr. „Ich finde es gut, dass die Lehrer an unserer Schule nicht so unter Zeitdruck stehen“, sagt die elfjährige Nele. „Und ich merke gar nicht, wie schnell der Tag vergeht, weil es so viel Spaß macht.“

Früher wusste Inge Feddersen nicht, wie viel von dem Stoff bei ihren Schülern ankommt, heute sieht sie es genau. Ihre Fortschritte werden auf „Kompetenzrastern“ festgehalten, die auf den Lehrplänen für Mathe, Deutsch und Englisch basieren. Auf den Zetteln, die am Platz eines jeden Schülers hängen, ist im Detail beschrieben, was er oder sie im Laufe eines Schuljahres lernen soll. Bei Mathe steht zum Beispiel: „Ich kenne die Maßeinheit der Fläche und kann rechteckige und daraus zusammengesetzte Flächeninhalte berechnen.“ In Deutsch heißt ein Ziel für Grammatik: „Ich kenne die grundlegenden Bestandteile eines Satzes. Ich kenne Konjunktionen und kann mit ihnen einfache Satzgefüge bilden.“ Für erledigte Aufgaben gibt es einen grünen Punkt. Ist das Feld abgearbeitet, schreibt der Schüler einen Test und bekommt einen dicken roten Punkt. Lehrerin Feddersen achtet darauf, dass die Schüler kein Fach vernachlässigen.

Hannah hat viele Punkte in Deutsch, aber noch einige leere Felder in Mathe. Deshalb hat sie in ihr „Blaues Buch“ als Wochenziel geschrieben: „Ich will das Umwandeln von den Maßen lernen.“ Bei Inge Feddersen hat sie einen so genannten „runden Tisch“ beantragt: Gemeinsam mit vier bis fünf Mitschülern möchte Hannah die Umrechnung von Dezimetern in Meter wiederholen. „Einige Kinder arbeiten jetzt noch Teile des Stoffs aus der fünften Klasse auf, andere zum Teil schon in Bereichen für die siebte Klasse“, erklärt die Lehrerin.

An der Max-Brauer-Schule sollen die Schüler von der ersten Klasse an Verantwortung für ihr Lernen übernehmen. „Wir haben uns vor langer Zeit vom Gleichschritt verabschiedet“, sagt Schulleiterin Barbara Riekmann, 57. An der Max-Brauer-Schule lernen die Grundschüler seit zwanzig Jahren in einem ihnen gemäßen Lerntempo. Für die älteren Schüler wurde die Profiloberstufe eingeführt. Die Schüler wählen nicht mehr einzelne Kurse, sondern Fächerpakete, zum Beispiel „Sprache und Kultur“. Dazu belegen sie Leistungskurse in Englisch und Geschichte, außerdem Grundkurse in Musik und Religion. Die vier Fachlehrer richten ihren Unterricht auf ein Oberthema pro Semester aus, zum Beispiel „Jugendwelten“.

Nach und nach sollen alle Stufen bis Klasse zehn so lernen wie die 6b: im Lernbüro (zehn Stunden pro Woche), in Projekten (zwölf Stunden) und Werkstätten (acht Stunden). Während der Werkstattzeit sollen die Schüler selbst forschen und praxisorientiert lernen, zum Beispiel ein Blasinstrument, sie können auch Theater spielen oder in Chemie experimentieren.

Seit sechs Wochen arbeitet die Klasse 6b an ihrem Projekt über die Elbinsel Pagensand. Das Thema zieht sich durch alle Fächer. Grundlage ist das Jugendbuch von Uwe Timm: „Der Schatz auf Pagensand“. In Kunst basteln die Schüler Strandcollagen, in Physik lernen sie den Umgang mit dem Kompass, Sternzeichen und nautische Grundbegriffe, und in Biologie die Fische in der Elbe kennen. Die Max-Brauer-Schule liegt in Hamburg-Altona, nicht die allerbeste Adresse für Hanseaten: ein Stadtteil mit vielen Ausländern und Arbeitslosen. Für 26 Prozent der 1219 Schüler ist Deutsch nicht die Muttersprache. Hier sitzt eine Arzttochter neben dem Sohn eines Flüchtlings. In der 6b haben acht von 23 Kindern Eltern, die nicht aus Deutschland stammen. Schulleiterin Barbara Riekmann findet das gut: „Diese Vielfalt ist eine Bereicherung.“

Özgen und Hannah stecken die Köpfe zusammen – ein schwarzer und blonder. Seit einer halben Stunde sitzen sie allein in einer Nische der Pausenhalle. Während sie über den Aufgaben im englischen Workbook brüten und darüber, was „Ich suche“ heißt, scheppert es. Wagen mit großen, heißen Schüsseln werden durch die Halle gefahren, das Küchen personal ruft sich Kommandos zu – gleich gibt es Mittagessen. Die beiden Mädchen lassen sich davon nicht stören. Özgen hat die richtige Seite mit den Vokabeln gefunden: „to look for“, heißt „suchen nach“. „Looking forward“, bedeutet, „sich auf etwas freuen“, liest sie weiter.

Die ganze Schule freut sich auf die Verleihung des Deutschen Schulpreises. „Der Preis ist eine Anerkennung für unsere Arbeit. Wir sind stolz darauf, unter den ersten fünf zu sein“, sagt Schulleiterin Riekmann. Und mit den 10.000 Euro Preisgeld kann sie ihre Schule weiter umbauen.

Ingrid Eißele

Porträt

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Die Jenaplan-Schule besteht aus fliegenden Klassenzimmern. Überall darf gearbeitet werden – auf dem Flur, im Treppenhaus, in der Bibliothek, im Schülercafé, auf dem Schulhof. Selbst das Lehrerzimmer ist nicht Tabu.

Die Stunde hat längst begonnen, doch im Treppenhaus unterhalten sich noch zwei Schüler. Vincent, 10, und Jonas, 11, lassen sich auch nicht stören, als Schulleiterin Gisela John vorbei kommt. „Die Feinde der Quallen sind die Fische", sagt Jonas mit lauter Stimme. „Von den Quallen gibt es zehntausend Arten auf der Erde", entgegnet Vincent. Gisela John drückt sich behutsam an den Jungs vorbei, die ihr Referat üben.

Die Jenaplan-Schule besteht aus fliegenden Klassenzimmern. Überall darf gearbeitet werden – auf dem Flur, im Treppenhaus, in der Bibliothek, im Schülercafé, auf dem Schulhof. Selbst das Lehrerzimmer ist nicht Tabu. Paula, Judith und Laura aus Klasse zwölf raffen ein paar Blätter mit Rilke-Gedichten zusammen und schlendern über den Schulhof ins Atrium, um bei Keksen und Wasser über eigenen Entwürfen zu grübeln. Jede soll elf Gedichte in verschiedenen Formen schreiben. „Auch du lernst fliegen, sprach die Motte, und flog in die Kerze," witzelt Laura. Judith will ungestört nachdenken und spaziert durch das nahe Wäldchen.
Solche Freiheiten verlangen ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Disziplin, das von klein auf geübt wird. „Die Kinder kommen schon mit drei Jahren zu uns in den Kindergarten und wachsen in die Schule hinein", erklärt Gisela John. Die Gesamtschule orientiert sich am Konzept des Reformpädagogen Peter Petersen. Sein „Jenaplan" verlangt eine menschliche Schule, in der alle Kinder gemeinsam und selbstständig lernen statt „Papageienwissen" zu pauken. Doch in der DDR stand die Lehre des Bauernsohns, der 1952 in Jena starb, als „gefährliches Überbleibsel Jenaplan-Schule, Jena Preisträger der Weimarer Republik" auf dem Index. Wie modern diese Prinzipien sind, entdeckten John und ihre Kollegen „in der Zeit der Narrenfreiheit" nach der Wende, als eine Bürgerinitiative aus Lehrern und Eltern eine „ganz andere Schule" schaffen wollte. Eine Schule, die viele eherne Prinzipien stürzte, darunter das Lernen in 45-Minuten-Einheit, Frontalunterricht und Pausenglocken. „Man weiß doch, wann die Stunde zu  Ende ist", sagt Gisela John.

Die wichtigste Änderung ist auf den ersten Blick gar nicht erkennbar. Jakob, Johannes und Felix teilen sich an diesem Morgen einen Doppeltisch im Klassenzimmer der „Wölfe" der 6 B. Das Thema heißt Ägypten. Johannes schreibt die Geschichte des Tutenchamun auf. Felix versetzt sich in die Perspektive der Menschen von damals. „Hallo, ich bin ein Schreiber des Pharao." Jakob malt einen Löwen. Jakob besucht Klasse vier, Felix Klasse fünf, Johannes Klasse sechs. In Jena arbeiten Schüler verschiedener Altersstufen zusammen, immer drei Klassenstufen gemeinsam. „Da lernt man die anderen kennen", sagt Viertklässler Leonhard, der mit Florian und Michael aus der Sechsten Urzeittierchen erforscht. Michael findet, dass die Kleinen oft ganz nützlich sind. „Die wissen manchmal auch was." – „Weil wir besser aufgepasst haben", grinst Leonhard.
Ältere Schüler werden zu Helfern der Jüngeren – und umgekehrt. Constantin ist 19 und sitzt in Klasse acht zwischen Zwölf- bis Vierzehnjährigen. Seit fünf Jahhen hat er keine richtige Schule mehr besucht. In seiner ehemaligen Schule wurden Mitschüler in der Klasse gemobbt. Der sensible Junge reagierte darauf mit einem Waschzwang, der so stark wurde, dass seine Hände bluteten. Als ihn auch noch Angstzustände plagten, musste er in die Kinderpsychiatrie, „total Scheiße" sei diese Zeit gewesen. Seit August besucht er die Jenaer Schule, anfangs noch „voller Ängste, dass ich es nicht schaffe." Doch der Unterricht lenke ihn von seinen Zwangsgedanken ab, die Mitschüler findet er so okay, dass er ihnen demnächst seine Geschichte erzählen will, die er mit einem Wunsch überschrieben hat: „Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich." „Ihr habt doch nur ausgewählte Kinder!", bekommt Gisela John immer wieder zu hören. Doch das sei falsch, „wir sind die Nummer eins in Jena für Kinder, die anderswo gescheitert sind." Der Ehrgeiz der Schule: Jedes Kind zu einem Abschluss zu führen, und sei es noch so schwierig.

Dabei helfe vor allem, dass alle gemeinsam lernen. „Wenn sich Kinder gegenseitig helfen, gibt es keine Besten und Schlechtesten," erklärt die Schulleiterin. Der Lehrer wird zum Regisseur, „er schafft Situationen, in denen das Kind selbstständig arbeiten kann, hat aber auch Zeit, um sofort zu erkennen, welches Kind Hilfe braucht." Diese Art des Unterrichtens, einen Schritt zurückzutreten, „nicht allwissend zu sein", habe sie und ihre Kollegen „unendlich glücklich gemacht." Lehrerin Yvette Tschiedel musste sich erst an die Anordnung der Stühle gewöhnen, im Kreis statt frontal. Sie kam von einem Gymnasium und war verblüfft, wie selbstbewusst die Jenaplan-Schüler auftraten. „Ich fragte sie, nach welchem Lehrbuch arbeitet ihr – da fragten sie, wieso Lehrbuch? Wir machen lieber was anderes.‘ Ich sagte mir, na Donnerwetter, das kann ja heiter werden!" Yvette Tschiedel freundete sich schnell mit dem neuen Stil an. Das gelinge nicht jedem Lehrer, sagt Schulleiterin John. „Wenn einer bloß von der Tafel abschreiben lässt, dann wird das nichts." Aber auch nicht, wenn ein Lehrer seine Schüler unterfordert. Leistung sei wichtig. Jedes Halbjahr bekommen die Schüler Zeugnisse, die ausführlich auf ihre Leistungen eingehen. Noten gibt es erst ab Klasse sieben. „Viele Reformschulen sind nicht an den Auflagen der Ministerien gescheitert", glaubt Gisela John, „sondern an falschen Vorstellungen, was Kinder brauchen."

Ingrid Eißele