Porträt
Lange bevor die meisten Schulen an derlei dachten, hat die Grundschule Kleine Kielstraße ein Leitbild entwickelt. Die Ziele gelten bis heute: Zukunftsorientiertes Lernen, professionelle Zusammenarbeit im Kollegium, Elternarbeit, ganztägige Betreuung und Öffnung zum Stadtteil.
7.45 Uhr
Julia Herdramm wartet schon. Sie prüft, ob in den roten, blauen und gelben Ablagen alle Arbeitsblätter bereit liegen. Die 32-Jährige ist die Klassenlehrerin der „Dumbos", eine der acht Eingangsklassen, in die Erst- und Zweitklässler an der Grundschule Kleine Kielstraße gemeinsam gehen. Die Tafel hat sie mit bunten Blättern bemalt, davor ist ein Sitzkreis aus Holztruhen aufgebaut, in der Mitte stehen Schalen mit Kastanien, Bucheckern und Eicheln. Nach und nach kommen 25 Jungen und Mädchen herein.
Anika, acht Jahre, strubbelige dunkle Haare, packt Zettel und Buntstifte aus und fängt an zu malen, Nikos mit Playboy-Ohrstecker greift sich ein paar Kastanien, bohrt Löcher hinein und bastelt Giraff en, Ahmed verzieht sich mit einem Buch in die Leseecke aufs Sofa. Julia Herdramm geht zu Samuel, der verschlafen am Tisch sitzt. Sie streicht ihm über den Rücken und fragt: „Wie geht es dir?" Und dann fordert sie ihn auf: „Hast du deinen Satz schon geschrieben?" Eine halbe Stunde haben die Kinder Zeit anzukommen, bevor der Unterricht beginnt. „Viele Kinder haben von zu Hause keinen festen Rhythmus. Sie brauchen die Rituale in der Schule", sagt die blonde Lehrerin.
Die Grundschule Kleine Kielstraße liegt im Norden von Dortmund. Das vierstöckige, hundert Jahre alte Schulgebäude ist umschlossen von einer Hochhaus-Siedlung aus den 70er Jahren, dem „Hannibal". Fast tausend Menschen aus 30 Nationen leben hier. Viele haben Satellitenschüsseln auf ihren Balkons installiert, in einem Fenster hängt eine Deutschland-Flagge mit der Aufschrift „Pit Bull". 83 Prozent der Kinder, die in die Kleine Kielstraße gehen, sind Kinder mit Migrationshintergrund. Die meisten stammen aus der Türkei oder Griechenland. Ein Großteil der Eltern lebt von Arbeitslosengeld, viele Kinder wachsen ohne Vater auf. Es gibt Kinder, die kommen ohne Frühstück zur Schule, einige tragen im Winter noch Sandalen, etliche sprechen kaum Deutsch. Manche haben Krieg erlebt. „Klar möchte man solche Kinder am liebsten mit nach Hause nehmen", sagt Julia Herdramm, „aber ich bin keine Sozialarbeiterin, wir machen hier Schule!"
Schulleiterin Gisela Schultebraucks-Burgkart sagt: „Diese Kinder haben nur eine Chance: Bildung." Die 54-Jährige ist seit 33 Jahren im Schuldienst, immer in sozialen Brennpunkten. „Wenn die Probleme zu groß werden, dann hindern sie die Kinder am Lernen", beobachtet sie. Daher hat sie, als die Schule 1994 gegründet wurde, nicht mit den Kollegen diskutiert: „Welche Bücher schaffen wir an?", sondern: „Was für eine Schule wollen wir?" Lange bevor die meisten Schulen an derlei dachten, hat die Grundschule Kleine Kielstraße ein Leitbild entwickelt. Die Ziele gelten bis heute: Zukunftsorientiertes Lernen, professionelle Zusammenarbeit im Kollegium, Elternarbeit, ganztägige Betreuung und Öffnung zum Stadtteil.
Ihre Arbeit macht die Grundschule so gut, dass sie in diesem Jahr den Deutschen Schulpreis bekommt, den die Robert Bosch Stiftung und die Heidehof Stiftung in Kooperation mit dem stern und dem ZDF erstmals verleihen. Das Plakat zu dem Wettbewerb hängt auf dem Flur, jemand hat stolz darauf geschrieben: „Wir sind dabei!"
Der holländische Schulinspektor Johan van Bruggen gehört zur Experten-Jury, er hat die Grundschule im Sommer zwei Tage besucht. „Eine exzellente Schule entfacht bei ihren Schülern den Wunsch zu lernen", sagt er. „Sie hat nicht nur gute Absichten, sondern prüft kontinuierlich, ob sie diese Ziele auch erreicht." Die Dortmunder Grundschule ist bei allen sechs Kriterien Spitzenreiter: Leistung, Schulklima, Verantwortung, Unterrichtsqualität, Umgang mit Vielfalt und Schule als lernende Institution. „Von der Kleinen Kielstraße kann sich so manches Gymnasium etwas abgucken", sagt van Bruggen.
8.15 Uhr
Die Dumbos sitzen auf den Kisten vor der Tafel. Julia Herdramm legt den Finger an den Mund und hebt die andere Hand, ein Zeichen, das überall an der Schule gilt, wenn die Kinder zu laut werden. Alle sind sofort ruhig, nur Dzemil zappelt herum, der Siebenjährige wurde im Sommer eingeschult und hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. „Komm zu mir und setz dich neben mich", fordert ihn die Lehrerin auf, „dann kannst du besser zuhören."
Die Kinder lesen ihre Sätze vor, jeden Morgen schreiben sie einen in ihr Heft. „Wir haben das Thema Herbst" steht bei Anika, sie zeigt ihr Bild mit den gelben, roten, orangen und blauen Blättern, erklärt wie sie ein Blatt untergelegt und durchgepaust hat. In dieser Woche dreht sich in der E7 in Sachkunde, Deutsch und Mathe alles um den Herbst. Solche fächerübergreifenden Projekte sind typisch für die Kleine Kielstraße. Genauso wie die Lernwerkstatt, Unterricht in der Muttersprache, Tanz- und Theaterangebote. „Wir können den Kindern heute keinen Wissens-Rucksack mehr fürs ganze Leben schnüren", sagt Schulleiterin Schultebraucks. Deshalb sollen sie vor allem lernen zu lernen – mit allen Sinnen.
Alle Klassenzimmer sind gleich gestaltet: mit Sitzkreis, Lese-Ecke und Computer. Jedes Kind, jede Lehrerin findet sich sofort zurecht. Und jeder kann sehen, wie hier gearbeitet wird: Die Klassentür ist immer offen. In der Runde besprechen die Kinder, welche Früchte und Blätter sie gestern im Park gesammelt haben. „Woran erkennt man ein Kastanienblatt?" will Lehrerin Julia Herdramm wissen. Die siebenjährige Michelle, blonde lange Haare, hört mit offenem Mund zu, wie der ältere Samuel erklärt, dass es aussieht wie die Finger einer Hand. Anschließend gehen die Kinder zu den roten Ablagekörben. Sie nehmen sich ihr Arbeitsblatt und setzen sich an ihren Platz. Keiner rennt, keiner drängelt, sie arbeiten ruhig und konzentriert.
Die acht Erstklässler sollen Blätter und Früchte zuordnen, die 14 Zweitklässler außerdem noch die Bäume erkennen. Jedes Kind hat seinen auf ihn zugeschnittenen Wochenplan, jedes löst die Aufgaben in seinem Tempo. Wer mit Deutsch (rot) und Mathe (blau) fertig ist, darf sich aus der gelben Ablage ein Extrablatt nehmen und zum Beispiel ein Rätsel lösen. Am Ende der Woche reflektieren die Kinder in ihrem Lerntagebuch, was sie gelernt haben. Samuel schreibt: „Ich hab in der Sporthalle Seilchen gesprungen. ich habe rinde gesamel und ich war noch im Hoesch park ich käne jets die Eichel und die Bucheke." Wer wie Michelle noch nicht schreiben kann, malt: ein Strichmännchen, ein Blatt, und sie schreibt das Wort „Maus". Ab der dritten Klasse werden die Kinder nach Jahrgängen aufgeteilt. Erst wenn sie so weit sind, werden sie versetzt: Die meisten nach zwei Jahren, einige kommen sogar schon nach einem Jahr in die dritte Klasse. Etwa 15 Prozent der Kinder bleiben drei Jahre in der Eingangsstufe.
10 Uhr
Nach dem Frühstück ist Flurlesen. Einmal im Monat können sich die Kinder auf dem bunt bemalten Gang von Plakaten einen Gutschein abreißen: etwa zehn Bücher werden angeboten, vom Bilderbuch bis zum Kinderkrimi. Mit ihrer Eintrittskarte gehen sie zu einer Lehrerin ins Klassenzimmer, die ihnen die Geschichte vorliest. Die Kinder genießen die halbe Stunde – viele kennen das nicht von zu Hause. „Lesen, lesen, lesen – das ist der Schlüssel zu Bildung", sagt Schulleiterin Gisela Schultebraucks. „Da oben", zeigt sie während der großen Pause auf dem Schulhof, „im zweiten Stock habe ich selbst mal als Schülerin gesessen, mit 55 Kindern in einer Klasse. Der Lehrer hat mich übers Knie gelegt, weil ich mich nach einem Radiergummi gebückt habe", erzählt sie. Heute sind Achtung und Respekt zentrale Merkmale an ihrer Schule. Die Kinder lernen, dass man Konflikte ohne Gewalt lösen kann. Dafür gibt es die Stopp-Regel: Wird ein Kind beschimpft oder geschlagen, sagt es: „Stopp!" Größere Streitereien werden aufgeschrieben und einmal in der Woche im Klassenrat diskutiert. Gisela Schultebraucks kennt jedes der 385 Kinder an ihrer Schule. „Wie kannst du dir bloß all unsere Namen merken?", wundert sich Lazaros aus der 4b. „Ganz einfach", sagt sie, „ihr wart doch alle bei mir zur Einschulung." Der Start in die Schule wird sorgsam vorbereitet: Bereits acht Monate vor Schulbeginn werden die zukünftigen Erstklässler eingeladen und getestet. Wer Probleme beim Sprechen, Zählen oder mit der Motorik hat, wird extra gefördert. 82 Prozent der Schüler hatten im vergangenen Jahr bei der Einschulung Defizite in Deutsch.
Auch bei der Elternarbeit leistet die Kleine Kielstraße viel mehr als normale Schulen. Jeden Tag hat das Elterncafé geöffnet. Dort bekommen die Mütter nicht nur Kaffee, sondern Computer-, Alphabetisierungs- und Sprachkurse und sogar eine Schuldnerberatung. „Wir wollen die Mütter stark machen für ihre Kinder", sagt die Schulleiterin. Mit den Eltern schließt sie einen Erziehungsvertrag ab, den beide unterschreiben.
11 Uhr
Im Elterncafé sitzen 14 Frauen, fünf tragen Kopftücher. Auf den Tischen liegen Grammatikhefte. Zwei Frauen üben den Besuch beim Arzt: „Ich habe Fieber, 40 Grad, ich huste", sagt die eine in schleppendem Deutsch. „Du brauchst Medizin", sagt die andere. „Stopp, was war falsch?" unterbricht die Kursleiterin. „Wir hier untereinander, wir können uns duzen, aber beim Arzt sagt man ,Sie‘."
Währenddessen sitzt Gisela Schultebraucks mit Ulrich Henning, dem Geschäftsführer der Landesentwicklungsgesellschaft (LEG), in ihrem Büro. Rund 300 Wohnungen besitzt die LEG im Hannibal. Aus dem Fenster blicken sie direkt auf die Siedlung. Vor elf Jahren haben sie einen Verein gegründet und krempeln seitdem das Viertel um. Auf dem ehemaligen Parkplatz haben sie einen Spielplatz gebaut, den Straßenstrich haben sie abgedrängt. Die LEG unterstützt die Schule und zahlt 9.000 Euro jährlich für das Elterncafé. Denn schließlich nützt es auch der Wohnungsgesellschaft, wenn die Frauen Deutsch können.
Gisela Schultebraucks nutzt jede Möglichkeit, jeden Kontakt für ihre Kinder, und sie nimmt an dem Modellprojekt „Selbständige Schule" teil. Dadurch hat sie mehr Freiheiten und eine halbe Lehrstelle zusätzlich. Anne Reimann, 55, arbeitet seit 30 Jahren mit ihr zusammen. „Sie war schon immer eine, die gesucht hat: Was kann man machen. Und sie war immer die Vorreiterin", erzählt die Lehrerin. „Sie hat ein unglaubliches Gefühl für Situationen und Menschen", sagt Julia Herdramm. „Sie hält uns den Rücken frei, damit wir guten Unterricht machen können", sagt Jan von der Gathen, 34, der einzige Mann unter 27 Lehrerinnen. Was sie will, das erreicht Gisela Schultebraucks. Freundlich, aber sehr beharrlich. Sie selbst vergleicht sich mit ihrer Großmutter, die an einem großen alten Herd stand. „Sie rührte in dem einen Topf und drehte beim anderen noch ein bisschen die Flamme auf. So hielt sie alles am Kochen."
11.30 Uhr
Sami, 8, und Yasmina, 9, liegen entspannt auf einem warmen Wasserbett unter einem Baldachin. Ihre Hände haben sie auf dem Bauch gefaltet, an der Decke kreisen kleine, bunte Lichtkegel: erst rot, dann gelb, schließlich grün und blau, im Hintergrund läuft leise Entspannungsmusik. Die beiden Kinder atmen tief ein und aus. Unter Anleitung von Heidrun Selge gehen sie auf Traumreise, schweben in Gedanken auf einem Zauberteppich über den Wolken, landen im Wald und fi nden einen Schatz. Heidrun Selge ist Sonderschullehrerin, sie fördert an der Kleinen Kielstraße Kinder mit Lernschwächen. „Snoezeln" wird diese Form der Entspannung genannt, das Wort kommt aus dem Holländischen. Selbst ganz zappelige Kinder werden dabei ruhig.
13.30 Uhr
Die Schule ist vorbei, die meisten gehen nach Hause, knapp hundert Schüler bleiben zum Mittagessen. Anschließend machen sie Hausaufgaben und verbringen den Nachmittag mit Spielen, Werken in der Holzwerkstatt oder gehen zum Schwimmen.
Auch für die Lehrerinnen der Eingangsklassen ist die Schule noch nicht aus. Bei selbst gemachten Salaten, Keksen und Gummibären bereiten sie gemeinsam den Unterricht der nächsten Woche vor, Projekt-Thema ist der Bauernhof. Aus der Themenkiste suchen sie das Material vom letzen Jahr heraus, Spiele, Wortkarten und Bücher. Sie diskutieren, welche Tiere dran kommen und welche Satzteile neu eingeführt werden sollen: Verben oder Adjektive? So entsteht der Wochenplan mit einzelnen Lernschritten und Aufgaben. „Durch die Teamarbeit gewinnen wir Zeit", erklärt Julia Herdramm. Für Problemfälle und die individuelle Betreuung ihrer Schüler. Trotz ihres Engagements – überlastet oder gar ausgebrannt fühlt sich keine.
16 Uhr
Die letzten Kinder trotten nach Hause. Hausmeister Olaf Stöhr schließt die Schule ab. „Manchmal tun mir unsere Kinder leid, wenn sie auf die weiterführende Schule kommen", sagt Lehrerin Anne Reimann. „Weil sie hier so gute Methoden kennen gelernt haben und dann wieder in Reih und Glied sitzen müssen." Dabei kann jede Schule so arbeiten wie die Kleine Kielstraße. Wenn es die Lehrer wollen.
Catrin Boldebuck