Porträt

An dieser Schule schaut man sich vergeblich nach Tafeln und Pulten um. Statt Kreidestaub steigt hier der Geruch von Sägespänen, Schmieröl und Wandfarbe in die Nase. „Moin, Frau Elias“, grüßen zwei Jugendliche in blauen, dreckverschmierten Latzhosen als sie die Werkshalle durchqueren. Einer von ihnen hat eine lange Aluminiumleiter geschultert. Sie sind auf dem Weg zu ihrer Baustelle.

„Das herkömmliche Schulsystem hat bei unseren Leuten nicht gegriffen, deshalb probieren wir etwas anderes mit ihnen aus“, erklärt Sozialpädagogin Birgit Elias das Modell „Produktionsschule“: die Jugendlichen arbeiten, anstatt die Schulbank zu drücken. In richtigen Werkstätten und auf richtigen Baustellen. Nebenbei schafft über die Hälfte den Hauptschulabschluss, den sich viele von ihnen schon gar nicht mehr zugetraut haben.

Die Schüler der Werkstattschule Bremerhaven gehören zu den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft: In einer ohnehin von Arbeitslosigkeit und sozialer Not geprägten Region sind sie die Außenseiter. Entweder weil sie als Teenager nach Deutschland kamen und nie wirklich die Chance erhielten, dem deutschsprachigen Unterricht gut zu folgen. Oder weil fehlende Unterstützung im Elternhaus es ihnen erschwerte, sich selbstbewusst in der Klasse zu behaupten – oder, oder, oder. Gründe zu versagen gibt es viele.

Wer von den Dauerschwänzern, Mehrfachabbrechern und notorischen Rausfliegern die Mitarbeiterin von der berufspädagogischen Beratungsstelle davon überzeugen kann, dass er es wirklich versuchen will, bekommt einen der 72 Plätze an der Produktionsschule – und die Gelegenheit, noch Wertvolleres zu erreichen als allein das Abschlusszeugnis: Viele erleben hier zum ersten Mal das Gefühl, überhaupt etwas zu können.

Diese Jugendlichen sehen sich häufig als Opfer. „Keiner mag mich, die haben was gegen mich.“ Dabei treffen sie laufend Entscheidungen. Frau Elias, zuständig für die Malergruppe, bringt ihren Schützlingen nicht nur bei wie man Türzargen und Fußleisten lackiert, sondern auch wie man Verantwortung übernimmt. Dafür nutzt sie jede noch so kleine Gelegenheit. Paul vermisst seinen Spachtel? „Selbst schuld. Wer auf seine Sachen aufpasst, wird auch nicht beklaut.“ Daniel wird von der Lehrerin einer Schule, an der sein Team gerade einen Auftrag erfüllt, vom Hof geschickt? „Kein Wunder, wenn du deine Arbeitskleidung nicht trägst!“ Zimperlich geht die 48-Jährige mit den Jugendlichen nicht um. Sie sind oft ohne Struktur groß geworden, ohne Halt. Umso wichtiger ist es, dass sie handfeste Regeln anzuerkennen lernen, wenn sie in ein, zwei Jahren eine Ausbildungsstelle finden wollen. „Die Chefs achten immer mehr auf die Persönlichkeit und das Sozialverhalten ihrer Azubis. Da muss man schon ‚Bitte’ und ‚Danke’ sagen können.“ Alles Handwerkliche lässt sich Elias – sollte ihre achtjährige Erfahrung an der Werkstattschule einmal nicht reichen – von einem Malermeister erklären, der auch an der Schule arbeitet.

Einer von Elias´ Schülern ist der 16-jährige Paul, Sohn polnischer Einwanderer, der mit seiner Mutter nach Bremerhaven ziehen musste, obwohl er lieber beim Vater in Berlin geblieben wäre. Oft geht der intelligente, blasse Blondschopf den anderen mit seiner Energie auf die Nerven, immer hat er das letzte Wort. „Ich sitze nicht gern auf Stühlen“, sagt er über sich selbst. Stattdessen hockt er auf dem Fußboden, den er und die anderen zum Schutz vor der Farbe mit Pappe abgedeckt haben, und schmiert Spachtelmasse in einen Riss in der Wand. Aus dem Handy klingelt ein „Bushido“-Song. „Ich bin auch Rapper“, erklärt Paul, der zu Hause jede freie Minute in seine Musik investiert. Eine Ausbildung will er trotzdem machen. „Maler“, sagt er stolz. Eigentlich tragen alle Schüler die gleiche blaue Arbeitskleidung. Aber Paul besitzt schon eine richtige Gesellenhose und trägt passend dazu ein weißes Sweatshirt. Auf seinem Kopf thront eine weiße Baseballmütze mit silberfarbenem „Yankees“-Logo.

Nicht alle haben sich schon auf einen Berufswunsch festgelegt. Regina will „vielleicht Friseurin werden, vielleicht Verkäuferin.“ Für den Augenblick ist es egal, ob die Schüler malen oder Holz bearbeiten, ob sie zu den Metallarbeitern, Maurern, Bootsbauern oder Druckern gehören. „Wichtig ist, dass sie überhaupt arbeiten“, sagt Lehrerin Elias, „und zwar real.“

Denn die Teams, je acht Schüler, arbeiten an richtigen Aufträgen an Schulen, Kindergärten und Verwaltungsgebäuden. „Natürlich zahlt die Stadt uns weniger als eine richtige Firma bekommen würde, wir brauchen einfach länger. Aber sie zahlen richtiges Geld, und dafür müssen wir auch richtige Arbeit abliefern.“ Ist ein Auftrag einmal angenommen, wickelt Elias ihn zusammen mit ihren Schülern von Anfang bis Ende ab: vom ersten Sichten und der Berechnung der benötigten Farbmenge bis hin zum Aufräumen und Reinigen der Baustelle. Ihren Hauptschulabschluss schaffen die Jugendlichen mit nur einem regulären Schultag pro Woche. Donnerstags versammeln sie sich im einzigen Unterrichtsraum, der etwas abseits im Obergeschoss liegt und eher nach Konferenz- als nach Klassenraum aussieht. Das Nötigste nur in Politik, Deutsch und Mathe lernen sie dort. Aber auch im Praxisunterricht steckt jede Menge Theorie, zum Beispiel beim Berechnen von Flächen und Prozentwerten.

„Die Werkstattschule ist die letzte Chance für unsere Kundschaft“, sagt Schulleiter Gerd Liersch. Das erste Schuljahr startete er 1998, damals lautete der Auftrag für alle Beteiligten, sich eine eigene Schule erst einmal selbst zu bauen. Für den maroden Klinkerbau, von Lehrern und Schülern wegen seines gewölbten Dachs auch „Tonne“ genannt, hatte die Stadt keine Verwendung mehr als Liersch und seine ambitionierten Kollegen sie zugewiesen bekamen. Sie krempelten die Ärmel hoch, richteten das Gebäude wieder her und schufen den Beginn eines sich bis heute ständig wandelnden Projekts.

Neben den Schülern der Produktionsschule kommen noch etliche weitere Jugendliche in der Werkstattschule unter, die irgendwie aus dem System fallen: Zum Beispiel die Jugendlichen, die zwar einen Abschluss haben, aber noch keinen Ausbildungsplatz und die mit einer Mischung aus Unterricht und Praktikum ihre Chancen verbessern wollen. Oder behinderte Jugendliche und auch jene, die Deutsch als Fremdsprache erst noch lernen müssen. Dann gibt es die, die ihre Ausbildung gleich ganz an der Werkstattschule absolvieren. Und schließlich die „Kängurus“, wie die 15- bis 18-jährigen Mütter und Schwangeren liebevoll genannt werden, die hier die Hauptschule besuchen können, während ihre Kinder direkt nebenan von Tagesmüttern betreut werden.

In vielen Facetten beweist die Schule, dass man mit Kreativität und Engagement aus fast jeder Situation noch ein bisschen mehr herausholen kann. Das bekommen auch die Schüler zu spüren, vor allem, wenn sie Erfolge feiern. Eine Schülerin der Auftragsschule steckt den Kopf durch die Tür und fragt Paul und seine Kollegen: „Was machen Sie da?“ – „Siehst du“, erklärt Paul einem anderen. „Kaum trägst du Arbeitskleidung, siezen dich die Leute. Auf einmal bist du wer!“

Sara Mously