Kurzporträt der August-Claas-Schule in Harsewinkel, Preisträger 2012.

Porträt

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Elsa ist ratlos. Irgendetwas stimmt hier nicht. Angestrengt starrt sie durch ihre Kinderbrille auf das Häufchen Figuren, das vor ihr liegt. „Zwei Höcker, Bart und ein Schwanz, aber keinen Zahn“, murmelt die Siebenjährige, das sind die Vorgaben für das kleine Ungeheuer, das sie ausfindig machen soll – doch das gesuchte „Kamuffel“ ist einfach nicht zu finden. Normalerweise würde sich eine Zweitklässlerin nun an die Lehrerin wenden. Aber Elsa geht zu Jonathan, der im Nebenraum am Computer sitzt.

Jonathan ist zwei Jahre älter als sie und hat wirklich Wichtiges zu tun: Er beantwortet gerade knifflige Fragen zu Harry Potter. „Kannst Du mir helfen?“, fragt Elsa mit ernstem Wissenschaftlerblick. Jonathan murrt nicht, er zieht nicht mal die Augenbrauen hoch, sondern folgt Elsa zu ihrem Tisch. „Man fragt immer erst andere Kinder“, erklärt Elsa, während sich Jonathan über das Häufchen beugt. „Nur wenn die nicht helfen können, fragt man die Lehrerin.“ Elsas Grundschule ist ein ehrwürdiger Bau, gut hundert Jahre alt, krisengestählt. Zweimal schon drohte die Schließung der mit 376 Kindern eher kleinen Schule an der Rellinger Straße im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Jedes Mal konnte sie abgewandt werden, nicht zuletzt, weil es Eltern gibt, die auf diese Schule schwören. Will man herausfinden, was hier anders ist als anderswo, kann man die Leitsätze der Schule lesen, in denen von „individualisiertem Lernen“ die Rede ist. Oder aber den Hinweis an der Tür im Erdgeschoss: „Liebe Eltern, ab hier können wir alleine gehen.“

Ein ähnlicher Satz könnte in jedem Klassenzimmer hängen: Liebe Lehrer, ab hier können wir alleine gehen – wäre dieser Leitsatz den Lehrern nicht längst in Fleisch und Blut übergegangen. Man kann eine Schule von oben verändern, durch ein neues Schulsystem, das die Politik vorgibt. Oder von unten, durch einen anderen Unterricht.

An der Schule Rellinger Straße in Hamburg geschieht beides gleichzeitig. Grundschüler bleiben sechs statt der üblichen vier Jahre zusammen, bevor sie sich auf andere Schularten verteilen. Diese „Primarschule“ war ursprünglich für alle Hamburger Grundschulen geplant, doch der große Wurf scheiterte 2010 bei einer Volksabstimmung, viele Hamburger Eltern fürchteten Nachteile für ihr Kind, wenn es zwei Jahre später mit „gymnasialem Lernen“ begänne. Nur vier Hamburger Grundschulen unterrichten ihre Schüler sechs Jahre lang, als Schulversuch. Die „Relli“ gehört dazu. Denn sie hat viele alte Zöpfe abgeschnitten: Es gibt nur noch Doppelstunden, die Lehrer erteilen „Kompetenzzeugnisse“ statt Notenzeugnisse. Die Kinder werden nicht mehr in Klassen, sondern in Lerngruppen unterrichtet.

Die tiefgreifendste Änderung aber ist das neue Rollenverständnis der Lehrer. Eine Lehrerin ist hier keine „Servicekraft“ mehr, die alles „kleinschrittig“ erklärt. „Wo ist mein Radiergummi? So etwas fragt man den Lehrer nicht,“ sagt Schulleiterin Petra Stumpf. „Alles, was sich Kinder gegenseitig beibringen, mach ich als Lehrkraft nicht.“ Pädagogen nennen dies das „Prinzip der minimalen Hilfe“. „Man kann Kinder auch mit zu viel Hilfe erschlagen“, erklärt Elsas Lehrerin Conni Kastel, 57.

In Elsas Klassenzimmer, das „Lerngruppenraum“ heißt, hängt noch so ein Merksatz: „Jeder Chef, jede Chefin ist für sich selbst verantwortlich.“ Jedes Kind hat eine Gemeinschaftsaufgabe, beispielsweise die Arbeitsmaterialien auf Vollständigkeit zu prüfen.

Elsa ist Computer-Chefin, aber vor allem ist sie Chefin für ihr eigenes Lernen. Weil auch Jonathan das Kamuffel nicht finden kann, geht Elsa schließlich zu Frau Kastel. Conni Kastel wirft einen Blick auf die Teile. Tatsächlich, das Kamuffel fehlt. Bei ihrer täglichen Schlussrunde mit allen Kindern auf dem runden Teppich wird Elsa davon berichten. „Ich hab meine Aufgabe nicht geschafft, weil ein Plättchen gefehlt hat.“ Ein klarer Fall für Kamuffel-„Chefin“ Lisa, 9, sie wird zehn Kinder aus der Klasse auswählen und gemeinsam mit ihnen nach dem verschlamperten Teil suchen. Elsa hat da schon mit ihrer Lehrerin aufgeschrieben, was sie an diesem Tag geschafft hat.

In ihrer „Planungsmappe“ steht außerdem, was sie diese Woche noch zu tun hat und was sie längst hinter sich gelassen hat. Was ihr schwerfiel, womit sie sich leichttat. „Ich kenne das ABC“ steht über einem Blatt. Abgehakt am 19.5.2011. „In jedem Kind steckt etwas ganz Eigenes“, weiß die Schulleiterin. „Man muss diese Selbständigkeit ernst nehmen, dann wachsen Kinder wirklich.“ Das setzt Gelassenheit voraus, aber auch genaues Wissen, unter welchen Bedingungen Kinder gut lernen – und anderen helfen können. Die Altersmischung sei wichtig, erklärt Petra Stumpf. Erste Erfahrungen sammelte die „Relli“ schon im Jahr 2004 mit Lerngruppen aus Vorschülern und Erstklässlern. Heute lernen immer drei Jahrgänge zusammen, Erstklässler mit Zweit- und Drittklässlern.

Viertklässler mit Fünfern und Sechsern. Diese Lerngruppe gilt als besonders ambitioniert. Denn was bedeutet es für Sechstklässler, wenn sie mit Viertklässlern an einem Tisch sitzen? Treten sie dann auf der Stelle? Die Lerngruppe von Ute Manthey, Klasse 4 bis 6, hat heute „Projektzeit“. Das heißt für Kira und Anna, dass sie sich mit einem selbstgewählten Thema beschäftigen dürfen. Das Wunschthema der zwölfjährigen Kira aus der 6. Klasse und der zehnjährigen Anna aus der Vierten ist die Tiefsee. Jede hat neun „Forscherfragen“ gesammelt. Zum Beispiel: Wie ernähren sich die Tiere in der Tiefsee? Wie lange kann man mit einer Sauerstoffflasche tauchen?

Bloß mal kurz bei Wikipedia nachschauen, das gilt nicht. Kira und Anna recherchieren Originalquellen. Entdecken einen Meeresbiologen am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, der ihre Fragen per Mail beantwortet. „Was ist noch mal die Dekompressionskrankheit?“, fragt Anna. „Da bilden sich in der Lunge Gasbläschen, wenn die platzen, dann ist man tot“, erklärt Kira. Die fertige Arbeit wollen sie in den nächsten Tagen den Mitschülern vorstellen. „Jeder kann mal was und jeder kann mal was nicht“, sagt Lehrerin Conni Kastel. Emrah, 11, der die Architektur des Empire State Building recherchiert, erklärt es so: „Es ist wie eine Kette, jeder bringt es dem anderen bei.“ Und jeder, findet Toyoshi, 11, der bäuchlings auf dem Teppich liegt, einen Laptop vor sich, profitiert, wenn er anderen etwas erklärt. Fast jeder zweite Schüler verlässt die Schule an der Rellinger Straße mit einer Empfehlung fürs Gymnasium. Bei den weiterführenden Schulen gelten die Absolventen als besonders selbständig und gut organisiert.

Lernen an der „Relli“ heißt aber nicht Lernen nach Belieben. „Wir geben auch viel vor“, betont Conni Kastel. Kaum ein Kind begeistert sich fürs Einmaleins. Also müsse man Anreize schaffen. Kinder lieben Zertifikate, also gibt es an der „Relli“ ein Zertifikat fürs erfolgreich gebüffelte Einmaleins. Früher Nachmittag. Conni Kastel zeigt den Boxraum im dritten Stock, in dem sich Schüler austoben dürfen. Sie sagt: „Man muss zu Kindern eine Haltung entwickeln, keine Methode.“ Plötzlich eilt sie hinaus auf den Flur. Ganz unten im Treppenhaus hört man ein Weinen. Dann leise Stimmen, das Weinen versiegt. „Da sind noch andere Kinder dabei“, sagt sie und wirkt wieder entspannt. Auf ihre Kinder ist Verlass.

Kurzporträt der Schule Rellinger Straße in Hamburg, Preisträger 2012.

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Eine pappdicke Schicht Margarine schmiert sich die siebenjährige Priscilla auf eine Brötchenhälfte. Ihre Haare sind zu feinen Dreadlocks gezwirbelt, der pinkfarbene Nagellack ist schon etwas abgekaut. Sie greift nach dem Honigglas. Auf dem Tisch stehen außerdem Apfel- und Orangensaft, Müsli, Käse, Wurst und eine große Kanne Kakao. Warum sie jeden Morgen um halb acht zum Frühstücken in die Schule kommt, mag das aus Ghana stammende Mädchen nicht erzählen. Dafür springt der gleichaltrige Ariel ein: „Meine Mutter arbeitet früh, und mein Vater muss sich von der Nachtschicht erholen.“ Schichtarbeit, Überforderung der Eltern oder auch Geldnot: Es kann viele Gründe geben, das Frühstück ausfallen zu lassen. Doch anstatt über vermeintlich nachlässige Eltern zu klagen, sorgen Schulleiterin Maresi Lassek und ihre Kollegen lieber dafür, dass die Kinder vor der ersten Stunde erstmal etwas in den Magen bekommen.

Die Schule am Pfälzer Weg ist umstanden von weiß-grau gestrichenen Hochhäusern, mal zwölf, mal 16 Stockwerke hoch, sonst unterscheiden sie sich kaum. Der Bremer Stadtteil Tenever ist kein einfacher Ort: Die Wahlbeteiligung ist niedriger, Ausländeranteil, Arbeitslosigkeit und Jugendkriminalität sind höher als in vielen anderen Bezirken der Hansestadt. In der Schule spiegeln sich die kulturellen Unterschiede und sozialen Schwierigkeiten des Stadtteils wider: Rund 90 Prozent der 179 Kinder haben ausländische Wurzeln, ihre Eltern kommen aus Somalia, Marokko oder Pakistan, aus der Türkei, Polen oder Russland. Mindestens 60 Prozent ihrer Familien sind auf Transferleistungen wie Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld angewiesen.

Ein schwieriges Elternhaus und ein Standort an einem „sozialen Brennpunkt“ bedeuten in Deutschland für die Kinder in der Regel: schlechtere Chancen auf einen guten Schulabschluss, eine Ausbildung, einen vernünftig bezahlten Job. Die Schule am Pfälzer Weg hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Teufelskreis zu durchbrechen, den Startnachteil der Kinder, so weit es irgend geht, auszugleichen und ihnen eine Perspektive zu geben – mit Erfolg. Unermüdlich sammeln die Lehrer Spenden, schreiben Projektanträge und suchen Sponsoren, um Extras zu ermöglichen wie das Schulfrühstück und gesundes Obst für zwischendurch, aber auch für Materialien wie Zirkel oder Scheren, die viele Eltern ihren Kindern nicht bezahlen können. Auch haben sie dafür gesorgt, dass täglich Lesehelfer an die Schule kommen – dafür arbeiten sie eng mit der „Freiwilligenagentur“ zusammen, einer Bremer Ehrenamtlichenbörse.

Besonders am Herzen liegt Schulleiterin Lassek ein guter Kontakt zu den Eltern, weshalb sie vor sechs Jahren das Programm „KESch“ ins Leben rief. Das Kürzel steht für „Kinder, Eltern und Schule im Dialog“: Über die normalen Elternabende und Sprechtage hinaus treffen sich Lehrer und Eltern jeder Klasse einmal monatlich einen ganzen Nachmittag lang. Am Anfang lernen sich Eltern und Lehrer kennen, die Eltern zeigen sich gegenseitig ihre Heimatländer auf einer Weltkarte und erzählen einander, welche Spiele sie selbst früher gespielt haben. Später arbeiten sie gezielt an Themen wie „Ernährung“, „Konfliktlösung“ oder „Lernen“. Auch gemeinsame Ausflüge mit den Kindern stehen auf dem Programm wie Spielnachmittage, Konzert- oder Museumsbesuche.

„Dank der konsequenten Elternarbeit kommen Mütter und Väter viel regelmäßiger zu Elternabenden und engagieren sich auch außerhalb der Schule viel stärker für die Entwicklung ihrer Kinder“, erzählt Maresi Lassek, als sie durch den Klinkerbau führt, in dem 1993 der Betrieb aufgenommen wurde. Viel Tageslicht strömt in die breiten Flure und hell gestrichenen Klassenräume. „Wenn wir ihnen etwa erklären, wie wichtig Radfahren für die kindliche Entwicklung ist, sorgen fast alle für ein verkehrstüchtiges Fahrrad. Das ist in diesem Stadtteil überhaupt keine Selbstverständlichkeit.“

„Das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern wird durch das Programm partnerschaftlicher“, sagt die türkischstämmige Özen Cakir-Memoglu, die gerade für einen Termin mit der Schulleiterin zu Besuch ist. Auch untereinander geben sich die Eltern, die durch das Programm näher zusammenrücken, nützliche Tipps: „Meine Tochter ärgert sich schnell, wenn ihr etwas nicht sofort gelingt“, so die Mutter. Von anderen Eltern habe sie gelernt, dem Mädchen dann zu sagen: „Du bist doch in anderen Sachen gut, keiner muss alles können.“

Die dritte Stunde ist angebrochen. „Wochenplanunterricht Deutsch“ für die Gruppe der „Tigeraugen“, in der Dritt- und Viertklässler gemeinsam unterrichtet werden. Ihre Tische stehen locker im Raum verteilt, die großen Fenster sind mit Papierblumen verziert, unter der Decke hängen selbstgebastelte Tiermasken. In den Regalen finden sich Materialordner zu Themen wie „Brot“, „Wald“ oder „Strom“. Je nachdem, wo sie in ihrem Lernprozess stehen, lösen die Kinder unterschiedliche Aufgaben – natürlich in Absprache mit ihrer Lehrerin: Einige suchen Wörter im Kinderwörterbuch, andere füllen Lückentexte aus oder lösen Buchstabenrätsel.

Derweil beugt sich die neunjährige Vanessa über ihr Geschichtenheft und schreibt eine selbst ausgedachte Erzählung noch einmal in Reinschrift ab. „Es war einmal vor nicht allzu langer Zeit, da lebte ein Mädchen“, steht dort bereits. „Sie hatte einen süßen Hund.“ Auch Klassenkamerad Abdullah arbeitet an seiner Geschichte: Sie handelt von einem Jungen, der den seltsamen Namen „Hartwig“ trägt. Um nicht länger von den anderen gehänselt zu werden, will er lieber „Mohammed“ heißen. Am Ende aber findet er wieder zu seinem richtigen Namen zurück und wird von den anderen akzeptiert. Einander so annehmen, wie man ist, Unterschiede als selbstverständlich anerkennen: In der bunt gemischten Grundschule lernen das die Kinder ebenso wie ihre Schulfächer Mathe, Deutsch oder Musik. Nicht nur, weil sie aus so vielen verschiedenen Ländern kommen. Und nicht nur, weil in ihren Klassen – so wie im gesamten Bundesland Bremen – Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden. Mit jahrgangsübergreifendem Unterricht setzt die Schule am Pfälzer Weg noch einen obendrauf: Die Erstklässler lernen gemeinsam mit den Zweitklässlern, die Dritt- mit den Viertklässlern.

Beginnt ein neues Schuljahr, erklären die frischgebackenen Zweitklässler den Schulanfängern, wo die Jacken aufgehängt werden, wie man den Morgenkreis leitet und wie die Tafel gewischt werden soll. „Das funktioniert so gut, dass wir Lehrer dadurch tatsächlich weniger organisatorischen Aufwand haben. Dadurch können wir uns noch besser auf den eigentlichen Unterricht konzentrieren“, freut sich Maresi Lassek. „Durch ihre neue Rolle machen die Großen einen riesigen Entwicklungssprung.“ Die Sozialkompetenzen der Kinder fördern und auf die Lebenswelten der Kinder eingehen – auf den ersten Blick scheinen diese Pfeiler im Konzept der Schule gar nicht so viel mit Lernen und Leistung zu tun zu haben. Doch sorgen sie für eine Atmosphäre, in der die Kinder auch in Sachen Noten überdurchschnittlich gut abschneiden: 30 Prozent der Schüler schaffen in der 4. Klasse die Voraussetzungen fürs Gymnasium – deutlich mehr als in anderen Schulen in vergleichbaren Bremer Stadtteilen. Und damit eine Chance auf eine Zukunft jenseits der Hochhäuser von Tenever.

Kurzporträt der Schule am Pfälzer Weg in Bremen, Preisträger 2012.

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„Paul-Martini-Schule? Noch nie gehört!“, tönt der Taxifahrer am Hauptbahnhof in Bonn. Wenige Minuten später stoppt er seinen Wagen vor einem zweistöckigen Jahrhundertwende-Rotklinkerbau auf dem Gelände der Rheinischen Kliniken und mustert ihn, als wolle er sich vergewissern, dass die Lücke auf seinem inneren Stadtplan real ist.

„Uns findet man eben nicht so leicht“, weiß Elfriede Link und schaut vergnügt aus ihrem Büro in den verwunschenen Hinterhof der ehemaligen Frauenpsychiatrie-Station, in der seit 2005 junge Patienten der Kliniken unterrichtet werden – vom Vorschüler bis zum Abiturienten. Eine „Schule für Kranke“ mit einem eigenen Schulgebäude ist eine Seltenheit in Deutschland, doch die 56-jährige Leiterin scheint sich nicht an der mangelnden Bekanntheit zu stören. Im Gegenteil: Das Haus ist Lern- und Schutzraum zugleich, seine Isolation Voraussetzung für pädagogische und therapeutische Erfolge.

Für künstlerische allemal, das verraten Kunstwerke im ganzen Schulhaus: Makroaufnahmen von Blüten, Foto-Dokumentationen, Illustrationen und Texte, die von den Gedanken und Gefühlen der jungen Patienten erzählen, die nebenan im Krankenhaus behandelt wurden und hier zur Schule gingen. Ein Mädchen namens Miriam* schreibt: „Warum ich hier war, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur: Ich bin wieder ich. Und darauf bin ich sehr stolz.“

Die Kinder und Jugendlichen leiden unter seelischen Problemen, haben ADHS, Autismus, Angst-, Ess- oder Zwangsstörungen, eine verzögerte Sprachentwicklung, manche sind traumatisiert. In den drei Außenstellen der Schule, der Kinderchirurgie, dem Kinderneurologischen Zentrum und der Kinderklinik, werden Kinder mit chronischen Erkrankungen wie Rheuma, Diabetes, Mukoviszidose oder Krebs unterrichtet. Einige besuchen die Schule für ein paar Wochen, andere bleiben Monate. 21 Sonderpädagogen sind für bis zu 130 Kinder und Jugendliche da.

Florian* war zehn Wochen lang in der Psychiatrie. „Wegen Depressionen“, sagt er ganz unbefangen. Vier Wochen nach seiner Entlassung ist der sportliche 16-Jährige zu Besuch in der Musik-AG von Birger Kohlhase und haut in die Saiten, wie immer am liebsten „Layla“ von Eric Clapton. In einer Pause lehnt er sich entspannt auf die Gitarre und erzählt von seiner Krankheit: „Ich war völlig antriebslos. Alle haben gesagt, reiß dich zusammen. Aber das bringt nichts!“ Als er anfing, sich zu „ritzen“, besorgte die Mutter ihm einen Therapieplatz.

„Solche Krisen sind keine Seltenheit in der Pubertät“, sagt Elfriede Link. Häufig hängen sie auch mit der persönlichen Lebensplanung zusammen, weshalb sie es als Aufgabe der Schule sieht, gemeinsam mit Therapeuten, Eltern und der Heimatschule, Perspektiven zu entwickeln: Wo liegen meine Talente? Welche Ziele habe ich? „Irgendwann stand die Frage im Raum: Muss ich überhaupt auf ein Gymnasium gehen?“, erzählt Florian. Er entschied sich für den Wechsel auf eine Realschule mit Schwerpunkt Musik. Kein Einzelfall, wie Elfriede Link betont: Die Hälfte der Schüler, die wegen einer Krise kommen, wechselt die Schule. „Die AG hat mich im Musikmachen bestärkt“, sagt Florian. „Das hat mir Kraft gegeben.“

Kreatives Arbeiten, das sich eng an den Interessen und Talenten der Schüler orientiert, nimmt einen wichtigen Teil des Unterrichts ein. Das hat manchmal sogar Vorrang vor den Hauptfächern. Im Kunst-Atelier arbeiten Schüler im Malerkittel an großen Staffeleien, in der Schreibwerkstatt brüten sie über Gedichten. Die „AG Intermezzo“ sammelt und verfasst Texte für eine Schülerzeitung, die zweimal im Jahr erscheint, darunter viele autobiografische Texte der Schüler. Das Wochenende beginnt freitags um 12 Uhr mit „Radio PMS“: Eine halbe Stunde lang lauscht die ganze Schule den Stimmen der Radio-Macher, die kleine Beiträge über die Schule und das Weltgeschehen vorlesen und Musik einspielen. Lautsprecher übertragen das Live-Programm in jeden Klassenraum.

Als Elfriede Link 2001 an die Paul-Martini-Schule kam, fanden die Schulstunden in Therapieräumen auf den Stationen statt, und als Lehrerzimmer dienten leerstehende Räume in dem damals von Asylbewerbern bewohnten Gebäude. Als sich deren Umzug andeutete, witterte Elfriede Link ihre Chance. Sie schrieb ein Konzept für eine Krankenschule, die unabhängig und zugleich Hand in Hand mit den Therapeuten arbeitet, sprach bei Chefärzten und der Verwaltung vor, stellte Anträge an den Schulträger, die Stadt Bonn. „Es ging mir darum, einen Ort zu schaffen, an dem die Kinder und Jugendlichen in erster Linie Schüler und nicht Patienten sind“, sagt sie heute. An dem nicht jeden Tag alle Spuren des gemeinsamen Arbeitens nach Unterrichtsschluss getilgt werden müssen. Sie hatte Erfolg – und das, obwohl die von ihr geplante Institution gar nicht im Schulgesetz verankert ist. „Offiziell gelten wir weder als Förderschule noch als Regelschule.“ In einer Veröffentlichung des Ministeriums heißt es: „Die Paul-Martini-Schule ist eine Schule eigener Art“. „Ich sag’ dann immer, wir sind eine eigenartige Schule“, sagt Elfriede Link. „Und dann zähle ich unsere Eigenarten auf.“

Da ist zum einen die Größe der Lerngruppen, die selten mehr als zehn Schüler umfassen, dafür aber stets zwei Klassenstufen vereinen und individuelle Förderung in den Vordergrund stellen. Wie in der Gruppe aus Erst- und Zweitklässlern, die Oliver Belkot, 30, an diesem Morgen unterrichtet: Der neunjährige Simon sitzt still über seinen Rechenaufgaben, während Meysam, 7, ein Puzzle legt. Sein Nebenmann hingegen kann sich kaum auf dem Stuhl halten und rennt plötzlich auf die Toilette. Belkot hält ihn nicht auf, doch wenn ein Schüler es zu weit treibt, setzt er die hölzerne Wäscheklammer mit seinem Namen auf einer Papp Ampel von „grün“ auf „gelb“. Bei „rot“ angekommen, fällt der belohnende Griff in eine Süßigkeitenkiste am Ende der Stunde aus. „Wir nehmen Rücksicht, wenn Kinder impulsgesteuert handeln“, sagt er. Zugleich aber müsse positives Verhalten verstärkt werden.

„Unser Ziel ist es, die Kinder auf den Besuch einer Regelschule vorzubereiten.“ Auch die sechs Jugendlichen, die eine Tür weiter über ihren Aufgaben sitzen, nutzen ihre Zeit an der Paul-Martini-Schule als Experimentierfeld. Die Neunt- und Zehntklässler besuchen die Schule im Rahmen einer mehrwöchigen stationären Stotter-Therapie an der Klinik. Im Klassenraum können sie ihre Fortschritte in Form von Rollenspielen einüben. „Wir sind eine mobbingfreie Zone“, sagt Elfriede Link. In ihrem Haus stehen therapeutische und pädagogische Ziele oft im Vordergrund, etwas anderes lassen die Diagnosen vieler Schüler gar nicht zu. Doch wo es geht, wird auch Leistung gefordert, etwa bei den Vorbereitungen auf externe Haupt- und Realschulabschluss-Prüfungen. Auch das Proben von Bewerbungsgesprächen oder die schrittweise Rückkehr an die alte Schule dient dem Ziel, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. „Wenn ein Schüler uns verlässt, sagen wir nicht: Auf Wiedersehen“, so Link. „Wir sagen: Lebewohl!“

*Namen geändert

Kurzporträt der Paul-Martini-Schule in Bonn, Preisträger 2012.

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Für Johanna war die Sache klar: Sie würde kein Abi machen. Auf gar keinen Fall. Anfang März, vier Wochen bevor die schriftlichen Prüfungen beginnen sollten, schmiss sie hin. Sie war lange krank, hatte Unterricht verpasst, und dann fragte sie sich auch: „Wozu brauche ich später Vektoren-Rechnungen?“ Die 19-Jährige will Sozialpädagogik studieren und mit Jugendlichen arbeiten. Für das Studium an einer Fachhochschule reicht das Zeugnis der 12. Klasse. Zu Hause gab es Stress, Johannas Eltern waren natürlich überhaupt nicht begeistert. „Die haben nicht mehr mit mir geredet“, erzählt sie und kaut auf dem Ring, der durch ihre Lippe gestochen ist. In der Schule versuchten Lehrer und Mitschüler sie zu überzeugen: Du machst einen Riesenfehler! Du musst doch Abitur machen! Überleg dir das noch mal! Johanna zog zu Hause aus und in eine WG. Sie fühlte sich frei. Endlich. „Mir ging es richtig gut mit der Entscheidung.“ Keiner konnte sie umstimmen.

Bis zu dem Nachmittag, als Frau Bachmann in der WG auftauchte. Anke Bachmann ist die Schulleiterin von Johanna. „Plötzlich stand Frau Bachmann vor mir. Das hat mich von den Socken gerissen“, erzählt Johanna und lässt das dünne Papier mit Tabakkrümeln sinken, mit dem sie sich eine Zigarette dreht. „Ich kannte Frau Bachmann gar nicht so gut. Aber dass sie weiß, wer ich bin, und extra zu mir kommt, das hat mich sehr beeindruckt.“ Die beiden haben Kaffee getrunken und geredet. „Johanna, das kriegen wir hin. Deine Noten sind nicht schlecht. Probier es doch“, machte Frau Bachmann ihr Mut. Johanna trat schließlich zu allen drei Prüfungen an: Politik, Englisch und Deutsch. „Als ich meiner Mutter erzählt habe, dass ich doch Abi mache, hat die geweint“, erzählt Johanna und nimmt einen tiefen Zug aus der Selbstgedrehten.

Für Schulleiterin Anke Bachmann ist es völlig selbstverständlich, dass sie zu Johanna gefahren ist. Die 52-Jährige mit den feuerroten Haaren findet das gar nicht weiter der Rede wert. Johanna sei eine gute Schülerin, die müsse doch Abitur machen und nicht aus Rebellion oder wer weiß was für Gründen die Schule abbrechen. "Die Frau Bachmann hat so etwas schon öfter gemacht", erzählt eine Schul-Sekretärin: „Sie ist auch schon zu Schülern gefahren und hat die abgeholt, wenn die morgens nicht zur Prüfung erschienen sind.“ So eine ist die Frau Bachmann.

Sich kümmern und verantwortlich fühlen – das hört an der Evangelischen Schule in Neuruppin, Brandenburg, nicht mit der Schulstunde auf. Es ist ein Gymnasium, wie es sich Eltern in ganz Deutschland wünschen: Fürsorgliche Lehrer spornen mit liebevoller Strenge aufgeweckte Schüler zu Höchstleistungen an.

Das „Evi“ wie die Evangelische Schule von Lehrern und Schülern fast zärtlich genannt wird, erhält in diesem Jahr den Deutschen Schulpreis. „Zum ersten Mal zeichnen wir ein Gymnasium mit dem ersten Preis aus“, sagt Professor Michael Schratz, Sprecher der Jury. Er hat das „Evi“ zwei Tage lang inspiziert. „Bisher hat keines unsere sechs Kriterien hinreichend erfüllt. Dies hier ist in allen Bereichen exzellent.“ Beim Kriterium Verantwortung erhielt das „Evi“ sogar eine Eins plus. „Wir hatten die Evangelische Schule Neuruppin nicht auf dem Radar“, gesteht Erziehungswissenschaftler Michael Schratz. „Wir hatten noch nichts von der Schule gehört.“ Doch beim Deutschen Schulpreis geht es nicht um große Namen, die in der pädagogischen Fachwelt kursieren, sondern hier zählt allein die Leistung, das Potential einer Schule. Und das „Evi“ sei ein Leuchtturm, von dem andere Schulen viel lernen können, lobt Schratz.

Zum Beispiel, was Eltern und Lehrer alles gemeinsam erreichen können. Das Gymnasium wurde 1993 nach der Wende von Eltern gegründet. Sie trafen sich in der alten Klosterkirche aus rotem Backstein, die Bürgerbewegung „Neues Forum“ bot Raum für solche Träume. Anke Bachmann, Lehrerin für Physik und Mathe, war von Anfang an dabei, zunächst als stellvertretende Schulleiterin, seit zwölf Jahren als Direktorin. „Wir wollten eine Schule, die Werte vermittelt, dies aber mit neuen Lernformen.“ Nur vier Monate dauerte es, dann stand das Konzept und die Container auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne mit Blick auf den Ruppiner See. Nach dem Abzug der Russen wurden die Mannschaftsquartiere zu Klassenzimmern umgebaut. Die evangelische Kirche übernahm die Trägerschaft. Zum Kollegium gehören seit Beginn Ost- und Westlehrer. Mit fünf Kollegen und 78 Schülern sind sie damals gestartet. 2004 kam die Grundschule dazu – wieder gaben Eltern den Anstoß. Seit 2009 gibt es eine Oberschule, Haupt- und Realschüler lernen gemeinsam in einer Klasse. Heute besuchen 982 Mädchen und Jungen die offene Ganztagsschule.

Von den Neuruppinern wurde das „Evi“ zunächst misstrauisch beobachtet. Lernen die da überhaupt was? Oder machen die bloß Yoga-Seminare? „Wir haben von Anfang an viel in Projekten und in Gruppen gearbeitet“, erzählt Anke Bachmann. „Es hieß: Bei uns bekommt man sein Abi leichter, weil die Schule Spaß macht.“ Dabei erzielen die Abiturienten deutlich bessere Ergebnisse als der Landesdurchschnitt. In Leistungskursen wie Englisch oder Informatik sind sie sogar ein bis zwei Noten besser als ihre Brandenburger Klassenkameraden. Auch bei Vergleichsarbeiten wie VERA, den Lernstandserhebungen in der 3. Klasse, schneiden die Schüler deutlich besser ab.

Das liegt an Lehrern wie Heiko Haschke, 42. Er trägt einen blauen Blazer mit Wappen auf der Brusttasche, „very British“ ist auch sein Akzent. In seinem Englisch-Leistungskurs in der 11. Klasse lässt er die Jugendlichen nicht einfach diskutieren, sondern debattieren. Nach festen Regeln üben sie die Kunst des verbalen Schlagabtausches: Vanessa, Franziska und Ole argumentieren für die Ehe, Anne, Fabienne und Louis streiten für das Single-Leben. Matthew, ein Austauschschüler aus den USA, überwacht das Rededuell. Zwei Minuten lang fliegen die Argumente hin und her.

Kurze Analyse: Was war gut? Was war schlecht? Wurde da etwa jemand ironisch? Nicht erlaubt bei einer Debatte. Lehrer Heiko Haschke fordert seine Schüler heraus: „Ich will von Euch nicht deutsche Sprache hören, übersetzt wie Lothar Matthäus, wenn er sagt: ‚I am for Bayern‘. Benutzt rhetorische Stilmittel!“ Dann kommt die nächste Gruppe dran. Zwei Schüler halten aus dem Stegreif ein Plädoyer für die Freigabe oder die Bestrafung des Besitzes von Marihuana. Jeder wird mit einbezogen, alle Schüler machen mit. „Herr Haschke verlangt viel von uns“, sagt Ole, 17. „Aber er ist fair.“

Professor Schratz von der Schulpreis-Jury kennt viele Schulen. Bei seinem Besuch in Neuruppin hat ihn nicht nur das hohe Niveau im Unterricht beeindruckt –, sondern auch das Klima: „Von dieser Schule können andere viel über die Wirkmächtigkeit von Ritualen lernen, wenn sie gelebt werden. Sie ist nicht traditionell religiös, aber legt Wert auf starke Bindungen. Das ist wichtig, denn wir wissen: Ohne Beziehung funktioniert Lernen nicht.“ Der Tag beginnt mit einer „Morgenbesinnung“, einem kurzen Moment des Innehaltens, Schüler oder Lehrer lesen Texte vor, die nachdenklich machen. Auch so versucht die Schule ihre Schüler für ethisch-soziale Fragen zu sensibilisieren. „Wir sind eine evangelische Schule, aber offen für alle“, sagt Anke Bachmann.

Hier lernen Kinder von Hartz-IV-Empfängern gemeinsam mit den Söhnen und Töchtern von Ärzten und Richtern. 70 Prozent der Schüler zahlen entweder kein Schulgeld oder nur den Mindestsatz von 45 Euro im Monat. Viele sind ganz vom Schulgeld befreit. „Wir sind keine Privat- oder Eliteschule“, betont Schulleiterin Anke Bachmann. Schüler und Eltern sind extrem zufrieden mit ihrer Schule. 96 Prozent der Mütter und Väter sagten bei einer Umfrage: „Ich schicke mein Kind gern auf diese Schule.“ Und fast 90 Prozent der Schüler gaben an: „Ich gehe gern in diese Schule.“ Das spricht sich rum: Inzwischen gibt es doppelt so viele Bewerber wie Plätze. Manche Schüler reisen jeden Tag aus Berlin an.

Die Kaserne ist quadratisch, praktisch, die Klassenräume sind sauber, aber nicht besonders aufwendig gestaltet oder dekoriert. „Wir sind nicht besser ausgestattet als staatliche Schulen – eher schlechter“, sagt die Schulleiterin. In Zukunft will das Land Brandenburg die Mittel für freie Schulen vor allem im Grundschulbereich kürzen. Elitär sind am „Evi“ die Ansprüche. Hier wird nicht Stoff vermittelt, sondern umfassende Bildung. „Unsere Schüler bringen viel Potential mit. Das fördern wir“, sagt Anke Bachmann. „Und wir erziehen sie dazu, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen.“ Wertschätzung zieht sich wie ein roter Faden durch die Schule. Die Schüler erfahren: Du bist wertvoll. Und sie spüren: Ich leiste Sinnvolles. Man traut mir etwas zu. Zum Beispiel, wenn Schüler aus dem Englisch-Leistungskurs Jüngeren aus der 10. Klasse bei den Vorbereitungen für die Prüfungen in Englisch helfen.

Oder indem Gymnasiasten wie Lea und Maria in der Grundschule unterrichten. Die beiden 16-Jährigen übernehmen stundenweise die Klasse 3a. Der Umgang wirkt vertraut; die achtjährige Emilie läuft auf Lea zu und umarmt sie. Emilie, Hugo und Hannah freuen sich nicht nur über die Aufmerksamkeit durch die Großen und ihre Hilfe bei den „Schätzaufgaben“ in Mathe. Die beiden 16-jährigen Mädchen sind für Klassenlehrerin Tanja Hager-Cap auch „eine echte Entlastung“. Sie nutzt die Zeit auch schon mal für Fortbildungen. Auch Schüler aus der Ober- und Mittelstufe, die das Schulcafé „Tasca“ managen, lernen Verantwortung zu tragen. Ole aus der 11. Klasse ist der Vorstandsvorsitzende der Firma, in der Schüler von der 7. bis zur 13. Klasse arbeiten. Ole leitet nicht irgendeine Oberstufen-Teeküche, nein, das „Tasca“ ist ein richtiger Coffee-Shop. Er hat den Schlüssel zu dem Café, ist Ansprechpartner für seine Vorstandskollegen, die Dienstpläne erstellen, Preise kalkulieren und fair gehandelten Kaffee einkaufen. Ole organisiert auch Veranstaltungen wie das Schulfest oder den Band Contest. „Es macht Spaß, hinter der Bar zu stehen“, sagt er. „Und man lernt mit Stress umzugehen.“ Im vergangenen Geschäftsjahr konnte die Schüler-Aktiengesellschaft einen Gewinn von 2 500 Euro verbuchen.

Auf dem Schulhof hinter der ehemaligen Kaserne verläuft keine unsichtbare Trennlinie zwischen den Schulformen wie bei so vielen Schulzentren. Oberschüler und Gymnasiasten proben gemeinsam fürs Musical oder arbeiten im „Tasca“. Und die Schüler einer Stufe gehen selbstverständlich gemeinsam auf Klassenfahrt – egal, welcher Schulform sie angehören. Am „Evi“ soll jeder Schüler nach seinen Möglichkeiten und Interessen gefördert werden. Dafür probieren die Lehrer auch neue Unterrichtsmethoden aus. Mathe in der 7b: Textaufgaben und Prozentrechnen – schon bei dem Gedanken bricht vielen Schülern der Angstschweiß aus. Das ist auch am „Evi“ nicht anders. Deshalb haben Mathelehrerin Kerstin Zimmermann, 28, und die Kunstlehrerin Regine Ludwig, 29, ein fächerübergreifendes Projekt entwickelt: Sie lassen die Siebtklässler Comics zu Mathe-Aufgaben zeichnen. Eine lautet zum Beispiel: Auf dem Campingplatz am Birkensee werden aus betriebsbedingten Gründen die Preise für Stellplätze für das kommende Kalenderjahr um 12 Prozent angehoben. Berechne den Stellplatzpreis, wenn Kais Großeltern bisher für ihren Wohnwagen pro Saison 410 Euro bezahlen mussten. Elisa, Luisa und Emily malen ein Bild mit Wohnwagen und Wiese, einer durchgestrichenen Preistafel und einem Männchen mit Gedankenblase „Oh nöö!“. Dabei diskutieren sie über die Fragestellung. Die Dreier-Gruppe neben ihnen sucht nach einer künstlerischen Umsetzung für die Preiserhöhung im Autohaus „Flitzer“, eine andere denkt über Rabatte beim Sommerschlussverkauf nach. Gelöst werden die Aufgaben zu Hause.

Und was bringt das? Kunstlehrerin Regine Ludwig erklärt: „Es ist eine enorme Leistung, ein so komplexes Problem kreativ umzusetzen. Dabei werden die Hirnhälften vernetzt.“ Die 13-jährige Nathalie sagt es mit ihren Worten: „Man muss die Aufgabe verstanden haben, sonst kann man sie ja nicht malen.“ In Bayern, wo sie bis vor einem Jahr zur Schule ging, erzählt Nathalie, wurde der Lernstoff so durchgezogen: „Der Lehrer schreibt was an die Tafel, Test, neuer Stoff .“ Am „Evi“ fällt ihr das Lernen leichter. Und in Mathe hatte sie vorher eine Vier, jetzt steht sie zwischen Zwei und Drei. „Frau Zimmermann ist manchmal streng, aber nicht fies.“ Auch Rollenspiele haben sie in Mathe schon gemacht. „Ich finde es cool, dass wir solche Sachen machen.“

Die Lehrer schätzen die Freiheit, immer wieder etwas Neues ausprobieren zu können. Vor drei Jahren führten sie eine neue Zeitrechnung ein. Bis dahin dauerten die Doppelstunden 90 Minuten. Von jeder wurden zehn Minuten abgezogen. Nun dauert eine Schuleinheit am „Evi“ nur noch 80 Minuten. Die freiwerdende Zeit bekommen die Schüler für individuelles Arbeiten. In der Sekundarstufe I stehen einmal pro Woche 80 Minuten „Lernzeit“ und 80 Minuten für die Arbeit am „Wochenplan“ auf dem Stundenplan. Die Themen geben die Lehrer vor. Wochenplan-Arbeit in der 7b: Während Bela einen Aufsatz für Biologie über die Veränderungen während der Pubertät schreibt, übt Nathalie Französisch- Vokabeln. Auf dem Lehrerpult steht ein Laptop für Recherchen im Internet. Klassenlehrerin Sabine Hickel, 47, hilft und erklärt, falls ein Schüler Fragen hat. „Die Schüler lernen, Aufgaben zu planen und sich ihre Zeit einzuteilen.“ Wochenplan, Lernzeit, Klausuren – Joseph hat das alles bald hinter sich. Der 18-Jährige ist der Schulsprecher der Evangelischen Schule und macht gerade sein Abitur. Vielleicht will er Schauspieler werden. „Ich werde diesen unglaublichen Zusammenhalt vermissen.“ Auch Johanna muss nur noch eine mündliche Prüfung bestehen, Biologie. Dann hat sie ihr Abitur geschafft. „Am Anfang habe ich es für Frau Bachmann gemacht. Weil sie an dem Nachmittag zu mir gekommen ist. Jetzt sage ich mir: Das ist gut für mich.“

Porträt

Porträt

Vor neun Jahren drohte der Erich Kästner-Schule in Bochum die Schließung. Heute zieht Bochums erste Gesamtschule dank gezielter Talentförderung auch leistungsstärkere Schüler an. Das spiegelt sich in den Lernerfolgen aller.

Klirrendes Geschirr hört man, Zitroneneis schmeckt man – das weiß Dayko. Doch über das Arbeitsblatt mit der Geschichte über eine Eisdiele gebeugt, fällt es ihm schwer, die Sinne zuzuordnen. Und nun, als die Ergebnisse der Einzelarbeit in der Kleingruppe zusammengetragen werden, schiebt er die Federtasche auf seine Notizen. „Ich hab’ das falsch“, sagt er. Christian Schwingeler, 29, der Deutschlehrer der Klasse 5.3, kann nicht helfen, er ist in einer anderen Ecke des Raumes gefragt.

„Lass mal sehen“, entgegnet Ira, ein Tuch im Piratenlook um den Kopf, sie tippt die Antworten ihrer Arbeitsgruppe in den Laptop und greift nach dem Zettel, schließlich soll die Datei auf dem Server stehen, bevor es zur Pause läutet. Vier Minuten noch. Ira überfliegt das Arbeitsblatt. Dayko hat die Sinneseindrücke herausgeschrieben, nur sortiert hat er sie nicht. „Ist doch gar nicht falsch“, sagt Ira und tippt seine Zeilen in eine Tabelle. Als die Schulklingel ertönt, drückt sie auf „speichern“.

Die Arbeit in Gruppen aus Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Leistungsstärken gehört zum Alltag an der Erich Kästner-Schule in Bochum. Sie ist nur eine von vielen Neuerungen, die hier in den vergangenen Jahren umgesetzt wurden und mittlerweile Früchte tragen: Bei zentralen Leistungstests schneiden die Schüler überdurchschnittlich ab. Weniger als ein Fünftel derer, die 2011 die Mittlere Reife erreichten, hatte eine Realschul- oder Gymnasialempfehlung gehabt; nicht mal ein Viertel der Abiturienten war mit Gymnasialempfehlung gestartet. Die Erich Kästner-Schule als Qualitätsschule – das wäre vor einigen Jahren kaum denkbar gewesen.

„Wir galten als ‚Chaotenschule‘“, sagt Schulleiter Walter Bald, sein Blick wandert aus dem Fenster und bleibt an einer Schülergruppe hängen, die in Richtung Eingang trottet. Bald erinnert sich: Als er sein Amt vor neun Jahren antrat, prägten Kinder und Jugendliche aus den sozial zerrütteten Siedlungen in der Nachbarschaft das Bild. Nur eine Handvoll Schüler schlug den Weg zum Abitur ein. „Die Situation hat das damalige Kollegium völlig überfordert“, sagt Bald.

2003 stellte das Land der Schule ein Ultimatum: Binnen sieben Jahren müsse die Sekundarstufe 60 Schüler zählen, sonst drohe die Schließung der 1971 gegründeten, ersten Gesamtschule Bochums. Ebenfalls 2003 wurde die Stelle des Schulleiters frei. Bald zögerte nicht lange. „Als 68er habe ich die Idee der Gesamtschule ja mit geboren“, sagt der 60-Jährige. Er gab seinen Posten als Personalratsvorsitzender in der Bezirksregierung auf und stellte sich ans Ruder eines sinkenden Schiffes. „Ich wollte Schule gestalten“, sagt er. Dass die Schule in den Folgejahren Fahrt aufnahm, schreibt er der Initiative einzelner Kollegen und dem Generationswechsel im Kollegium zu: „Da kamen junge Lehrer von der Uni, die hatten noch was vor sich, die wollten verändern.“ Seine Strategie sei es gewesen, den jungen Kollegen Freiräume zu schaffen, sie machen zu lassen. Sein Auftreten als Erster unter Gleichen motivierte die jungen, aber auch ältere Kollegen zur Innovation: Das Lernprofil „Kunst und Medien“ wurde geboren, es folgte eine „Notebook-Klasse“ mit Schwerpunkt Englisch, das Profil „Sport und Gesundheit“ und zuletzt eine Integrationsklasse. Ein Technikzweig war geplant, doch die Kapazitäten fehlten. Deshalb ist jetzt eine weitere Notebook-Klasse mit Schwerpunkt Naturwissenschaften in Arbeit. Kurswechsel fallen dem Kollegium, das in Teams à zwölf Lehrern organisiert ist, nicht schwer. Jedes Team verfügt über ein eigenes Lehrerzimmer, Tür an Tür mit den sechs Klassen, für die es verantwortlich ist. „Eine ideale Voraussetzung für effektive Zusammenarbeit“, sagt Bald.

Sein Kollegium unterrichtet bis heute eine Schülerschaft mit Wurzeln in mehr als 30 Ländern und vielen Jungen und Mädchen aus sozial benachteiligten Familien. Doch der Anteil leistungsstarker Jugendlicher wächst. Ein Grund mag das neue Schulgebäude sein. Der weitläufige Bau erinnert mit seinen schicken Sichtbetonwänden an eine moderne Hochschule und wurde vor zwei Jahren von einem Priester, einem Rabbiner und einem Imam eingeweiht.

Den Kern des Erfolgs aber kann man in der Aula beobachten, wenn die Musical-AG ein Stück probt, das auf dem Bochumer „Fest der Kulturen“ aufgeführt werden soll. Oder in der Sporthalle, wo an diesem Nachmittag Schüler aus Bochum und Lecco in Italien dem Ball hinterherrennen: Das Turnier ist der Höhepunkt eines jeden Austauschs mit Schulen in mittlerweile acht europäischen Ländern. „Wir haben hier Leute, die etwas auf die Beine stellen wollen“, sagt Walter Bald.

Doch nicht nur die Lehrer übernehmen Verantwortung, auch die Schüler sind gefragt, etwa im „Klassenrat“, wo Probleme und Pläne unter Aufsicht, aber selbständig diskutiert und zur Abstimmung gestellt werden. „Streitschlichter“ schreiten bei Konflikten ein, und im üppig ausgestatteten Trainingsraum sind Schüler als „Fitnesscoaches“ aktiv.

Mehmet hat die Schulung zwar noch nicht absolviert, aber vor der Spiegelwand erklärt der 16-Jährige schon mal, wie „Indoorsticks“ funktionieren. Streckt eine der mannshohen, flexiblen Stangen senkrecht vom Körper und bringt sie mit kurzen Armbewegungen zum Schwingen. „Das trainiert jeden Armmuskel“, erklärt er. „Wir nennen sie auch die Heidi-Klum-Stäbe!“ Sein Sportlehrer, Christian Koglin, grinst. „Es geht hier nicht um Disko-Muskeln“, sagt der 29-Jährige. Aber immer mehr Kinder brächten Haltungsschäden mit, die passgenaues Training erforderten. Ist das Programm einmal erstellt, können die Schüler selbständig trainieren, vorausgesetzt, ein Fitnesscoach ist anwesend.

Individuelle Angebote und intensive Begleitung sind auch beim Übergang in die Berufswelt zentral. Im Berufsorientierungsbüro „BoB“ von Georg Wiese, zwischen den Computerarbeitsplätzen vor der großen Fensterfront und dem runden Tisch für Gruppengespräche, verliert man endgültig das Gefühl, in einer Schule zu sein. In enger Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit, zahlreichen Unternehmen in der Region und gemeinsam mit zwei Kolleginnen, führt der 52-jährige Mathelehrer hier Beratungsgespräche, vermittelt Praktika und hilft bei Bewerbungen. Zwei Stunden in der Woche ist er vom Unterricht befreit. Weitaus mehr verbringt er im BoB. „Mittlerweile rufen die Firmen schon bei uns an“, erzählt Wiese, der einen geradezu sportlichen Ehrgeiz entwickelt hat, auch schwierige Fälle zu vermitteln. Wie die 16-jährige Sevgin, die Gefahr lief, die Schule ohne Abschluss zu verlassen. Über einen Platz im Landesprojekt „Betrieb und Schule“, das Unterricht mit einem Jahrespraktikum verbindet, fand sie einen Ausbildungsplatz. Bei einem Besuch in ihrer alten Schule berichtet sie mit leuchtenden Augen von der Arbeit als angehende Bäckerei-Fachverkäuferin und bemerkt lapidar: „Ohne das BoB wär’ ich weg vom Fenster.“

„Es gibt noch viel zu tun“, sagt Walter Bald. Er will die Schulstunden von 45 auf 60 Minuten umstellen. „Weil das effizienter ist“. Und dann sind da noch die beiden Metalltafeln mit den Kästner-Porträts, die in seinem Büro an der Wand lehnen. Die sollten längst an einer nahe gelegenen Fußgängerbrücke angebracht sein. Doch das Tiefbauamt stellte sich quer. Aber aufgeben? Das ist nicht sein Stil. „Ich kenne mich gut aus mit Behörden“, sagt Bald. „Wir schaffen das schon.“

Kurzporträt der Erich Kästner-Schule in Bochum, Preisträger 2012.