Porträt
„Ich habe eine Rechenschwäche“, sagt der zehnjährige Julian, „aber dafür habe ich jede Menge Phantasie.“ Rot glühen seine Backen im ansonsten blassen Gesicht. „Ich habe schon mal eine Super-Laser-Hightech Zentrale erfunden.“ Julian ist ein schmaler Junge mit dicken Brillengläsern. Geradewegs vor ihm auf dem Tisch steht ein Rechenschieber. Der Junge mit den wuscheligen Haaren würdigt aber die blauen und roten Holzperlen keines Blickes. In Gedanken ist er schon bei seiner Kugelfisch-Laterne, an der er in der nächsten Stunde weiterbasteln will. Es ist die dritte Stunde, kombinierter Mathe und Deutschunterricht. Die Schule am Voßbarg im nordniedersächsischen Rastede ist eine Förderschule mit vielen Besonderheiten. Eine ist, dass die Kinder schon ab der ersten Klasse hierher kommen können. Eine andere, dass zehn Jahre später ein Hauptschulabschluss möglich ist. Bis dahin aber brauchen die 101 Kinder und Jugendlichen ganz besondere Unterstützung, um das Lernen zu lernen.
Die Schüler haben Schwierigkeiten, von denen viele gar nicht wissen, dass es sie überhaupt gibt: Rechnen mit Zahlen über 20 kann für manchen Teenager eine enorme Herausforderung bedeuten. Bei einigen reichen die intellektuellen Fähigkeiten schlichtweg nicht aus, um in der Regelschule mitzuhalten, anderen ist das Lernen durch psychische oder familiäre Probleme erschwert.
Um auf die unterschiedlichen Schwächen und Stärken der Kinder einzugehen, stellt Lehrer Jürgen Sellere jedem andere Aufgaben zusammen. Der elfjährige Shemredin formt aus Knetgummiwürsten die Worte „Ente“, „Wiese“ und „Gras“, die zehnjährige Vivian übt am Nachbartisch Silben. „Kaufen“ liest sie aus ihrem Lernheft vor. Sie wirft Jürgen Sellere einen Schaumstoffwürfel zu und ruft „kau“ – der Lehrer antwortet: „fen“ und wirft den Würfel zurück. „Zwei“, sagt Vivian, und schreibt den Begriff in krakeliger Schreibschrift in die Spalte mit den zweisilbigen Wörtern.
Was einfach aussieht, ist knochenharte Basisarbeit. Das Kneten spricht den Tastsinn an, die bunten Farben wecken Emotionen. So verankern sich die Buchstabenfolgen fester im Gehirn als beim Schreiben mit Tinte. Und Vivians Silbenzählen ist ein Schritt auf dem schwierigen Weg zum flüssigen Lesen. Geduldig korrigiert Jürgen Sellere jeden ihrer Fehler. Am Ende der Stunde schafft sie sogar das komplizierte Wort „Scho-ko-la-denpud-ding“ auf Anhieb fehlerfrei. Noch Grundlegenderes übt Jürgen Selleres Kollege Frank Wronski mit den Jüngsten: Die Erst- und Zweitklässler sind „Affenkinder“, die zu Dschungelgeräuschen aus dem CD-Player durch die Turnhalle toben. Rasselt Wronski dazu mit einer Rassel, stürmen sie kreischend die Sprossenwand. Schlägt er auf eine Trommel, flitzen sie unter ein in einer Ecke aufgespanntes Tuch. „Das trainiert ihre Assoziationsfähigkeit“, erklärt der Pädagoge. Wenn sie „Rassel = Schlange = auf-den-Baum-klettern“ miteinander verbinden können oder „Trommel = Gewitter = in-die-Höhle-kriechen“, dann fällt es ihnen auch leichter, Buchstaben mit Lauten zu verknüpfen.
So angenehm die Atmosphäre innerhalb der Schule ist, nach außen haben Schüler und Eltern noch mit Vorurteilen zu kämpfen: Die Kinder steigen in einen anderen Schulbus als die anderen, und sie haben weniger Freunde in der Nachbarschaft. „Das Stigma „Förderschule“ können wir nicht aufheben“, sagt Schulleiter Bernhard Schrape. „Wir können nur damit umgehen.“
Mit dreierlei begegnet die Schule am Voßbarg der drohenden sozialen Ausgrenzung ihrer Schüler: Erstens durch die Bestrebung, so viele von ihnen wie möglich in den ursprünglichen Schulen zu belassen – ein Drittel ihrer Stunden verbringen die Lehrer in den acht anderen Grundschulen in Rastede und im benachbarten Wiefelstede, wo sie zum Beispiel Kinder mit Sprachstörungen und Verhaltensauffälligkeiten betreuen. Zweitens sorgt das Kollegium dafür, dass Eltern und Schüler stolz auf „ihre“ Schule sind. Durch einen engen Kontakt zur Regionalzeitung etwa, die über Pilotprojekte der Schule berichtet, durch die erfolgreiche Teilnahme an Schülerwettbewerben oder einfach durch positive Rückmeldungen. Ein Lehrer rief kürzlich die Eltern eines sehr scheuen Mädchens an: „Ihre Tochter hat heute zum ersten Mal vorgelesen“, gratulierte er ihnen.
Drittens schließlich helfen die Lehrer jedem einzelnen, seine persönlichen Talente zu entwickeln. Das Angebot an Arbeitsgemeinschaften der Ganztagsschule ist, gemessen an der geringen Zahl der Schüler, gewaltig. Die Kinder können wählen, ob sie nachmittags nähen oder den Gemüseacker bewirtschaften, ob sie zu der Mofagruppe, den „Lesegeistern“ oder der Schülerband gehören wollen, ob sie beim Küchendienst „Iss was“ mitmachen, dem Bügelservice „Heiße Eisen“ oder der schuleigenen Imkerei, wo die Kinder selbst Honig produzieren – vom Aussäen der Blumenwiese bis zum Abfüllen der 250-Gramm-Gläser.
Und noch etwas trägt dazu bei, Vorurteile gegenüber den Förderschülern aufzuheben: Die Rasteder Mädchen und Jungen leisten oft weitaus mehr als von ihnen erwartet wird. Von den 80 Absolventen der letzten drei Jahre schafften 47 den Hauptschulabschluss, 8 wechselten anschließend auf die Realschule und 13 begannen eine Ausbildung. So beeindruckend die Lehrer selbst die Erfolgsquote ihrer Schüler finden, schätzen sie deren Chancen am Arbeitsmarkt doch als schwach ein. Sie wissen, wie wenig einer auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten hat, der seinen Hauptschulabschluss nur unter idealen Bedingungen geschafft hat – und vielleicht auch bloß mittelmäßige Noten vorweisen kann.
Umso motivierter sind die Pädagogen, die Schüler mit Fertigkeiten wie Bügeln und Spülen auf Alternativen zu Ausbildungsberufen vorzubereiten. Deshalb schafft Schulleiter Schrape so exotische „Lehrmittel“ wie die neue „Hauben-Durchschubspülmaschine“ an: Wer dieses zischende Profigerät aus Edelstahl bedienen kann, bekommt später leichter einen Job als Hilfsarbeiter in einer Kantine.
Es gehört zu den vielen Spagaten an der Schule am Voßbarg, die Jugendlichen trotz dieses Realismus in ihren Träumen zu bestärken. Zeit für Träume ist zum Beispiel nach getaner Arbeit, wenn die Küchen-Crew mit ihrer Lehrerin Elis Ritterbeeks zum Tee im Keller zusammenkommt. Den Raum haben die Schüler mit Herbstlaub und Kürbissen dekoriert, es duftet nach Apfelringen, die unter der Decke zum Trocknen hängen. Der 15 jährige Marvin erzählt, dass er Bäcker werden will. Heute Mittag hat er würzige, handtellergroße Fladenbrote gebacken als Beilage zum Gemüseauflauf. Seit seinem Schulpraktikum jobbt er in einer Bäckerei. „Ich stehe gerne früh auf“, sagt er. „Und ich will eine Dönerbude aufmachen, wie mein Onkel“, sagt der 16-jährige Ersan. „Am liebsten zusammen mit Frau Ritterbeeks, schließlich sind wir schon seit zehn Jahren ein eingespieltes Team.“ Der dunkelhaarige, kräftige Junge lacht seine Lehrerin an. „Wie man das genau anstellt, weiß ich noch nicht. Man muss wohl reich sein und ein bisschen geschickt auch. Aber ich habe ja noch Zeit, das alles zu planen.“
Sara Mously