Porträt

Für Johanna war die Sache klar: Sie würde kein Abi machen. Auf gar keinen Fall. Anfang März, vier Wochen bevor die schriftlichen Prüfungen beginnen sollten, schmiss sie hin. Sie war lange krank, hatte Unterricht verpasst, und dann fragte sie sich auch: „Wozu brauche ich später Vektoren-Rechnungen?“ Die 19-Jährige will Sozialpädagogik studieren und mit Jugendlichen arbeiten. Für das Studium an einer Fachhochschule reicht das Zeugnis der 12. Klasse. Zu Hause gab es Stress, Johannas Eltern waren natürlich überhaupt nicht begeistert. „Die haben nicht mehr mit mir geredet“, erzählt sie und kaut auf dem Ring, der durch ihre Lippe gestochen ist. In der Schule versuchten Lehrer und Mitschüler sie zu überzeugen: Du machst einen Riesenfehler! Du musst doch Abitur machen! Überleg dir das noch mal! Johanna zog zu Hause aus und in eine WG. Sie fühlte sich frei. Endlich. „Mir ging es richtig gut mit der Entscheidung.“ Keiner konnte sie umstimmen.

Bis zu dem Nachmittag, als Frau Bachmann in der WG auftauchte. Anke Bachmann ist die Schulleiterin von Johanna. „Plötzlich stand Frau Bachmann vor mir. Das hat mich von den Socken gerissen“, erzählt Johanna und lässt das dünne Papier mit Tabakkrümeln sinken, mit dem sie sich eine Zigarette dreht. „Ich kannte Frau Bachmann gar nicht so gut. Aber dass sie weiß, wer ich bin, und extra zu mir kommt, das hat mich sehr beeindruckt.“ Die beiden haben Kaffee getrunken und geredet. „Johanna, das kriegen wir hin. Deine Noten sind nicht schlecht. Probier es doch“, machte Frau Bachmann ihr Mut. Johanna trat schließlich zu allen drei Prüfungen an: Politik, Englisch und Deutsch. „Als ich meiner Mutter erzählt habe, dass ich doch Abi mache, hat die geweint“, erzählt Johanna und nimmt einen tiefen Zug aus der Selbstgedrehten.

Für Schulleiterin Anke Bachmann ist es völlig selbstverständlich, dass sie zu Johanna gefahren ist. Die 52-Jährige mit den feuerroten Haaren findet das gar nicht weiter der Rede wert. Johanna sei eine gute Schülerin, die müsse doch Abitur machen und nicht aus Rebellion oder wer weiß was für Gründen die Schule abbrechen. "Die Frau Bachmann hat so etwas schon öfter gemacht", erzählt eine Schul-Sekretärin: „Sie ist auch schon zu Schülern gefahren und hat die abgeholt, wenn die morgens nicht zur Prüfung erschienen sind.“ So eine ist die Frau Bachmann.

Sich kümmern und verantwortlich fühlen – das hört an der Evangelischen Schule in Neuruppin, Brandenburg, nicht mit der Schulstunde auf. Es ist ein Gymnasium, wie es sich Eltern in ganz Deutschland wünschen: Fürsorgliche Lehrer spornen mit liebevoller Strenge aufgeweckte Schüler zu Höchstleistungen an.

Das „Evi“ wie die Evangelische Schule von Lehrern und Schülern fast zärtlich genannt wird, erhält in diesem Jahr den Deutschen Schulpreis. „Zum ersten Mal zeichnen wir ein Gymnasium mit dem ersten Preis aus“, sagt Professor Michael Schratz, Sprecher der Jury. Er hat das „Evi“ zwei Tage lang inspiziert. „Bisher hat keines unsere sechs Kriterien hinreichend erfüllt. Dies hier ist in allen Bereichen exzellent.“ Beim Kriterium Verantwortung erhielt das „Evi“ sogar eine Eins plus. „Wir hatten die Evangelische Schule Neuruppin nicht auf dem Radar“, gesteht Erziehungswissenschaftler Michael Schratz. „Wir hatten noch nichts von der Schule gehört.“ Doch beim Deutschen Schulpreis geht es nicht um große Namen, die in der pädagogischen Fachwelt kursieren, sondern hier zählt allein die Leistung, das Potential einer Schule. Und das „Evi“ sei ein Leuchtturm, von dem andere Schulen viel lernen können, lobt Schratz.

Zum Beispiel, was Eltern und Lehrer alles gemeinsam erreichen können. Das Gymnasium wurde 1993 nach der Wende von Eltern gegründet. Sie trafen sich in der alten Klosterkirche aus rotem Backstein, die Bürgerbewegung „Neues Forum“ bot Raum für solche Träume. Anke Bachmann, Lehrerin für Physik und Mathe, war von Anfang an dabei, zunächst als stellvertretende Schulleiterin, seit zwölf Jahren als Direktorin. „Wir wollten eine Schule, die Werte vermittelt, dies aber mit neuen Lernformen.“ Nur vier Monate dauerte es, dann stand das Konzept und die Container auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne mit Blick auf den Ruppiner See. Nach dem Abzug der Russen wurden die Mannschaftsquartiere zu Klassenzimmern umgebaut. Die evangelische Kirche übernahm die Trägerschaft. Zum Kollegium gehören seit Beginn Ost- und Westlehrer. Mit fünf Kollegen und 78 Schülern sind sie damals gestartet. 2004 kam die Grundschule dazu – wieder gaben Eltern den Anstoß. Seit 2009 gibt es eine Oberschule, Haupt- und Realschüler lernen gemeinsam in einer Klasse. Heute besuchen 982 Mädchen und Jungen die offene Ganztagsschule.

Von den Neuruppinern wurde das „Evi“ zunächst misstrauisch beobachtet. Lernen die da überhaupt was? Oder machen die bloß Yoga-Seminare? „Wir haben von Anfang an viel in Projekten und in Gruppen gearbeitet“, erzählt Anke Bachmann. „Es hieß: Bei uns bekommt man sein Abi leichter, weil die Schule Spaß macht.“ Dabei erzielen die Abiturienten deutlich bessere Ergebnisse als der Landesdurchschnitt. In Leistungskursen wie Englisch oder Informatik sind sie sogar ein bis zwei Noten besser als ihre Brandenburger Klassenkameraden. Auch bei Vergleichsarbeiten wie VERA, den Lernstandserhebungen in der 3. Klasse, schneiden die Schüler deutlich besser ab.

Das liegt an Lehrern wie Heiko Haschke, 42. Er trägt einen blauen Blazer mit Wappen auf der Brusttasche, „very British“ ist auch sein Akzent. In seinem Englisch-Leistungskurs in der 11. Klasse lässt er die Jugendlichen nicht einfach diskutieren, sondern debattieren. Nach festen Regeln üben sie die Kunst des verbalen Schlagabtausches: Vanessa, Franziska und Ole argumentieren für die Ehe, Anne, Fabienne und Louis streiten für das Single-Leben. Matthew, ein Austauschschüler aus den USA, überwacht das Rededuell. Zwei Minuten lang fliegen die Argumente hin und her.

Kurze Analyse: Was war gut? Was war schlecht? Wurde da etwa jemand ironisch? Nicht erlaubt bei einer Debatte. Lehrer Heiko Haschke fordert seine Schüler heraus: „Ich will von Euch nicht deutsche Sprache hören, übersetzt wie Lothar Matthäus, wenn er sagt: ‚I am for Bayern‘. Benutzt rhetorische Stilmittel!“ Dann kommt die nächste Gruppe dran. Zwei Schüler halten aus dem Stegreif ein Plädoyer für die Freigabe oder die Bestrafung des Besitzes von Marihuana. Jeder wird mit einbezogen, alle Schüler machen mit. „Herr Haschke verlangt viel von uns“, sagt Ole, 17. „Aber er ist fair.“

Professor Schratz von der Schulpreis-Jury kennt viele Schulen. Bei seinem Besuch in Neuruppin hat ihn nicht nur das hohe Niveau im Unterricht beeindruckt –, sondern auch das Klima: „Von dieser Schule können andere viel über die Wirkmächtigkeit von Ritualen lernen, wenn sie gelebt werden. Sie ist nicht traditionell religiös, aber legt Wert auf starke Bindungen. Das ist wichtig, denn wir wissen: Ohne Beziehung funktioniert Lernen nicht.“ Der Tag beginnt mit einer „Morgenbesinnung“, einem kurzen Moment des Innehaltens, Schüler oder Lehrer lesen Texte vor, die nachdenklich machen. Auch so versucht die Schule ihre Schüler für ethisch-soziale Fragen zu sensibilisieren. „Wir sind eine evangelische Schule, aber offen für alle“, sagt Anke Bachmann.

Hier lernen Kinder von Hartz-IV-Empfängern gemeinsam mit den Söhnen und Töchtern von Ärzten und Richtern. 70 Prozent der Schüler zahlen entweder kein Schulgeld oder nur den Mindestsatz von 45 Euro im Monat. Viele sind ganz vom Schulgeld befreit. „Wir sind keine Privat- oder Eliteschule“, betont Schulleiterin Anke Bachmann. Schüler und Eltern sind extrem zufrieden mit ihrer Schule. 96 Prozent der Mütter und Väter sagten bei einer Umfrage: „Ich schicke mein Kind gern auf diese Schule.“ Und fast 90 Prozent der Schüler gaben an: „Ich gehe gern in diese Schule.“ Das spricht sich rum: Inzwischen gibt es doppelt so viele Bewerber wie Plätze. Manche Schüler reisen jeden Tag aus Berlin an.

Die Kaserne ist quadratisch, praktisch, die Klassenräume sind sauber, aber nicht besonders aufwendig gestaltet oder dekoriert. „Wir sind nicht besser ausgestattet als staatliche Schulen – eher schlechter“, sagt die Schulleiterin. In Zukunft will das Land Brandenburg die Mittel für freie Schulen vor allem im Grundschulbereich kürzen. Elitär sind am „Evi“ die Ansprüche. Hier wird nicht Stoff vermittelt, sondern umfassende Bildung. „Unsere Schüler bringen viel Potential mit. Das fördern wir“, sagt Anke Bachmann. „Und wir erziehen sie dazu, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen.“ Wertschätzung zieht sich wie ein roter Faden durch die Schule. Die Schüler erfahren: Du bist wertvoll. Und sie spüren: Ich leiste Sinnvolles. Man traut mir etwas zu. Zum Beispiel, wenn Schüler aus dem Englisch-Leistungskurs Jüngeren aus der 10. Klasse bei den Vorbereitungen für die Prüfungen in Englisch helfen.

Oder indem Gymnasiasten wie Lea und Maria in der Grundschule unterrichten. Die beiden 16-Jährigen übernehmen stundenweise die Klasse 3a. Der Umgang wirkt vertraut; die achtjährige Emilie läuft auf Lea zu und umarmt sie. Emilie, Hugo und Hannah freuen sich nicht nur über die Aufmerksamkeit durch die Großen und ihre Hilfe bei den „Schätzaufgaben“ in Mathe. Die beiden 16-jährigen Mädchen sind für Klassenlehrerin Tanja Hager-Cap auch „eine echte Entlastung“. Sie nutzt die Zeit auch schon mal für Fortbildungen. Auch Schüler aus der Ober- und Mittelstufe, die das Schulcafé „Tasca“ managen, lernen Verantwortung zu tragen. Ole aus der 11. Klasse ist der Vorstandsvorsitzende der Firma, in der Schüler von der 7. bis zur 13. Klasse arbeiten. Ole leitet nicht irgendeine Oberstufen-Teeküche, nein, das „Tasca“ ist ein richtiger Coffee-Shop. Er hat den Schlüssel zu dem Café, ist Ansprechpartner für seine Vorstandskollegen, die Dienstpläne erstellen, Preise kalkulieren und fair gehandelten Kaffee einkaufen. Ole organisiert auch Veranstaltungen wie das Schulfest oder den Band Contest. „Es macht Spaß, hinter der Bar zu stehen“, sagt er. „Und man lernt mit Stress umzugehen.“ Im vergangenen Geschäftsjahr konnte die Schüler-Aktiengesellschaft einen Gewinn von 2 500 Euro verbuchen.

Auf dem Schulhof hinter der ehemaligen Kaserne verläuft keine unsichtbare Trennlinie zwischen den Schulformen wie bei so vielen Schulzentren. Oberschüler und Gymnasiasten proben gemeinsam fürs Musical oder arbeiten im „Tasca“. Und die Schüler einer Stufe gehen selbstverständlich gemeinsam auf Klassenfahrt – egal, welcher Schulform sie angehören. Am „Evi“ soll jeder Schüler nach seinen Möglichkeiten und Interessen gefördert werden. Dafür probieren die Lehrer auch neue Unterrichtsmethoden aus. Mathe in der 7b: Textaufgaben und Prozentrechnen – schon bei dem Gedanken bricht vielen Schülern der Angstschweiß aus. Das ist auch am „Evi“ nicht anders. Deshalb haben Mathelehrerin Kerstin Zimmermann, 28, und die Kunstlehrerin Regine Ludwig, 29, ein fächerübergreifendes Projekt entwickelt: Sie lassen die Siebtklässler Comics zu Mathe-Aufgaben zeichnen. Eine lautet zum Beispiel: Auf dem Campingplatz am Birkensee werden aus betriebsbedingten Gründen die Preise für Stellplätze für das kommende Kalenderjahr um 12 Prozent angehoben. Berechne den Stellplatzpreis, wenn Kais Großeltern bisher für ihren Wohnwagen pro Saison 410 Euro bezahlen mussten. Elisa, Luisa und Emily malen ein Bild mit Wohnwagen und Wiese, einer durchgestrichenen Preistafel und einem Männchen mit Gedankenblase „Oh nöö!“. Dabei diskutieren sie über die Fragestellung. Die Dreier-Gruppe neben ihnen sucht nach einer künstlerischen Umsetzung für die Preiserhöhung im Autohaus „Flitzer“, eine andere denkt über Rabatte beim Sommerschlussverkauf nach. Gelöst werden die Aufgaben zu Hause.

Und was bringt das? Kunstlehrerin Regine Ludwig erklärt: „Es ist eine enorme Leistung, ein so komplexes Problem kreativ umzusetzen. Dabei werden die Hirnhälften vernetzt.“ Die 13-jährige Nathalie sagt es mit ihren Worten: „Man muss die Aufgabe verstanden haben, sonst kann man sie ja nicht malen.“ In Bayern, wo sie bis vor einem Jahr zur Schule ging, erzählt Nathalie, wurde der Lernstoff so durchgezogen: „Der Lehrer schreibt was an die Tafel, Test, neuer Stoff .“ Am „Evi“ fällt ihr das Lernen leichter. Und in Mathe hatte sie vorher eine Vier, jetzt steht sie zwischen Zwei und Drei. „Frau Zimmermann ist manchmal streng, aber nicht fies.“ Auch Rollenspiele haben sie in Mathe schon gemacht. „Ich finde es cool, dass wir solche Sachen machen.“

Die Lehrer schätzen die Freiheit, immer wieder etwas Neues ausprobieren zu können. Vor drei Jahren führten sie eine neue Zeitrechnung ein. Bis dahin dauerten die Doppelstunden 90 Minuten. Von jeder wurden zehn Minuten abgezogen. Nun dauert eine Schuleinheit am „Evi“ nur noch 80 Minuten. Die freiwerdende Zeit bekommen die Schüler für individuelles Arbeiten. In der Sekundarstufe I stehen einmal pro Woche 80 Minuten „Lernzeit“ und 80 Minuten für die Arbeit am „Wochenplan“ auf dem Stundenplan. Die Themen geben die Lehrer vor. Wochenplan-Arbeit in der 7b: Während Bela einen Aufsatz für Biologie über die Veränderungen während der Pubertät schreibt, übt Nathalie Französisch- Vokabeln. Auf dem Lehrerpult steht ein Laptop für Recherchen im Internet. Klassenlehrerin Sabine Hickel, 47, hilft und erklärt, falls ein Schüler Fragen hat. „Die Schüler lernen, Aufgaben zu planen und sich ihre Zeit einzuteilen.“ Wochenplan, Lernzeit, Klausuren – Joseph hat das alles bald hinter sich. Der 18-Jährige ist der Schulsprecher der Evangelischen Schule und macht gerade sein Abitur. Vielleicht will er Schauspieler werden. „Ich werde diesen unglaublichen Zusammenhalt vermissen.“ Auch Johanna muss nur noch eine mündliche Prüfung bestehen, Biologie. Dann hat sie ihr Abitur geschafft. „Am Anfang habe ich es für Frau Bachmann gemacht. Weil sie an dem Nachmittag zu mir gekommen ist. Jetzt sage ich mir: Das ist gut für mich.“