Porträt

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Diese Schule hat kein einziges Klassenzimmer mehr. Ein großer Teil des Unterrichts am Oberstufen-Kolleg spielt sich in drei Sälen im Erdgeschoss ab – den sogenannten „Feldern", jedes so groß wie eine Turnhalle. Auf „Feld II" diskutiert an diesem Morgen der Literaturkurs über das „Männerbild im Islam". Ein paar Meter weiter haben sich die Spanisch-Schüler versammelt: Ein Radioreporter aus Nicaragua berichtet über die Pressefreiheit in seinem Land. Stellwände schotten die Gruppen voneinander ab.

Die Baukasten-Schule ist eine Reformidee aus den Siebzigerjahren. Der Vorteil: Sie lässt sich schnell umgestalten. Kleine Arbeitsgruppen können sich mit wenigen Handgriffen einen Raum schaffen. Nimmt man die Wände weg, haben schnell mal bis zu 400 Menschen Platz – beispielsweise im Februar 2010, als Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller eine Lesung am Kolleg hielt. Der Nachteil: So richtig heimelig fühlt man sich nicht hinter den Korkwänden. Doch Reformen sind am Bielefelder Oberstufen-Kolleg selten fest zementiert. Sie können so schnell wie Stellwände an die tatsächlichen Bedürfnisse angepasst oder in die Rumpelkammer verbannt werden. Bestehen bleibt nur, was von Schülern und Lehrern auf Dauer auch akzeptiert wird. Die Schule hat deshalb das „Feld III" in sechs Bereiche aufgeteilt und mit durchsichtigen Plexiglaswänden getrennt. Das ist zwar auch nicht gemütlicher als Stellwände, aber verringert die Nebengeräusche, sagt Lateinlehrerin Michaele Geweke. Sie übersetzt mit einem Kurs gerade einen Text über den römischen Friedensaltar, als auf der Galerie die ersten Schüler in die Mittagspause schlendern.

Völlig unbeeindruckt arbeiten sich die Elftklässler durch ihren Text. Der offene Raum fordert Rücksichtnahme von den einen und Konzentration von den anderen. „Vielfalt nutzen, Kompetenzen entwickeln, andere Wege zum Abitur gehen, auf Studium und Beruf vorbereiten" – so lautet einer der Leitsprüche des Oberstufen-Kollegs. Übersetzen könnte man ihn so: Die Schule will jungen Menschen dabei helfen, soziale und fachliche Kompetenzen gleichermaßen zu entwickeln. Im Kern geht es also um die Frage, wie viel Freiheit man den Kollegiaten – so heißen die Schüler hier – zumuten kann. Früher stand allen ein Monat pro Halbjahr für selbstständige Recherchen und Projekte zur Verfügung. Die Ergebnisse waren mager. „Damit haben wir die Schüler überfordert", sagt Kollegleiter Hans Kroeger.

Das Oberstufen-Kolleg, mitten auf dem Campus der Uni Bielefeld gelegen, war schon immer experimentierfreudiger als andere Schulen. Seit 36 Jahren versucht es sich an einer Neudefinition von Schule, Rückschläge konnten da nicht ausbleiben. Wie die Sache mit den Schulfächern. „Das sind künstliche Konstrukte", sagt Schulleiter Kroeger. „Sie vermitteln ein falsches Bild, es gibt ja keine in sich geschlossenen Wissenswelten." Früher gab es am Kolleg nur fächerübergreifenden Unterricht, selbst die Leistungskurse waren interdisziplinär angelegt. Daneben wählten die Schüler „Themenschwerpunkte". Sie nannten sich „Künstlerisch-Ästhetische Bildung", „Religion und Philosophie" oder „Naturwissenschaften" und verbanden mehrere Wissensbereiche miteinander. In dieser Form einzigartig in Deutschland.

Dann kam das Zentralabitur und auch die Versuchsschule musste sich den staatlichen Vorgaben anpassen: Themenschwerpunkte gibt es immer noch, die Leistungskurse unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen an anderen Schulen. Doch bei aller Veränderung an der Grundidee hält Schulleiter Hans Kroeger fest: „Wir verstehen unsere Schüler nicht als Objekte, denen man Wissen eintrichtert, sondern als Subjekte, die sich eigenständig Zusammenhänge erschließen." So untersucht beispielsweise der Mathekurs zunächst, wie die Reihenfolge der Google-Suchergebnisse zustande kommt. Dieselben Schüler entwickeln dann im Informatikkurs ein entsprechendes Computerprogramm. Der Biokurs ist zugleich ein Sozialkundekurs, wenn er sich damit beschäftigt, wie Armut und Ernährung zusammenhängen.

Am Oberstufen-Kolleg werden Grenzen neu gesetzt – auch im Umgang miteinander: In den Pausen sitzen Lehrer und Kollegiaten gemeinsam im Schulcafé. Die Lehrer haben kein Lehrerzimmer, sondern Arbeitsnischen, wer eine Frage hat, geht einfach hin. Der Schreibtisch von Biologielehrer Andreas Stockey steht sogar mitten im Flur vor den Fachräumen der Naturwissenschaften. Hier verbringt er die große Pause heute mit Schüler Tobias Romankiewicz vor einem Laptop. Zwölftklässler Romankiewicz besucht den Leistungskurs von Andreas Stockey. In der Projektwoche vor den Sommerferien hat er mit seinem Kurs die Pflanzenwelt auf Hallig Hooge erforscht: Wo wachsen Rotschwingel und Strandweizen? Wie hoch ist jeweils der Salzgehalt im Boden? Ihre Ergebnisse präsentierten sie der ganzen Schule auf dem „Produkttag", der halbjährlichen Kompetenz-Messe des Kollegs. Jetzt – Wochen später – vergleicht Tobias die Messwerte mit denen der Vorjahre, er macht das freiwillig.

Tobias ist schon 22 Jahre alt, seine sanfte Art will nicht so recht zum Heavy-Metal-Look mit langen Haaren und schwarzen Klamotten passen. Er hat eine „schwierige Schullaufbahn" hinter sich, wie er selbst sagt. Er musste drei Mal wiederholen – erst an der Haupt-, dann an der Realschule. Schließlich – mit 19 – schaffte er es doch auf das Oberstufen-Kolleg. Im kommenden Jahr macht er Abitur. Er will Biologie studieren. Am Oberstufen-Kolleg kann er Leistung bringen, weil die Lehrer auch ihn individuell fördern. Der Unterricht ist „kompetenzorientiert". Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich ein einfaches Prinzip: Jeder löst im Unterricht die Aufgaben, die ihn zwar fordern, aber nicht überfordern. In „Brückenkursen" gleichen die Schwächeren ihre Lücken aus und in „Lernbüros" bekommen sie Hilfe von Mitschülern.

Auf der anderen Seite steht die Förderung von Talenten durch Mentoren: Biologielehrer Andreas Stockey hilft Tobias, seine Begabung in den Naturwissenschaften zu entwickeln – wie bei der zusätzlichen Arbeit am Hooge-Projekt. Zugleich zeigt er ihm Wege in Studium und Berufsleben auf. „Wenn Schüler scheitern, liegt das meist nicht an mangelndem Interesse", sagt Schulleiter Kroeger. Gründe hierfür sind Frontalunterricht und mangelnde Förderung. Am Kolleg stehen Eigenverantwortung und Gruppenarbeit im Vordergrund. Die Schüler stellen ihren Stundenplan selbst zusammen. Lehrer sehen sich in der Rolle von Helfern und Beratern. Selbst die Noten sollen möglichst partnerschaftlich vergeben werden. Auf einem Formular notiert Tobias eine Selbsteinschätzung. Der Lehrer antwortet mit seiner Bewertung. So bleibt Notenvergabe zwar Notenvergabe – aber es entsteht ein Dialog über die Leistung. „Wir wollen ein Arrangement zum selbstständigen Arbeiten schaffen", sagt Schulleiter Kroeger.

Wer mit dieser Verantwortung umgehen kann, meistert später erfolgreich das Studium, das melden Unis, die ehemalige Kollegiaten aufgenommen haben. Allerdings: Ein knappes Drittel der Schüler verlässt die Schule vor dem Abi – zu viele, wie Kroeger zugibt. Manche Schüler sind schon 25, wenn sie vom Kolleg aufgenommen werden, um ihr Abitur zu machen. Viele hatten nach der Realschule eine Ausbildung absolviert. Oder einfach nur gejobbt. Die Hälfte hat keine Empfehlung fürs Gymnasium. Bei der Aufnahme zählen neben Deutsch- und Mathetests individuelle Gespräche die ausschlaggebend für ihre Aufnahme sind. „Dabei geht es vor allem um die persönliche Motivation des Bewerbers", sagt Kroeger. Doch der Schulleiter warnt: „Wer glaubt, bei uns könne man leicht sein Abi nachholen, täuscht sich." Zwar zwingt einen niemand zur Mitarbeit, doch das heißt nicht, dass man nichts leisten muss. Ganz im Gegenteil: Früher haben die Schüler sogar die Inhalte eines Kurses eigenständig geplant und den Stoff selbst ausgewählt. Mittlerweile gibt es wieder mehr Vorgaben durch die Lehrer – auch eine Reaktion auf die hohe Abbrecherquote. „Das ist immer eine Gratwanderung zwischen Freiheit und Lenkung", sagt Kroeger.

Mathias Becker

Kurzportrait des Oberstufen-Kolleg Bielefeld, Preisträger des Deutschen Schulpreises 2010.

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Die Kinder der Klasse 2a sitzen im Stuhlkreis und schauen sehr ernst. „Er hat nicht mal auf unser Stoppzeichen reagiert", empört sich Kira, „er hat einfach weitergemacht." Dabei sollte Daniel ganz genau wissen, wann der Spaß aufhört. Beispielsweise, als der Erstklässler Kira und ihre Freundin Edona bei der Arbeit an einem Plakat störte und ihnen dann auch noch die Zunge rausstreckte. Die beiden Mädchen fühlten sich ohnmächtig gegenüber dem frechen Jungen, heute holen sie sich deshalb Rat bei ihrer Klasse. Was tun? „Holen wir ihn doch mal her", schlägt ein Junge vor.

Wer beschuldigt wird, soll reagieren können. An der Grundschule Süd in Landau dürfen Kinder ihre Mitschüler auch mal aus dem Unterricht in ihren Klassenrat holen, wenn es ein gewichtiges Problem gibt. Das Gremium tagt jede Woche. „Das Zwischenmenschliche geht vor", sagt Schulleiterin Siglinde Burg, „erst wenn solche Störungen behoben sind, haben die Kinder die innere Ruhe zum Lernen." Konflikte gemeinsam zu lösen, gehört an der kleinen Grundschule mit 204 Schülern zum Alltag. Die Schule ist Modellschule des Landes Rheinland-Pfalz für Partizipation und Demokratie. Konkret heißt das: „Wir lassen die Kinder so viel wie möglich selbst entscheiden", erklärt die Schulleiterin. Beispielsweise, wie der Schulhof aussehen soll, oder den Ablauf und die Beiträge für ein anstehendes Schulfest, aber auch, in welchem Tempo sie den Mathestoff lernen.

Erstklässler Daniel nimmt in der Mitte des Stuhlkreises der 2a Platz, Kira und Edona sitzen ihm gegenüber. „Wieso hast du uns die Zunge rausgestreckt?", fragt Kira. Daniel zuckt mit den Schultern. „Wolltest du die beiden ärgern?" fragt ein Junge aus der Klasse. „Ja, ärgern", sagt Daniel leise. „Hat dich wer anders geärgert und du wolltest deine Wut loswerden?", fragt Kira schon etwas milder. Daniel nickt. Ein Mitschüler schlägt vor: „Daniel sollte sich entschuldigen und dann ist es gut".

Die Stopp-Regel kennen schon die Kleinsten an der GS Süd. Sie ist eine der wichtigsten Regeln fürs Zusammenleben an der Schule. Die Schüler haben sie in langer Diskussion selbst festgelegt. Inzwischen hat die Schule ein klar strukturiertes demokratisches System. Die Klassen wählen je zwei Abgeordnete für das Schülerparlament, das die monatlichen Schulversammlungen vorbereitet. Hier stimmen alle Schülerinnen und Schüler über Anträge und Vorschläge ab. Die Verantwortung der Schüler geht an der GS Süd weit über das Streitschlichten hinaus, betont Burg: „Die Kinder machen Vorschläge und reden auch bei ihrem Lernalltag mit."

Die Viertklässlerinnen Lena und Isabell stehen an der Breitseite der Turnhalle, die ganze Schule sitzt zu ihren Füßen. Auch die Lehrerinnen nehmen zwischen den Schülerinnen und Schülern auf dem Hallenboden Platz, seit sie das Parlament dezidiert dazu aufgefordert hat. Die Kinder wollten auf Augenhöhe mit den Erwachsenen diskutieren. Willkommen zur Schulversammlung", sagt Lena laut und zeigt auf die Tafel hinter sich: „Erster Tagesordnungspunkt: Die Rollerbahn." Die aufgemalte Rollerstraße auf dem Schulhof soll in Betrieb genommen werden. Aber welche Regeln gelten dafür? „Darf man da auch mit Rollschuhen fahren?", fragt eine Zweitklässlerin. Ein Viertklässler meldet sich: „Das ist vielleicht zu gefährlich." Viele Hände heben sich. Isabell ruft ein Kind nach dem anderen auf, jedes sagt seine Meinung. Muss man einen Helm tragen? Wie machen wir es mit der Aufsicht? Am Ende fasst Lena zusammen: „Ich würde vorschlagen, wir versuchen es erstmal nur mit Rollern. Alle müssen Helme tragen und die Roller selbst mitbringen. Wenn das funktioniert, können wir bei der nächsten Versammlung über das Rollschuhlaufen sprechen. Sind alle einverstanden?" Es gibt keinen Widerspruch.

Am Ende der Versammlung haben die Schüler auch das Lesecafé neu organisiert, das Projekt Planetenstraße der 3b im Schulhaus und das Lebensturm-Projekt dreier Viertklässler kennengelernt: Ein Holzgerüst auf dem Schulhof, das Insekten Lebensraum bietet. „Ihr könnt die Planetenstraße und den Lebensturm für die Neugierzeit nutzen", sagt Schulsprecherin Isabell zum Abschied. In der „Neugierzeit" dürfen die Schüler überall auf dem Schulgelände recherchieren. Nur das Oberthema ist vorgegeben. Sie können in der Leseecke im Flur schmökern, die Holzwürfel aus dem Geometrie-Regal nutzen, auf dem Schulhof, im Schulgarten oder im Internet recherchieren. In Vorträgen und auf Plakaten teilen sie ihren Mitschülern ihre Erkenntnisse mit. „Wir machen die Kinder neugierig", sagt Lehrerin Zsuzsanna Kern. Manchmal bedrängen sie Eltern: „Bringen Sie meinem Kind das Rechnen bei." Die Lehrerin sagt dann: „Ich kann den Kindern nichts beibringen, ich kann ihnen nur helfen, etwas zu lernen."

Am demokratischen Lernen arbeitet das Kollegium seit der Gründung der Schule vor neun Jahren. „Es ist ein ständiger Entwicklungsprozess", sagt Schulleiterin Burg. Anfangs waren die Eltern skeptisch: Demokratie ist ja schön und gut, aber sie braucht so viel Zeit. Die Kinder sollen doch was lernen! „Um erfolgreich zu lernen, muss man beteiligt sein, nur so lernt man sich einzuschätzen", erwidert Burg auf solche Einwände. Deshalb hängen die Lehrerinnen die Lernziele für jedes Schuljahr in den Klassenräumen aus. In Lernverträgen vereinbaren sie Ziele mit jedem einzelnen Schüler und dessen Eltern. Die Kinder können sich mit kleinen Tests selbst überprüfen und herausfinden, was sie noch üben müssen. Leistung sei nichts Negatives, findet Burg, es kommt auf die Perspektive an: „Mal sehen, was ich schon kann." Leistung muss keinen Druck erzeugen.

Nach der Schulversammlung eilt Schülersprecherin Isabell in ihr Klassenzimmer zu ihrer nächsten Aufgabe, sie ist Wahlleiterin. Es ist Pause. Im Zimmer der 4a läuft Rap-Musik, auf den Tischen stehen Brotdosen. Bei Regenwetter gibt es die „Drinnenpause". „Hört mal alle zu", ruft das neunjährige Mädchen mit den großen braunen Augen, „wir wählen jetzt Abgeordnete für unsere Klasse." Immer nach den Ferien werden die Klassensprecher neu gewählt. Die Kinder versammeln sich im Stuhlkreis. „Was muss ein Abgeordneter können?", fragt Isabell in die Runde. Er muss gut reden können, den Überblick behalten, unsere Anliegen vertreten, werfen die Kinder ein. „Wen schlagt ihr dafür vor?" Isabell steigt auf einen Stuhl und schreibt die Namen der Kandidaten an die Tafel. „Wir machen eine geheime Abstimmung, schließt alle die Augen." Sie verliest die Namen, die Schüler wählen per Handzeichen. Ihr Mitschüler Lucien bekommt die meisten Stimmen.

„Du hast viel Verantwortung, traust du dir das zu?", fragt ihn eine Mitschülerin. „Ich habe früher viel Quatsch gemacht, aber ich habe mich verändert", sagt der Wahlsieger, „Ich werde euch gut vertreten." Die Klassenvertreter müssen sich bewähren. „Niemand wird gewählt, nur damit er auch mal drankommt", sagt Schulleiterin Burg. Auch das ist eine Lektion in Demokratie, die schon in der Grundschule wichtig ist, findet Burg: „Je früher Kinder mit dem System vertraut gemacht werden, desto mehr Demokraten bringen wir hervor." Auch im Schulalltag spürt Burg die Vorteile der Mitverantwortung: Die Schüler fühlen sich wertgeschätzt, sie sind zufrieden.

Obwohl zwei soziale Brennpunkte im Einzugsgebiet der Schule liegen, gibt es kaum Konflikte. Die Mitbestimmung der Kinder hat allerdings auch Grenzen. Wenn die Lehrerinnen den Eindruck haben, dass eine Klasse mit einer Entscheidung überfordert ist, mischen sie sich vorsichtig ein. Meistens jedoch ermuntern sie die Schüler, selbst nach Lösungen zu suchen. „Fragt bei der Stadt nach", sagt Sieglinde Burg, wenn die Schulversammlung ein Baumhaus oder einen neuen Fußballplatz fordert. Die Kinder recherchieren, wer der richtige Ansprechpartner für ihr Anliegen ist. „Wann kriegen wir einen Boltzplatz?", haben Ferdinand aus der 2b und Jakob aus der 3b an den „sehr geehrten Herrn Hans-Dieter Schlimmer" geschrieben. Der OB beantwortet jede Anfrage direkt an die Schüler, die Antworten hängen im Schulhaus aus. Die Nachfrage hat sich gelohnt: Der Boltzplatz ist bald fertig.

Eva Wolfangel

Kurzportrait der Grundschule Süd in Landau, Preisträgerin des Deutschen Schulpreises 2010.

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An dieser Schule schaut man sich vergeblich nach Tafeln und Pulten um. Statt Kreidestaub steigt hier der Geruch von Sägespänen, Schmieröl und Wandfarbe in die Nase. „Moin, Frau Elias“, grüßen zwei Jugendliche in blauen, dreckverschmierten Latzhosen als sie die Werkshalle durchqueren. Einer von ihnen hat eine lange Aluminiumleiter geschultert. Sie sind auf dem Weg zu ihrer Baustelle.

„Das herkömmliche Schulsystem hat bei unseren Leuten nicht gegriffen, deshalb probieren wir etwas anderes mit ihnen aus“, erklärt Sozialpädagogin Birgit Elias das Modell „Produktionsschule“: die Jugendlichen arbeiten, anstatt die Schulbank zu drücken. In richtigen Werkstätten und auf richtigen Baustellen. Nebenbei schafft über die Hälfte den Hauptschulabschluss, den sich viele von ihnen schon gar nicht mehr zugetraut haben.

Die Schüler der Werkstattschule Bremerhaven gehören zu den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft: In einer ohnehin von Arbeitslosigkeit und sozialer Not geprägten Region sind sie die Außenseiter. Entweder weil sie als Teenager nach Deutschland kamen und nie wirklich die Chance erhielten, dem deutschsprachigen Unterricht gut zu folgen. Oder weil fehlende Unterstützung im Elternhaus es ihnen erschwerte, sich selbstbewusst in der Klasse zu behaupten – oder, oder, oder. Gründe zu versagen gibt es viele.

Wer von den Dauerschwänzern, Mehrfachabbrechern und notorischen Rausfliegern die Mitarbeiterin von der berufspädagogischen Beratungsstelle davon überzeugen kann, dass er es wirklich versuchen will, bekommt einen der 72 Plätze an der Produktionsschule – und die Gelegenheit, noch Wertvolleres zu erreichen als allein das Abschlusszeugnis: Viele erleben hier zum ersten Mal das Gefühl, überhaupt etwas zu können.

Diese Jugendlichen sehen sich häufig als Opfer. „Keiner mag mich, die haben was gegen mich.“ Dabei treffen sie laufend Entscheidungen. Frau Elias, zuständig für die Malergruppe, bringt ihren Schützlingen nicht nur bei wie man Türzargen und Fußleisten lackiert, sondern auch wie man Verantwortung übernimmt. Dafür nutzt sie jede noch so kleine Gelegenheit. Paul vermisst seinen Spachtel? „Selbst schuld. Wer auf seine Sachen aufpasst, wird auch nicht beklaut.“ Daniel wird von der Lehrerin einer Schule, an der sein Team gerade einen Auftrag erfüllt, vom Hof geschickt? „Kein Wunder, wenn du deine Arbeitskleidung nicht trägst!“ Zimperlich geht die 48-Jährige mit den Jugendlichen nicht um. Sie sind oft ohne Struktur groß geworden, ohne Halt. Umso wichtiger ist es, dass sie handfeste Regeln anzuerkennen lernen, wenn sie in ein, zwei Jahren eine Ausbildungsstelle finden wollen. „Die Chefs achten immer mehr auf die Persönlichkeit und das Sozialverhalten ihrer Azubis. Da muss man schon ‚Bitte’ und ‚Danke’ sagen können.“ Alles Handwerkliche lässt sich Elias – sollte ihre achtjährige Erfahrung an der Werkstattschule einmal nicht reichen – von einem Malermeister erklären, der auch an der Schule arbeitet.

Einer von Elias´ Schülern ist der 16-jährige Paul, Sohn polnischer Einwanderer, der mit seiner Mutter nach Bremerhaven ziehen musste, obwohl er lieber beim Vater in Berlin geblieben wäre. Oft geht der intelligente, blasse Blondschopf den anderen mit seiner Energie auf die Nerven, immer hat er das letzte Wort. „Ich sitze nicht gern auf Stühlen“, sagt er über sich selbst. Stattdessen hockt er auf dem Fußboden, den er und die anderen zum Schutz vor der Farbe mit Pappe abgedeckt haben, und schmiert Spachtelmasse in einen Riss in der Wand. Aus dem Handy klingelt ein „Bushido“-Song. „Ich bin auch Rapper“, erklärt Paul, der zu Hause jede freie Minute in seine Musik investiert. Eine Ausbildung will er trotzdem machen. „Maler“, sagt er stolz. Eigentlich tragen alle Schüler die gleiche blaue Arbeitskleidung. Aber Paul besitzt schon eine richtige Gesellenhose und trägt passend dazu ein weißes Sweatshirt. Auf seinem Kopf thront eine weiße Baseballmütze mit silberfarbenem „Yankees“-Logo.

Nicht alle haben sich schon auf einen Berufswunsch festgelegt. Regina will „vielleicht Friseurin werden, vielleicht Verkäuferin.“ Für den Augenblick ist es egal, ob die Schüler malen oder Holz bearbeiten, ob sie zu den Metallarbeitern, Maurern, Bootsbauern oder Druckern gehören. „Wichtig ist, dass sie überhaupt arbeiten“, sagt Lehrerin Elias, „und zwar real.“

Denn die Teams, je acht Schüler, arbeiten an richtigen Aufträgen an Schulen, Kindergärten und Verwaltungsgebäuden. „Natürlich zahlt die Stadt uns weniger als eine richtige Firma bekommen würde, wir brauchen einfach länger. Aber sie zahlen richtiges Geld, und dafür müssen wir auch richtige Arbeit abliefern.“ Ist ein Auftrag einmal angenommen, wickelt Elias ihn zusammen mit ihren Schülern von Anfang bis Ende ab: vom ersten Sichten und der Berechnung der benötigten Farbmenge bis hin zum Aufräumen und Reinigen der Baustelle. Ihren Hauptschulabschluss schaffen die Jugendlichen mit nur einem regulären Schultag pro Woche. Donnerstags versammeln sie sich im einzigen Unterrichtsraum, der etwas abseits im Obergeschoss liegt und eher nach Konferenz- als nach Klassenraum aussieht. Das Nötigste nur in Politik, Deutsch und Mathe lernen sie dort. Aber auch im Praxisunterricht steckt jede Menge Theorie, zum Beispiel beim Berechnen von Flächen und Prozentwerten.

„Die Werkstattschule ist die letzte Chance für unsere Kundschaft“, sagt Schulleiter Gerd Liersch. Das erste Schuljahr startete er 1998, damals lautete der Auftrag für alle Beteiligten, sich eine eigene Schule erst einmal selbst zu bauen. Für den maroden Klinkerbau, von Lehrern und Schülern wegen seines gewölbten Dachs auch „Tonne“ genannt, hatte die Stadt keine Verwendung mehr als Liersch und seine ambitionierten Kollegen sie zugewiesen bekamen. Sie krempelten die Ärmel hoch, richteten das Gebäude wieder her und schufen den Beginn eines sich bis heute ständig wandelnden Projekts.

Neben den Schülern der Produktionsschule kommen noch etliche weitere Jugendliche in der Werkstattschule unter, die irgendwie aus dem System fallen: Zum Beispiel die Jugendlichen, die zwar einen Abschluss haben, aber noch keinen Ausbildungsplatz und die mit einer Mischung aus Unterricht und Praktikum ihre Chancen verbessern wollen. Oder behinderte Jugendliche und auch jene, die Deutsch als Fremdsprache erst noch lernen müssen. Dann gibt es die, die ihre Ausbildung gleich ganz an der Werkstattschule absolvieren. Und schließlich die „Kängurus“, wie die 15- bis 18-jährigen Mütter und Schwangeren liebevoll genannt werden, die hier die Hauptschule besuchen können, während ihre Kinder direkt nebenan von Tagesmüttern betreut werden.

In vielen Facetten beweist die Schule, dass man mit Kreativität und Engagement aus fast jeder Situation noch ein bisschen mehr herausholen kann. Das bekommen auch die Schüler zu spüren, vor allem, wenn sie Erfolge feiern. Eine Schülerin der Auftragsschule steckt den Kopf durch die Tür und fragt Paul und seine Kollegen: „Was machen Sie da?“ – „Siehst du“, erklärt Paul einem anderen. „Kaum trägst du Arbeitskleidung, siezen dich die Leute. Auf einmal bist du wer!“

Sara Mously

Porträt

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Die zehn Parlamentarier haben sich genau vorbereitet. Die Tagesordnung liegt vor ihnen auf dem Tisch, ordentlich in Klarsichtmappen abgeheftet, daneben ein spitzer Bleistift für Notizen – wie in der Einladung gefordert. Dominic, mit sieben Jahren der kleinste Abgeordnete, blickt mit großen, dunklen Augen erwartungsvoll zu Schriftführerin Gisela. „Ich eröffne das Schulparlament um 10.30 Uhr“, sagt Gisela Gravelaar, Schulleiterin der Wartburg-Grundschule in Münster. Wichtigster Punkt der Tagesordnung: Wer darf mit nach Berlin fahren, dem Bundespräsidenten Horst Köhler die Hand schütteln und möglicherweise die begehrte Trophäe entgegennehmen, den Deutschen Schulpreis?

„Unsere Schule gehört zu den 14 besten Schulen in Deutschland. Darauf können wir stolz sein“, sagt Schulleiterin Gisela Gravelaar, 53. „Leider können nicht alle zur Preisverleihung fahren. Fünf Schüler dürfen mit. Die wählen wir heute aus.“ Die Schulvertreter Lea und Hannes sind auf jeden Fall dabei. Bleiben noch drei. Schriftführerin Gisela gibt zu bedenken: Wer mitkommt, muss fünf Stunden mit dem Zug fahren, ohne Mama und Papa im Hotel übernachten. Nichts für Kinder mit Heimweh. Bei der Preisverleihung, die fürs Fernsehen aufgezeichnet wird, muss man lange still sitzen und vielleicht sogar Fragen über die Schule beantworten. Kolja, 11 Jahre, sagt selbstbewusst: „Also, ich denke: Das könnte ich ganz gut.“ Auch Dominic will mit nach Berlin. Am Ende werden Kolja, Peter und Simaw gewählt. Tapfer schluckt Dominic seine Enttäuschung herunter.

Routiniert gehen die zehn Schüler die übrigen Punkte durch: Einladung in die Handwerkskammer, Ansiedelung von Fröschen im Schulbach, Freigabe des neuen Klettergerüsts, Tag der offenen Tür für Eltern. Ein kurzes Blitzlicht: „Was fandest du gut?“, „Dass wir die Schüler für Berlin gerecht ausgewählt haben“, sagt Dominic, dann schließt Protokollantin Gisela pünktlich um 11.30 Uhr die Sitzung.

In der Wartburg-Grundschule in Münster begegnen sich die 360 Schüler und 40 Pädagogen und Erzieher auf Augenhöhe, alle sind per Du. Die Kinder dürfen mitbestimmen, nicht nur im Schulparlament. „Demokratie wird an dieser Schule ganz groß geschrieben“, sagt Enja Riegel. Die ehemalige Leiterin der legendären Helene-Lange-Schule in Wiesbaden ist Mitglied der Jury, die über die Vergabe für den Deutschen Schulpreis entscheidet. Nachdem sie die Wartburg-Grundschule im September zwei Tage lang inspiziert hat, stellt Enja Riegel der Wartburg-Grundschule ein hervorragendes Zeugnis aus: „Die Schule ist rundum sehr gut. Jedes Kind ist intensiv bei der Arbeit, mit sehr guten Materialien. Auch geistig behinderte Kinder werden integriert. An allen Ecken Kunst, dazu viel Theater und Musik. Und das alles in einer freundlich gelassenen und ermutigenden Atmosphäre.“ Nicht nur beim Schulklima und im Umgang mit der Vielfalt ihrer Schüler, auch bei den Kriterien Leistung, Unterrichtsqualität, Verantwortung und Schulentwicklung, erhielt die Schule hervorragende Noten.

Die Wartburg-Grundschule besteht aus vier hellen Häusern. Mit ihren flachen Dächern, großen Glasfronten und Holzterrassen erinnern sie an Reihenhäuser, nicht an eine Schule. „Kinder brauchen Geborgenheit“, erklärt Schulleiterin Gisela Gravelaar. „90 bis 100 Kinder sind in einem Haus untergebracht, sie kennen und helfen sich.“ Jedes Haus hat einen eigenen Zugang zum Garten. Während der großen Pause, die in der Ganztagsschule eine volle Stunde dauert, streifen Kinder durch die Büsche am Rand des Geländes, waten mit Gummistiefeln durch den Bach oder toben auf einem der vielen Klettergerüste herum. „Viele vergessen völlig, dass sie in der Schule sind, so sehr sind sie in ihr Spiel vertieft“, sagt Lehrerin Regina Schubert.

Die vier Häuser sind innen durch einen langen Flur miteinander verbunden. Überall auf dem Gang hängen Bilder und Kunstarbeiten der Kinder. Sogar die Toiletten haben sie gestaltet, Motiv in einem Mädchenklo: Indien. An der Wand prangt auf dunkelrotem Grund eine Tänzerin, ein Vorhang aus dünnem Organza hängt vor dem Waschraum. Nebenan bemalt eine Künstlerin zusammen mit Kindern gerade die Toilette der Jungs im Japan-Stil mit einem Sumo-Ringer. Die Häuser sind nach Kontinenten benannt: Afrika, Asien, Australien und Europa. Jedes hat zwei Stockwerke.

Unten sind zwei Klassen mit den Jahrgängen 1 und 2, darüber die Klassen 3 und 4. In drei Häusern dauert der Unterricht den ganzen Tag bis 15.40 Uhr, im Haus Asien endet der Unterricht mittags um 12.40 Uhr.

Das Gebäude, das 1996 gebaut wurde, spiegelt das Schulkonzept wider: Alle Türen haben Fenster – der Unterricht ist offen. Die Räume sind nicht rechteckig, sondern geschwungen und verwinkelt mit Nischen, in die sich die Schüler auf Sofas und Kissen zum Lesen und Arbeiten zurückziehen. In jeder Klasse steht ein Computer. Nur eine Tafel erinnert daran, dass man sich in einem Klassenzimmer befindet. In den offenen Regalen an den Wänden stehen bunte Kartons und Ordner, gefüllt mit Lernmaterialien, aus denen sich die Schüler gezielt nehmen, was sie brauchen.

Greta und Johanna sitzen im Untergeschoss des Europa-Hauses an einem Tisch. Die beiden Siar in die Klasse kommen, eine Nummer und suchen sich dann ihren Platz. „Dadurch sitzt man jeden Tag neben jemand anderem. Manchmal auch neben einem Kind, das man nicht so mag. Aber dann lernt man sich besser kennen und mag sich doch“, erzählt Greta.

Auf der Tafel steht der Plan für den Tag, heute liest ihn Karolina vor: „1. Tagesplan lesen, 2. Wochenarbeitsplan, 3. Frühstück und Pause, 4. Musik mit Wolfgang, 5. Mittagessen, 6. Was ihr wollt, 7. Faustlos, 8. Knobeleien.“ Gelernt wird in fächerübergreifenden Projekten und nach dem Wochenarbeitsplan, kurz „Wap“. Die Kinder bekommen viel Zeit zum Lernen: Der 45-Minuten-Takt wurde aufgehoben, die Stunden dauern 60 Minuten, oft gibt es Doppelstunden. Auch die Schulklingel wurde abgeschafft.

Johanna hat sich ihren „Wap“ gegriffen. Ein Heft, in dem rund zwanzig Aufgaben für die nächsten zwei Wochen stehen, zum Beispiel Aufgaben im Matheheft lösen oder Übungen im Schreibheft machen. Die Lehrer achten darauf, dass die Kinder alle Fächer gleichermaßen lernen. Wenn Johanna mit ihrem „Wap“ fertig ist, schreibt sie in ihr Heft, wie sie gearbeitet hat: Was ist ihr gut gelungen? Was nicht? Mit wem hat sie besonders gut gearbeitet? Denn oft gibt es Partner-Aufgaben. „Wenn wir im Wap alles fertig haben, dürfen wir Freiarbeit machen“, erklärt Johanna. Plötzlich ertönt ein Gong. Felina steht vor der Tafel, den Gong in der Hand. „Mir ist es hier zu laut“, sagt sie. Sofort sind alle 28 Kinder wieder ruhig. Felina geht an ihren Platz zurück und arbeitet weiter. Fachgespräche im Flüsterton sind erlaubt, lautes Gequatsche mit der Freundin nicht. Greta hat ihre „Lernlandkarte“ vor sich ausgebreitet. An einer langen Spur, die sich in Kurven über den DIN-A-3-Zettel schlängelt, stehen ihre Lernziele, abgeleitet vom offiziellen Lehrplan. Da heißt es zum Beispiel: „Ich kann anderen zuhören“, „Ich kann eigene Erlebnisse aufschreiben“ oder „Ich kann Zahlen bis 100“. Einige der Stationen hat Greta bunt angemalt, bei manchen steht „Ja“ dahinter, bei einigen „Nein“. „Nur Gisela darf die Kreise machen“, erklärt Greta. „Ich sage, was ich kann und sie prüft es mit mir.“ Schulleiterin Gisela Gravelaar unterrichtet zwölf Stunden bei den Igeln. „Wenn ich alles in der Lernlandkarte geschafft habe, dann komme ich zu den Luchsen“, erklärt Greta, die jetzt schon ein Jahr bei den Igeln ist. Die Luchse gehen in die Jahrgangsstufe 3 bis 4. Die Kinder lernen jahrgangsübergreifend, das heißt Erst- und Zweitklässler lernen zusammen, die Dritt- mit den Viertklässlern. „Wenn wir etwas nicht verstehen, dann fragen wir ein anderes Kind“, erklärt Greta. Erst wenn der Mitschüler nicht weiter weiß, fragen sie einen Lehrer. Alle profitieren von dem Helfer-System: Wer erklärt, der verfestigt sein Wissen. Und im nächsten Jahr sind die Kleinen die Großen und stolz darauf, den Neuen alle Regeln zu erklären und sie beim Lernen zu unterstützen. „Die Kinder kommen mit einem ganz unterschiedlichen Wissensstand zu uns“, erklärt Schulleiterin Gravelaar. „Wenn eines bei der Einschulung schon lesen kann, dann hat es das Recht zu lesen. Wenn ein Kind erst die Buchstaben lernen muss, dann tut es das. Ob ein Kind schnell oder langsam lernt, ist uns völlig egal.“ Und wer länger als die üblichen zwei Jahre braucht, der kann drei Jahre in der Lerngruppe bleiben.

So wie Luca. Der Zehnjährige ist seit den Sommerferien bei den „Wombats“, dem Jahrgang 3 bis 4 im Haus Australien. „Ich war in Mathe nicht so der Kracher, ich bin immer hinterher gehinkt. Deshalb bin ich noch ein Jahr geblieben. Das war nicht schlimm, ich fand es schön in meiner alten Klasse“, erzählt er seelenruhig. „In dem Jahr habe ich viel in Mathe gemacht. Und jetzt kann ich es sogar sehr gut.“ Sein Klassenkamerad Tim dagegen ist erst sieben und hat eine Klasse übersprungen.

In allen Klassen arbeiten zwei Grundschullehrerinnen und eine Erzieherin im Team. Während die „Wombats“ an ihrem „Wap“ arbeiten, werden sie von Klassenlehrerin Ulrike Ilskensmeier und Erzieherin Rita Wahle betreut. „Als Lehrerin achte ich vor allem auf die Leistung: Was können die Kinder? Rita hat einen ganz anderen Blickwinkel als ich. Davon profitiere ich unheimlich“, sagt die 42-jährige Lehrerin. Rita Wahle, 54, fügt hinzu: „Es gibt Kinder, die kommen bei der Klassengröße zu kurz, weil die Lehrerin nicht alle 24 Kinder gleichermaßen unterstützen kann. Darin sehe ich meine Aufgabe.“

29 Kinder mit besonderem Förderbedarf verteilen sich auf fünf Lerngruppen. In den Integrationsklassen gibt es neben der Grundschullehrerin eine Sonderschullehrerin und eine Heilpädagogin. Shirin geht in die Gazellen-Klasse. „Ich kann nicht so gut schreiben“, erklärt die Zehnjährige, während sie ihr Gesicht dicht an den Bildschirm ihres Laptops presst. Sie schreibt einen Aufsatz über das Theaterstück „Der kleine Horrorladen“, das sie am Tag zuvor gesehen hat. „Da gab es eine Fleisch fressende Pflanze, aber die war nicht echt“, beruhigt sie. Für die anderen Kinder ist es völlig normal, dass Shirin als einzige mit dem Laptop arbeitet.

Die Lerngruppen-Teams bereiten ihren Unterricht gemeinsam vor.

Alle zwei Wochen treffen sich die Kollegen aus den Nachbargruppen. Und einmal im Monat setzen sich alle Teams aus dem Haus zusammen. „Unsere Schule hat den Ruf, dass man hier mehr arbeiten muss als an anderen Schulen“, sagt Ulrike Ilskensmeier. Ein Wochenende gehe schon dabei drauf, wenn sie die „Waps“ durchsehe und neue schreibe. „Aber wenn ich abends manchmal denke: Ich bin so kaputt, morgen schaffe ich es nicht in die Schule, dann fällt mir sofort ein, was wir alles vorhaben und ich freue mich wieder auf die Kinder“, erzählt die Lehrerin. Obwohl es keine Noten gibt, sondern ausführliche Lernstandsberichte, keine Hausaufgaben und keine Klassenarbeiten, sondern viele Pausen, und alle Kinder ihre Lehrer duzen, herrscht an der Wartburg-Grundschule keine Kuschelpädagogik. „Wir sind eine Leistungsschule“, betont Schulleiterin Gisela Gravelaar. Und die ist in weiten Teilen überdurchschnittlich: Rund 70 Prozent der Schüler wechseln nach der vierten Klasse aufs Gymnasium oder die Gesamtschule, gut 20 Prozent gehen zur Realschule und nur 5 Prozent besuchen eine Hauptschule.

Auch auf den klassischen humanistischen Gymnasien kommen die Schüler gut zurecht, weil sie in der Grundschule gelernt haben, selbstständig zu lernen, Referate vorzubereiten und vorzutragen. Eine Mutter erzählt beim Info-Tag den neuen Eltern, die ihr Kind an der Wartburg-Grundschule anmelden wollen: „Mein Ältester ist inzwischen an der Uni. Jetzt, im Studium, schreibt er sich selbst Arbeitspläne zum Lernen, so wie er es hier in der Grundschule gelernt hat.“

Die Wartburg-Grundschule hat sich schon vor 30 Jahren vom Gleichschritt und dem klassischen Frontalunterricht verabschiedet. Seit 25 Jahren ist sie Ganztagsschule. „Diese Schule entwickelt sich immer weiter“, sagt Gisela Gravelaar. In Zukunft wollen die Lehrer alle Kinder zusammen unterrichten. „Die Schulen sollten mehr Freiheiten bekommen“, fordert die Schulleiterin. Sie und ihre Kollegen würden die Grundschulzeit gern um zwei Jahre verlängern, damit sie die Kinder nicht mehr so früh auf die weiterführenden Schulen verteilen müssen. Auch die Noten am Ende der vierten Klasse würden die Lehrer am liebsten abschaffen. „Noten sind ungerecht, sie beschämen die Kinder. Wir brauchen sie nicht, weil die Kinder auch ohne lernen wollen“, sagt Gisela Gravelaar. Durch die erfolgreiche Teilnahme am Deutschen Schulpreis, so hofft sie, „bekommen wir mehr Spielraum.“

„Unsere Schule hat gleich mehrere Preise verdient“, meint Luca von den „Wombats“. „Die Lehrer sind sehr nett, wir dürfen sie mit dem Vornamen ansprechen. Wir haben tolle Klettergerüste. Und es gibt keine Hausaufgaben.“ Auch die Schulpreis-Jury findet: „Von dieser Schule können Praxis, Wissenschaft und Bildungspolitik sehr viel lernen.“

Catrin Boldebuck

Porträt

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„Ich habe eine Rechenschwäche“, sagt der zehnjährige Julian, „aber dafür habe ich jede Menge Phantasie.“ Rot glühen seine Backen im ansonsten blassen Gesicht. „Ich habe schon mal eine Super-Laser-Hightech Zentrale erfunden.“ Julian ist ein schmaler Junge mit dicken Brillengläsern. Geradewegs vor ihm auf dem Tisch steht ein Rechenschieber. Der Junge mit den wuscheligen Haaren würdigt aber die blauen und roten Holzperlen keines Blickes. In Gedanken ist er schon bei seiner Kugelfisch-Laterne, an der er in der nächsten Stunde weiterbasteln will. Es ist die dritte Stunde, kombinierter Mathe und Deutschunterricht. Die Schule am Voßbarg im nordniedersächsischen Rastede ist eine Förderschule mit vielen Besonderheiten. Eine ist, dass die Kinder schon ab der ersten Klasse hierher kommen können. Eine andere, dass zehn Jahre später ein Hauptschulabschluss möglich ist. Bis dahin aber brauchen die 101 Kinder und Jugendlichen ganz besondere Unterstützung, um das Lernen zu lernen.

Die Schüler haben Schwierigkeiten, von denen viele gar nicht wissen, dass es sie überhaupt gibt: Rechnen mit Zahlen über 20 kann für manchen Teenager eine enorme Herausforderung bedeuten. Bei einigen reichen die intellektuellen Fähigkeiten schlichtweg nicht aus, um in der Regelschule mitzuhalten, anderen ist das Lernen durch psychische oder familiäre Probleme erschwert.

Um auf die unterschiedlichen Schwächen und Stärken der Kinder einzugehen, stellt Lehrer Jürgen Sellere jedem andere Aufgaben zusammen. Der elfjährige Shemredin formt aus Knetgummiwürsten die Worte „Ente“, „Wiese“ und „Gras“, die zehnjährige Vivian übt am Nachbartisch Silben. „Kaufen“ liest sie aus ihrem Lernheft vor. Sie wirft Jürgen Sellere einen Schaumstoffwürfel zu und ruft „kau“ – der Lehrer antwortet: „fen“ und wirft den Würfel zurück. „Zwei“, sagt Vivian, und schreibt den Begriff in krakeliger Schreibschrift in die Spalte mit den zweisilbigen Wörtern.

Was einfach aussieht, ist knochenharte Basisarbeit. Das Kneten spricht den Tastsinn an, die bunten Farben wecken Emotionen. So verankern sich die Buchstabenfolgen fester im Gehirn als beim Schreiben mit Tinte. Und Vivians Silbenzählen ist ein Schritt auf dem schwierigen Weg zum flüssigen Lesen. Geduldig korrigiert Jürgen Sellere jeden ihrer Fehler. Am Ende der Stunde schafft sie sogar das komplizierte Wort „Scho-ko-la-denpud-ding“ auf Anhieb fehlerfrei. Noch Grundlegenderes übt Jürgen Selleres Kollege Frank Wronski mit den Jüngsten: Die Erst- und Zweitklässler sind „Affenkinder“, die zu Dschungelgeräuschen aus dem CD-Player durch die Turnhalle toben. Rasselt Wronski dazu mit einer Rassel, stürmen sie kreischend die Sprossenwand. Schlägt er auf eine Trommel, flitzen sie unter ein in einer Ecke aufgespanntes Tuch. „Das trainiert ihre Assoziationsfähigkeit“, erklärt der Pädagoge. Wenn sie „Rassel = Schlange = auf-den-Baum-klettern“ miteinander verbinden können oder „Trommel = Gewitter = in-die-Höhle-kriechen“, dann fällt es ihnen auch leichter, Buchstaben mit Lauten zu verknüpfen.

So angenehm die Atmosphäre innerhalb der Schule ist, nach außen haben Schüler und Eltern noch mit Vorurteilen zu kämpfen: Die Kinder steigen in einen anderen Schulbus als die anderen, und sie haben weniger Freunde in der Nachbarschaft. „Das Stigma „Förderschule“ können wir nicht aufheben“, sagt Schulleiter Bernhard Schrape. „Wir können nur damit umgehen.“

Mit dreierlei begegnet die Schule am Voßbarg der drohenden sozialen Ausgrenzung ihrer Schüler: Erstens durch die Bestrebung, so viele von ihnen wie möglich in den ursprünglichen Schulen zu belassen – ein Drittel ihrer Stunden verbringen die Lehrer in den acht anderen Grundschulen in Rastede und im benachbarten Wiefelstede, wo sie zum Beispiel Kinder mit Sprachstörungen und Verhaltensauffälligkeiten betreuen. Zweitens sorgt das Kollegium dafür, dass Eltern und Schüler stolz auf „ihre“ Schule sind. Durch einen engen Kontakt zur Regionalzeitung etwa, die über Pilotprojekte der Schule berichtet, durch die erfolgreiche Teilnahme an Schülerwettbewerben oder einfach durch positive Rückmeldungen. Ein Lehrer rief kürzlich die Eltern eines sehr scheuen Mädchens an: „Ihre Tochter hat heute zum ersten Mal vorgelesen“, gratulierte er ihnen.

Drittens schließlich helfen die Lehrer jedem einzelnen, seine persönlichen Talente zu entwickeln. Das Angebot an Arbeitsgemeinschaften der Ganztagsschule ist, gemessen an der geringen Zahl der Schüler, gewaltig. Die Kinder können wählen, ob sie nachmittags nähen oder den Gemüseacker bewirtschaften, ob sie zu der Mofagruppe, den „Lesegeistern“ oder der Schülerband gehören wollen, ob sie beim Küchendienst „Iss was“ mitmachen, dem Bügelservice „Heiße Eisen“ oder der schuleigenen Imkerei, wo die Kinder selbst Honig produzieren – vom Aussäen der Blumenwiese bis zum Abfüllen der 250-Gramm-Gläser.

Und noch etwas trägt dazu bei, Vorurteile gegenüber den Förderschülern aufzuheben: Die Rasteder Mädchen und Jungen leisten oft weitaus mehr als von ihnen erwartet wird. Von den 80 Absolventen der letzten drei Jahre schafften 47 den Hauptschulabschluss, 8 wechselten anschließend auf die Realschule und 13 begannen eine Ausbildung. So beeindruckend die Lehrer selbst die Erfolgsquote ihrer Schüler finden, schätzen sie deren Chancen am Arbeitsmarkt doch als schwach ein. Sie wissen, wie wenig einer auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten hat, der seinen Hauptschulabschluss nur unter idealen Bedingungen geschafft hat – und vielleicht auch bloß mittelmäßige Noten vorweisen kann.

Umso motivierter sind die Pädagogen, die Schüler mit Fertigkeiten wie Bügeln und Spülen auf Alternativen zu Ausbildungsberufen vorzubereiten. Deshalb schafft Schulleiter Schrape so exotische „Lehrmittel“ wie die neue „Hauben-Durchschubspülmaschine“ an: Wer dieses zischende Profigerät aus Edelstahl bedienen kann, bekommt später leichter einen Job als Hilfsarbeiter in einer Kantine.

Es gehört zu den vielen Spagaten an der Schule am Voßbarg, die Jugendlichen trotz dieses Realismus in ihren Träumen zu bestärken. Zeit für Träume ist zum Beispiel nach getaner Arbeit, wenn die Küchen-Crew mit ihrer Lehrerin Elis Ritterbeeks zum Tee im Keller zusammenkommt. Den Raum haben die Schüler mit Herbstlaub und Kürbissen dekoriert, es duftet nach Apfelringen, die unter der Decke zum Trocknen hängen. Der 15 jährige Marvin erzählt, dass er Bäcker werden will. Heute Mittag hat er würzige, handtellergroße Fladenbrote gebacken als Beilage zum Gemüseauflauf. Seit seinem Schulpraktikum jobbt er in einer Bäckerei. „Ich stehe gerne früh auf“, sagt er. „Und ich will eine Dönerbude aufmachen, wie mein Onkel“, sagt der 16-jährige Ersan. „Am liebsten zusammen mit Frau Ritterbeeks, schließlich sind wir schon seit zehn Jahren ein eingespieltes Team.“ Der dunkelhaarige, kräftige Junge lacht seine Lehrerin an. „Wie man das genau anstellt, weiß ich noch nicht. Man muss wohl reich sein und ein bisschen geschickt auch. Aber ich habe ja noch Zeit, das alles zu planen.“

Sara Mously

Porträt

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Bernhard Gödde sitzt in einer Schaltzentrale. Wenn er mit seinem Bürostuhl zwischen den drei Computern auf seinem großen Schreibtisch hin und her rutscht und auf den Monitoren schaut, was es Neues gibt und wo er eingreifen muss, wirkt es, als steure er den Zugverkehr der Nation. Er tippt hier ein paar Zahlen ein, schreibt dort eine E-Mail, protokolliert da ein Gespräch. Alle paar Minuten unterbricht ihn das klingelnde Telefon. Oder ein Schüler mit einer dringenden Frage. Denn Bernhard Gödde ist nicht der Chef einer Leitzentrale, sondern Rektor eines Gymnasiums. Knapp 1400 Schüler besuchen das Gymnasium Schloß Neuhaus in Paderborn. Allein alle dringenden Belange der Schüler und der 102 Lehrer zu verwalten, wäre ein Fulltime-Job. Aber Bernhard Gödde will es dabei nicht belassen. „Wir sind eine lernende Organisation, die möglichst allen gerecht werden will“, definiert er seinen Arbeitsplatz.

Zwischen Telefonaten und dem Entwurf eines Elternbriefes kontrolliert der Schulleiter an einem der Computer, ob sein Mathe-Leistungskurs die Hausaufgaben ordnungsgemäß ins schuleigene Intranet gestellt hat. Immer neue Formeln und Kurven öffnen sich auf dem Bildschirm. Bernhard Gödde schaut sich die Lösungen genau an, sein Grinsen wird immer zufriedener. „Das können die alles“, sagt er schließlich.

Dass der Rektor einen hohen Anspruch nicht nur an sich selbst stellt, hat über die Grenzen Paderborns hinaus die Runde gemacht. Überdurchschnittliche Ergebnisse in den Vergleichsarbeiten, ein breites Fremdsprachenangebot und Auszeichnungen für zahlreiche Schüler in Wettbewerben sprechen für sich. Aber Bernhard Gödde gibt sich auch damit nicht zufrieden. Er will alle mitnehmen: „Unsere Begabtenförderung gilt als Aushängeschild, dabei stecken wir vier Mal mehr Energie in die Förderung der schwächeren Schüler.“

Dass aber ein Schüler zum Beispiel seine Versetzung geschafft hat, steht nicht in der Zeitung. Anstrengungen für die Schwachen? Das gilt als nicht prestigeträchtig. Bernhard Gödde geht es indes um das „Gleichgewicht“ der Schule, wie er es nennt. Und um das soziale Miteinander. „Wir erwarten, dass sich die starken Schüler für unsere Unterstützung revanchieren“, sagt er. Sie bieten ihren Mitschülern Nachhilfe an, engagieren sich als Paten für die neuen fünften Klassen oder organisieren die nachmittägliche Hausaufgabenbetreuung „Silentium“.

Alle mitnehmen – dieses Prinzip verfolgt die Schule auch bei Schülerreisen und Auslandsaufenthalten. Die Poster der verschiedenen Klassen an den Wänden des Schulhauses zeigen lachende GSNler in Partnerschulen in Schweden, Finnland, den Niederlanden, Polen, der Türkei, Ungarn, Rumänien, Italien und Spanien. Für so eine große Schule braucht es auch viele Partnerschulen, findet Bernhard Gödde: „Während andere Schulen acht Schüler nach China schicken, schicken wir alle 160 eines Jahrgangs ins Ausland.“

Nur zu einer Fahrt dürfen nicht alle mit: „Bedingung: erstklassiges Benehmen“ steht auf dem Plakat, das die Ferienfahrt ankündigt. Alljährlich fährt der Schulleiter eine Woche lang in den Sommerferien mit einer ausgewählten Schülerschar in Deutschland in den Urlaub – privat. Exzellentes Benehmen? „Man sollte sich schon für die Schule engagieren“, sagt Bernhard Gödde. Trotz der strengen Ausschreibung sind die Ferienfahrten mit dem Rektor ein Renner. Es gibt regelmäßig deutlich mehr Anmeldungen als Plätze. Alljährlich opfert Bernhard Gödde dafür eine Woche seines Urlaubs und wechselt die Rolle. Im Schulalltag würde ihn kaum jemand in kurzer Hose zu Gesicht bekommen. Die Schüler wissen dieses Engagement zu schätzen. „Es macht einfach Spaß, mit ihm wegzufahren“, sagt Sarah aus der elften Klasse, die erst als Teilnehmerin und nun als Leiterin mitfährt. „Die Lehrer geben in ihrer Freizeit Nachhilfe oder organisieren abendliche Treffen mit ihren Kursen“, lobt Ex-Schulsprecher Marius, „in so einer Schule engagiert man sich gerne.“ Schülervertreter Max gefällt außerdem die soziale Kultur an seiner Schule: Patenschaften, Stufenfeiern, Ferienfahrten – „man kann sich hier so gut integrieren.“

Für ein gutes Schulklima ist auch die Auseinandersetzung mit Vorurteilen wichtig. Das GSN gilt als Leistungsschule. „Niemand möchte ein Streber sein“, sagt Gödde, der viel über dieses Thema nachgedacht hat, „aber strebsam sein, gilt als gut.“ Persönlich sei er zu dem Schluss gekommen, dass Leistung eine erweiterte Definition benötige. So gibt es die schuleigenen GSN-Awards auch für soziales Engagement, für den Einsatz für die Schule oder für sportliche Erfolge. Eine Leistungsschule ohne Streber? Oberstufenschüler Patrick fasst das in eigene Worte: „Man muss an dieser Schule keine Angst haben, gute Leistungen zu zeigen.“ Er ist einer der so genannten „Springer“: der 17-Jährige hat eine Klasse übersprungen und geht nun in die 13. Klasse. Zusammen mit seiner Mitschülerin Ann-Kathrin, auch eine „Springerin“, überlegt er, was anders an ihnen ist. „Wir sind vielleicht an manchen Themen ein bisschen interessierter als andere“, sagt Ann-Kathrin schließlich vorsichtig. „Und uns fällt vieles leichter.“ Denn den ganzen Tag zuhause sitzen und lernen, das würde ihr keinen Spaß machen. „Hochbegabt“ wollen sich die beiden nun wirklich nicht nennen. „Wir sind eigentlich ganz normal“, sagt Ann-Kathrin lachend. Aus dem vom GSN gezimmerten Rahmen fällt niemand heraus.

Für die Schwachen hat die Schule eine Art Frühwarnsystem eingerichtet. Fällt die Leistung eines Schülers ab, benachrichtigen die zuständigen Fachlehrer einen Koordinator. „Wir bieten frühzeitig Förderkurse an und nicht erst dann, wenn die Versetzung in Frage steht“, sagt Mittelstufenkoordinator Stefan Balthasar. In einem Ordner hat er alle Förderkurse gesammelt, dazu Namen und Klassen der teilnehmenden Schüler. „Schließlich wollen wir keinen mit Förderkursen überfordern.“

Und oft geht es auch wie nebenbei. „Guck mal, das ist ganz einfach“, sagt Arne in der Pause zu seinem Mitschüler David, der über seinem Matheheft brütet. Mitten im Pausenchaos der 8c studieren die beiden Kurven und Formeln, der Lärm der anderen prallt an ihnen ab, als hätten sie eine Käseglocke über sich gestülpt. Einfach? David schaut zweifelnd.

Arne ist bekannt als Überflieger, zwei Mal hat er bei der Matheolympiade landesweit den dritten Platz belegt. Zu den Wettbewerben hat ihn stets ein Lehrer begleitet, das ist Teil der Begabtenförderung am GSN. Aber auch er hält nicht viel davon, den ganzen Nachmittag am Schreibtisch zu verbringen. Keyboardspielen bereitet schließlich viel mehr Spaß. Dass er hin und wieder freiwillig zu „Zahlenschlachten“ fährt, finden seine Klassenkameraden nicht weiter seltsam. „Viele sind stolz, so jemanden in der Klasse zu haben“, sagt er. Und nebenbei ist es ganz praktisch: Denn trotz seiner Begabung findet Arne die richtigen Worte, um die Matheaufgaben einfach zu erklären. „Und dann setzt du das einfach in die Geradengleichung ein“, endet er pünktlich zum Klingeln am Ende der Pause. David nickt: „Stimmt“, sagt er dann: „Einfach.“

Eva Wolfangel

Porträt

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Im alten Rom bewachten Gänse das Kapitol, im heutigen Malchow sorgen sie sich um die Schule. Schon von Weitem empfängt das Federvieh den Besucher mit aufgeregtem Geschnatter. Auf dem Pausenhof grasen Schafe, und als beim Betreten des Portals ein braunbunter Hahn im Rücken kräht, leuchtet ein, warum sich diese staatliche Bildungsstätte im Nordosten Berlins „Grundschule im Grünen“ nennt; durch die Beine an der Tür huscht Rudi, eine der fünf Schulkatzen. Die Wände zieren im Flur gemalte Landschaftsbilder voller Bäume, Tiere und Menschen. Es riecht nach Dung.

Diese Schule ist anders. Als Tobias Barthl 1991 ihre Leitung übernahm, war er 27 und voller Träume. Erhaltung der Natur sollte nicht nur den Lehrplan durchdringen, sondern auch gelebt werden. In den folgenden 18 Jahren entwickelte sich die Grundschule zu einem Abenteuerspielplatz für Lehrer und Schüler, auf dem sich die Schulleistungen über dem Berliner Schnitt bewegen. Und das liegt nicht nur an den vielen Tieren. Fünf Kinder stehen brav Schlange, um sich mit Christine Wolff zu besprechen. Es ist kurz nach acht, Mathematik steht in der „Lerngruppe 9“ auf dem Lehrplan. Doch Lehrerin Wolff steht weder an der Tafel noch hinter einem Pult, sie hat gar keinen: Im die ersten drei Jahrgangsstufen gleich zusammen beherbergenden Raum wandert sie von Tisch zu Tisch, begleitet von emsigem Getuschel.

„Wie viel ergeben diese Striche und Punkte?“, fragt sie Paula. Die Sechsjährige steht schon zum dritten Mal in fünf Minuten bei Christine Wolff. „Ich versteh das nicht“, sagt das Mädchen und schaut verzweifelt. „Schau“, springt die gleichaltrige Hannah der Lehrerin zur Seite. „Das ist wie eine Geheimschrift: Striche für Zehner und Punkte für Einer.“ In der „Lerngruppe 9“ unterrichten sich die Schüler auch untereinander, bilden spontan Kleingruppen. Hier die hörgeschädigte und unsichere Paula, und dort die hochbegabte Hannah, die gleich nach der Einschulung mit dem Lehrstoff für Drittklässler eingestiegen ist. Alle profitieren von diesem Mix. Paula begreift das Strichsystem und Hannah fühlt sich gebraucht. Am Ende der dreißigminütigen Arbeitsphase ertönt ein Windspiel und die Schüler ziehen Bilanz. „Ich bin heute besser vorangekommen“, sagt die neunjährige Shirley in die Klasse, „es war leiser als gestern.“

Das Erfolgsrezept in Malchow heißt Vielfalt. Die Schüler kommen aus Durchschnittsfamilien: 17 Prozent von ihnen beziehen Schulbücher vom Staat, kommen aus bedürftigen Familien. 9,3 Prozent sind hochbegabt, 8,4 Prozent sind Integrationskinder mit Beeinträchtigungen. Gerade hyperaktiven Schülern mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS empfehlen Ärzte die Grundschule im Grünen; angesichts der vielen Tiere und der sich daraus erwachsenden Aufgaben, der zahlreichen Angebote und des starken inneren Zusammenhalts verschwinden ihre Besonderheiten.

Vor den Tieren sind alle gleich: „Wo ist Windel-Winni?“, fragt Liv. Sie steht im rohsteinernen Hasenhaus der „Knirpsenfarm“ auf dem Schulhof und sucht ihren Lieblingshasen. Doch Winni, hinten weiß und vorne braun, hat sich ins Stroh verzogen. Die Achtjährige zieht weiter zu Minischwein Fritzi, das auf dem freien Gelände umhertappt, entlang der Hühner, Tauben und Gänse. Eine einzige Tierpflegerin für die 16.000 Quadratmeter großen Gehege hat die Schule angestellt. Die restliche Fürsorge erledigen 1,50- Euro-Jobber von der Arbeitsagentur – und vor allem die Schüler selbst.

Im dritten Stock des Fontanegebäudes reinigen Josi, Benni und Annabel die Klos der Wüstenrennmäuse, schnippeln Kohlrabi und Mohrrüben aus dem eigenen Schulgarten für sie klein und wenden sich den Rotwangenschildkröten zu; auch die Stabheuschrecken und kleinen Hummer warten auf Futter. In jeder Pause ist eine andere Klasse dran mit der Aufsicht und Pflege ihrer kleinen Lieblinge. Einen ganzen Schultag lang in der Woche widmet sich eine Klasse den Arbeiten im Grünen – Eltern inklusive.

Ökologische Bildung beginnt mit dem Bestaunen der Vergänglichkeit, aber auch der Entstehung und Entwicklung von Leben – und eben auch im Begreifen seiner selbst als Lebewesen. In der Malchow-Schule sind sie schon weiter: In Deutschland einzigartig, lernen die Schüler im Regelfach „Umweltlehre“ über Müllproblematik, regenerative Energiequellen, gesunde Ernährung und Klimaschutz.

Das Schuldach ziert eine Photovoltaik-Anlage, sechs Haushalte im Jahr kann sie mit Strom beliefern. Die Schüler züchten Honigbienen, kochen Marmelade aus geernteten Früchten und backen im selbst gebauten Lehmofen Brot. Beim Betrachten der Grundschule im Grünen zeichnet sich ein einheitliches Bild ab, plötzlich erhält das so abstrakte Wort „Nachhaltigkeit“ konkrete Züge: im Stolz, den die Pennäler auf ihre Schule zeigen. So wie Uwe, Anja und Nadine, sie stehen im Foyer hinter ihrem „Upi-Shop“ (wofür Upi steht, das fragen sie sich schon seit langem) und warten auf Kundschaft. Umweltfreundliches Papier, Umschläge, Bleistifte und Holzkulis verkaufen die drei von der Schülerfirma. „Damit finanzieren wir unser Tiergehege“, erklären sie und recken sich noch ein wenig höher. In der ersten Pause haben sie schon 5,40 Euro eingenommen.

Kein Wunder, dass hier Lehrer und Schüler mehr Zeit verbringen als an anderen Schulen. Zwar sind viele Engagements über so genannte „Angebotsstunden“ in den Unterricht eingebunden, aber zahlreiche freiwillige Arbeitsgemeinschaften beleben Klassenzimmer und Gehege bis in den Abend hinein. Anfangs hatte es Schulleiter Tobias Barthl nicht leicht. Viele Malchower beobachteten den Wandel ihrer alten Dorfschule in eine grüne Natur-Lehrstätte mit Argwohn. So viel hatte sich für sie verändert: Zuerst Mitte der Achtziger die wuchtigen Hochhäuser, die das Dorfbild zerschnitten und wie in den Boden gerammt die Schule umschließen – „Honneckers letzte Rache“ sagt dazu der Volksmund. Dann der Fall der Mauer und plötzlich Lehrer, die von Ökologie sprachen. Doch von Jahr zu Jahr wuchs die Akzeptanz. „Zu uns kommen auch Schüler aus Mitte, Charlottenburg oder Schöneberg“, sagt Tobias Barthl. 466 Schüler zählt nun die Einrichtung, nur wenige kommen aus der Nachbarschaft – denn das kleine Malchow gibt nicht viel her. „Um zu bestehen, müssen wir überzeugen“, fasst Barthl zusammen. „Wir sind ähnlich organisiert wie eine Privatschule.“

Heute besuchen die Anwohner auch am Wochenende den kleinen Schulzoo. Rentner unterstützen in den Lesestunden die Lehrer. Und Gruppen von anderen Schulen besichtigen das Feuchtbiotop und die Gartenarbeitsschule mit ihren vielen Beeten sowie den zwei Gewächshäusern. Die Schule hat sich zum Schnittpunkt für die Dorfbewohner entwickelt. Etwas Neues ist da entstanden: Das Grau der Hochhäuser wird zwar von Tag zu Tag grauer. Doch das Gesicht Malchows ist nun ein anderes. Es trägt grün.

Jan Grübel

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Andere wahrzunehmen, ihnen zu vertrauen, sich selbst zu vertrauen, das lernt man an der Schule in Altingen bei Tübingen so selbstverständlich wie anderswo Grammatikregeln. An diesem Morgen sitzen zwei junge Männer mit zwei Sozialarbeitern in einem Besprechungszimmer, Mike* und Thomas*.

Vor ihnen auf dem Tisch liegt ein Vertrag. Es soll der Schlusspunkt eines seit längerem schwelenden Konflikts in Klasse 8 werden. Der begann vor einigen Monaten scheinbar harmlos mit der Verballhornung von Mikes Nachnamen. Dann folgten Sticheleien über seinen Körpergeruch. Einer versprühte demonstrativ Deo im Klassenzimmer. „Mike stinkt“, hieß es. Viele machten mit, vor allem Thomas. „Ärgerspiele“ nennt Schulsozialarbeiter Walter Brückner solche Rituale, die kein Spiel mehr waren, jedenfalls nicht für Mike. Der große und schwere Junge, weniger wortgewandt als seine Peiniger, wusste nicht, wie er sich wehren sollte. Einmal rannte er mitten in der Stunde aus der Schule. Die Stimmung ist ernst, als sich eine Stunde später die ganze Klasse im Stuhlkreis zur „Schüler- versammlung“ trifft. Jeder Schüler hat das Recht, den Klassenrat einzuberufen, auch die Lehrer. Der Schulsozialarbeiter eröffnet die Runde. Er nennt das Problem beim Namen: „Ausgrenzung“. Es gehe nicht nur um Mike und Thomas. „Es gibt auch andere, die geärgert werden.“

Nach und nach trauen sich einige Schüler aus der Deckung. Luisa*, sichtlich aufgewühlt, hebt den Finger und will erzählen. Stattdessen bricht sie in Tränen aus. Die Klasse schaut betroffen.

Die dritte Stunde am Freitag ist reserviert für den Klassenrat. An der Grund- und Hauptschule in Altingen bei Tübingen ist der Klassenrat eine Institution, so wichtig wie Deutsch oder Mathe, und wenn ein Problem drängt, muss dafür auch mal eine Mathestunde ausfallen. Denn wer kapiert schon Prozentrechnen, wenn er vor Wut kocht? Der Klassenrat ist an dieser kleinen Schule – 187 Schüler, davon 25 Prozent Migranten – das Parlament der Schüler. Hier lernen sie Demokratie, fairer als in jedem Erwachsenenparlament. Hier wird zugehört, hier spricht nur, wer an der Reihe ist, keiner darf diffamiert werden. Der Gedanke dahinter: Nur wer erfährt, dass er selbst gerecht behandelt wird, kann auch zu anderen gerecht sein. Nur wer sich verstanden fühlt, kann andere verstehen.

Das tägliche Miteinander ist ein wichtiger Teil des „Altinger Modells“, das Schulleiter Ulrich Scheufele, 58, mit seinem Kollegium seit über zwanzig Jahren fortentwickelt, ein Reformkonzept, das großen Wert auf Gerechtigkeitssinn und menschlichen Umgang legt. Fähigkeiten, die nicht unbedingt im Lehrplan stehen, die aber dafür sorgen, dass es an dieser Hauptschule kaum Gewalt gibt, obwohl die Welt auch hier längst nicht mehr heil ist. „Zwei Fälle in zwanzig Jahren“, sagt Scheufele.

Natürlich ist der Unterricht das Kerngeschäft auch dieser Schule. Natürlich soll er spannend und lebensnah sein. Dafür sorgen in Altingen monatelange, fächerübergreifende Projekte, die echtes Erleben ermöglichen. Beim „Waldprojekt“ in Klasse 6 beispielsweise, lebte die Klasse eine Woche lang im Wald und baute sich aus Stämmen und Zweigen eine Hütte. Das Thema Wald wurde in allen Fächern behandelt und mündete in eine Ausstellung, die der ganzen Schule präsentiert wurde (www.altinger-konzept.de). Stets sind Experten dabei, Förster, Gärtner, Handwerker oder Schauspieler, die die 19 Lehrerinnen und Lehrer unterstützen. Aber genauso wichtig ist Scheufele und seinem Kollegium eine „Lehrkraft“, deren Bedeutung oft unterschätzt wird: die Gemeinschaft. „Das soziale Lernen ist so wichtig wie das kognitive Lernen, es ist die Voraussetzung, dass man sich fürs kognitive Lernen öffnen kann“, sagt der Rektor. Schon in der ersten Klasse lernen die Altinger Schüler, dass sie sich Hilfe holen können, wenn sie drangsaliert werden oder sich ungerecht behandelt fühlen – auch vom Lehrer. Jedes Kind soll eine Stimme bekommen, auch die Schüchternen, die wenig Wortgewandten. Das wird ständig geübt, mal in der großen Schulversammlung, wenn sich alle Schüler in der Turnhalle treffen, mal in der Klassenversammlung. Diese Runde kann bei Konflikten auch über eine Wiedergutmachung entscheiden. Der Lehrer hat theoretisch ein Vetorecht, wenn die Entscheidung gegen die Würde eines Schülers oder die Schulordnung verstößt. Doch das braucht er selten.

Zu Anfang von Klasse 5 nehmen sich die Lehrer viel Zeit für das Sozialtraining. Viele Kinder kommen gedrückt, weil sie ja „nur“ Hauptschüler sind.

Aus ihnen wird eine Gemeinschaft geschmiedet, beispielsweise indem man gemeinsam eine hohe Tanne erklimmt und sich dabei gegenseitig sichert. Doch wer glaubt, soziale Fähigkeiten – einmal einstudiert – sitzen für immer, der täuscht sich. „Wir üben uns darin, und es gelingt mal mehr und mal weniger“, sagt Lehrerin Karina Vogel-Pahls bescheiden.

Joao meldet sich, er will die Schülerversammlung in Klasse 8 leiten. Er wiederholt kurz die Regeln: Nur in der Ich-Form sprechen, den anderen ausreden lassen, ihn nicht beleidigen, Wiederholungen vermeiden. Nur wer den roten Ball in Händen hält, darf sprechen. Mike sagt, was er sich wünscht: „Dass man mich respektiert.“ Er würde an Mikes Stelle auch aus dem Klassenzimmer rennen, bekennt ein Mitschüler. Mike müsse sich „auch an die eigene Nase fassen“, wendet Hami, der Klassensprecher, ein. Das Problem liege nicht nur an der Klasse. „Sag es ihm direkt, was du dir von ihm wünschst“, wird Hami aufgefordert. Hami wird deutlich: „Ich will nicht mehr, dass du deine Wut an mir rauslässt, ich will nicht mehr von dir mit einer Schere bedroht werden.“ Nun zeigt sich eine andere Seite von Mike: Es gefällt ihm, seine Mitschüler von hinten zu attackieren. Er pikst sie in die Seiten, so dass sie vor Schreck zusammenzucken und „hopsen“. Jetzt sollen Vorschläge gemacht werden, wie der Streit zu lösen ist. Das Ziel: Mike, Hami und Thomas müssen keine Freunde werden, aber sie sollen respektvoll miteinander umgehen. Thomas berichtet von dem Vertrag, den er eine Stunde zuvor mit Mike im Beisein der Sozialarbeiter geschlossen hat: Sollte es noch mal dumme Kommentare geben, wird sich Thomas demonstrativ auf Mikes Seite stellen. „Aber ich will nicht ausgelacht werden“, fordert Thomas von der Klasse. „Es soll keiner sagen, dass ich mich bei Mike einschleime.“ Es folgen eine Menge Vorschläge, wie sich das Klassenklima verbessern ließe. Mike könnte ein Papier zerknüllen, wenn er wütend ist, schlägt ein Junge vor. Oder den Boxsack traktieren. „Ich bin bereit, dich nicht mehr zu beleidigen,“ sagt Joao, „wenn du aufhörst, mich zu piksen.“

Es geht den Lehrern in Altingen nicht nur ums Wohlfühlen, sondern auch um Qualitäten für den späteren Beruf. Betriebe schätzen das Selbstwertgefühl der Absolventen aus Altingen, ebenso wie ihre Fähigkeit, im Team zu arbeiten. In den letzten Jahren fanden 76 Prozent der Absolventen eine Lehrstelle, weitere 18 Prozent machten den Realschulabschluss, berichtet Schulleiter Scheufele. Nach gut einer Stunde ist die Aussprache in Klasse 8 zu Ende. Thomas und Mike geben sich die Hand. Thomas wird nicht mehr lästern, Mike nicht mehr abhauen. Achim wird Thomas beistehen, falls ihn einer ärgern sollte. Als sie in die Pause gehen, sehen alle erleichtert aus.

(*Namen geändert)

Ingrid Eißele