Porträt

„Paul-Martini-Schule? Noch nie gehört!“, tönt der Taxifahrer am Hauptbahnhof in Bonn. Wenige Minuten später stoppt er seinen Wagen vor einem zweistöckigen Jahrhundertwende-Rotklinkerbau auf dem Gelände der Rheinischen Kliniken und mustert ihn, als wolle er sich vergewissern, dass die Lücke auf seinem inneren Stadtplan real ist.

„Uns findet man eben nicht so leicht“, weiß Elfriede Link und schaut vergnügt aus ihrem Büro in den verwunschenen Hinterhof der ehemaligen Frauenpsychiatrie-Station, in der seit 2005 junge Patienten der Kliniken unterrichtet werden – vom Vorschüler bis zum Abiturienten. Eine „Schule für Kranke“ mit einem eigenen Schulgebäude ist eine Seltenheit in Deutschland, doch die 56-jährige Leiterin scheint sich nicht an der mangelnden Bekanntheit zu stören. Im Gegenteil: Das Haus ist Lern- und Schutzraum zugleich, seine Isolation Voraussetzung für pädagogische und therapeutische Erfolge.

Für künstlerische allemal, das verraten Kunstwerke im ganzen Schulhaus: Makroaufnahmen von Blüten, Foto-Dokumentationen, Illustrationen und Texte, die von den Gedanken und Gefühlen der jungen Patienten erzählen, die nebenan im Krankenhaus behandelt wurden und hier zur Schule gingen. Ein Mädchen namens Miriam* schreibt: „Warum ich hier war, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur: Ich bin wieder ich. Und darauf bin ich sehr stolz.“

Die Kinder und Jugendlichen leiden unter seelischen Problemen, haben ADHS, Autismus, Angst-, Ess- oder Zwangsstörungen, eine verzögerte Sprachentwicklung, manche sind traumatisiert. In den drei Außenstellen der Schule, der Kinderchirurgie, dem Kinderneurologischen Zentrum und der Kinderklinik, werden Kinder mit chronischen Erkrankungen wie Rheuma, Diabetes, Mukoviszidose oder Krebs unterrichtet. Einige besuchen die Schule für ein paar Wochen, andere bleiben Monate. 21 Sonderpädagogen sind für bis zu 130 Kinder und Jugendliche da.

Florian* war zehn Wochen lang in der Psychiatrie. „Wegen Depressionen“, sagt er ganz unbefangen. Vier Wochen nach seiner Entlassung ist der sportliche 16-Jährige zu Besuch in der Musik-AG von Birger Kohlhase und haut in die Saiten, wie immer am liebsten „Layla“ von Eric Clapton. In einer Pause lehnt er sich entspannt auf die Gitarre und erzählt von seiner Krankheit: „Ich war völlig antriebslos. Alle haben gesagt, reiß dich zusammen. Aber das bringt nichts!“ Als er anfing, sich zu „ritzen“, besorgte die Mutter ihm einen Therapieplatz.

„Solche Krisen sind keine Seltenheit in der Pubertät“, sagt Elfriede Link. Häufig hängen sie auch mit der persönlichen Lebensplanung zusammen, weshalb sie es als Aufgabe der Schule sieht, gemeinsam mit Therapeuten, Eltern und der Heimatschule, Perspektiven zu entwickeln: Wo liegen meine Talente? Welche Ziele habe ich? „Irgendwann stand die Frage im Raum: Muss ich überhaupt auf ein Gymnasium gehen?“, erzählt Florian. Er entschied sich für den Wechsel auf eine Realschule mit Schwerpunkt Musik. Kein Einzelfall, wie Elfriede Link betont: Die Hälfte der Schüler, die wegen einer Krise kommen, wechselt die Schule. „Die AG hat mich im Musikmachen bestärkt“, sagt Florian. „Das hat mir Kraft gegeben.“

Kreatives Arbeiten, das sich eng an den Interessen und Talenten der Schüler orientiert, nimmt einen wichtigen Teil des Unterrichts ein. Das hat manchmal sogar Vorrang vor den Hauptfächern. Im Kunst-Atelier arbeiten Schüler im Malerkittel an großen Staffeleien, in der Schreibwerkstatt brüten sie über Gedichten. Die „AG Intermezzo“ sammelt und verfasst Texte für eine Schülerzeitung, die zweimal im Jahr erscheint, darunter viele autobiografische Texte der Schüler. Das Wochenende beginnt freitags um 12 Uhr mit „Radio PMS“: Eine halbe Stunde lang lauscht die ganze Schule den Stimmen der Radio-Macher, die kleine Beiträge über die Schule und das Weltgeschehen vorlesen und Musik einspielen. Lautsprecher übertragen das Live-Programm in jeden Klassenraum.

Als Elfriede Link 2001 an die Paul-Martini-Schule kam, fanden die Schulstunden in Therapieräumen auf den Stationen statt, und als Lehrerzimmer dienten leerstehende Räume in dem damals von Asylbewerbern bewohnten Gebäude. Als sich deren Umzug andeutete, witterte Elfriede Link ihre Chance. Sie schrieb ein Konzept für eine Krankenschule, die unabhängig und zugleich Hand in Hand mit den Therapeuten arbeitet, sprach bei Chefärzten und der Verwaltung vor, stellte Anträge an den Schulträger, die Stadt Bonn. „Es ging mir darum, einen Ort zu schaffen, an dem die Kinder und Jugendlichen in erster Linie Schüler und nicht Patienten sind“, sagt sie heute. An dem nicht jeden Tag alle Spuren des gemeinsamen Arbeitens nach Unterrichtsschluss getilgt werden müssen. Sie hatte Erfolg – und das, obwohl die von ihr geplante Institution gar nicht im Schulgesetz verankert ist. „Offiziell gelten wir weder als Förderschule noch als Regelschule.“ In einer Veröffentlichung des Ministeriums heißt es: „Die Paul-Martini-Schule ist eine Schule eigener Art“. „Ich sag’ dann immer, wir sind eine eigenartige Schule“, sagt Elfriede Link. „Und dann zähle ich unsere Eigenarten auf.“

Da ist zum einen die Größe der Lerngruppen, die selten mehr als zehn Schüler umfassen, dafür aber stets zwei Klassenstufen vereinen und individuelle Förderung in den Vordergrund stellen. Wie in der Gruppe aus Erst- und Zweitklässlern, die Oliver Belkot, 30, an diesem Morgen unterrichtet: Der neunjährige Simon sitzt still über seinen Rechenaufgaben, während Meysam, 7, ein Puzzle legt. Sein Nebenmann hingegen kann sich kaum auf dem Stuhl halten und rennt plötzlich auf die Toilette. Belkot hält ihn nicht auf, doch wenn ein Schüler es zu weit treibt, setzt er die hölzerne Wäscheklammer mit seinem Namen auf einer Papp Ampel von „grün“ auf „gelb“. Bei „rot“ angekommen, fällt der belohnende Griff in eine Süßigkeitenkiste am Ende der Stunde aus. „Wir nehmen Rücksicht, wenn Kinder impulsgesteuert handeln“, sagt er. Zugleich aber müsse positives Verhalten verstärkt werden.

„Unser Ziel ist es, die Kinder auf den Besuch einer Regelschule vorzubereiten.“ Auch die sechs Jugendlichen, die eine Tür weiter über ihren Aufgaben sitzen, nutzen ihre Zeit an der Paul-Martini-Schule als Experimentierfeld. Die Neunt- und Zehntklässler besuchen die Schule im Rahmen einer mehrwöchigen stationären Stotter-Therapie an der Klinik. Im Klassenraum können sie ihre Fortschritte in Form von Rollenspielen einüben. „Wir sind eine mobbingfreie Zone“, sagt Elfriede Link. In ihrem Haus stehen therapeutische und pädagogische Ziele oft im Vordergrund, etwas anderes lassen die Diagnosen vieler Schüler gar nicht zu. Doch wo es geht, wird auch Leistung gefordert, etwa bei den Vorbereitungen auf externe Haupt- und Realschulabschluss-Prüfungen. Auch das Proben von Bewerbungsgesprächen oder die schrittweise Rückkehr an die alte Schule dient dem Ziel, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. „Wenn ein Schüler uns verlässt, sagen wir nicht: Auf Wiedersehen“, so Link. „Wir sagen: Lebewohl!“

*Namen geändert