Porträt

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Eine gelbe Linie auf dem Asphalt markiert die Grenze. Daneben: Eine Bank zum Sitzen, falls es mal etwas länger dauert. Weiter dürfen die Eltern nicht, wenn sie ihre Kinder zur Schule bringen oder sie wieder abholen wollen. Vielen fällt es am Anfang schwer, ihr Kind mit dem großen Schulranzen auf dem Rücken ganz allein davongehen zu sehen. Doch von Anfang an erklären die Lehrer ihnen, wie wichtig Selbstständigkeit für die Entwicklung der Kinder ist. Sie regen an, dass die, die in der Nähe wohnen, den Schulweg allein gehen. Kinder, die gebracht werden müssen, können sie, statt an der Schule, ein paar Straßen vorher absetzen. Oder sie können sich mit dem Bringen abwechseln, so dass nicht immer die eigene Mutter oder der eigene Vater die Kinder fährt. „Aber wenn Kinder oder Eltern starke Trennungsängste haben, zwingen wir ihnen natürlich nicht unsere Vorstellungen auf", so Schulleiterin Brigitte Dörpinghaus. „Sondern setzen uns behutsam damit auseinander und suchen gemeinsam nach der Ursache."

Die Schüler zu größtmöglicher Selbstständigkeit zu erziehen ist ein wichtiges Ziel der Remscheider Gemeinschaftsgrundschule Hackenberg. Die 264 Erst- bis Viertklässler sollen sich nicht als unfertige Wesen erleben, die erst noch erwachsen werden müssen, sondern als mündige Forscher, als Entdeckereiner großen, spannenden Welt.

Die Schule gehört den Kindern, das sieht schon, wer den Schulbau betritt. Über und über sind die Flure dekoriert mit Fotos, mit Hasen und Pinguinen aus Pappe und getuschten Meerjungfrauen, deren Fischschwänze aus Alufolie lustig glitzern. Freundlich sieht es auch in den Klassenräumen aus. Die Tische in den hellgelb gestrichenen Räumen sind nicht zur Tafel gerichtet, sondern bilden, zu Gruppen zusammengestellt, kleine Inseln im Raum. Konzentriert arbeitet jedes Kind an seiner Aufgabe. Die siebenjährige Jaqueline übt lesen. Dazu sucht sie sich aus einem Hängeregister das Heft mit ihrem Namen darauf. Dann marschiert sie zu dem großen Holzregal an der Rückwand des Klassenraums. Es ist voll mit Büchern, Materialkisten, Logik-Spielen und Arbeitsblättern. Jaqueline greift sich ein Ringbuch heraus, in dem auf jeder Seite ein kurzer Satz steht. „K" spricht sie den ersten Buchstaben leise aus. Dann kommt ein Buchstabe, der ihr noch nicht so geläufig ist. Sie schaut neben die Tafel, dort hängen die Buchstaben groß an der Wand, zusammen mit je einem Bild von einem Gegenstand, der mit diesem Buchstaben anfängt. "Kö", murmelt sie, dann „König", die erste Aufgabe ist gelöst. Ihr Mitschüler Deniz befasst sich derweil mit dem Buchstaben „I". In der Hand hält er rosafarbene Bilderkarten, auf dem Tisch liegt verdeckt das dazugehörige Lösungsblatt. Karte für Karte schaut er sich an und sortiert die Begriffe heraus, die mit „I" beginnen. Ein Iglu und eine Insel liegen schon auf dem Stapel, es folgen ein Igel und ein Indianer. Am Ende dreht er das Lösungsblatt um und schaut, ob er alle Karten richtig herausgesucht hat.

Die Kinder kontrollieren nicht nur eigenständig ihre Ergebnisse, sondern sie dokumentieren auch selbst, was sie erledigt haben. Mit Zettelkästen, in die sie die Wörter einsortieren, die sie schon beherrschen, und „Lernpässen", in die sie Aufgaben, die sie bewältigt haben, eintragen. Eigenständigkeit bedeutet jedoch nicht, dass die Kinder mit dem Lernprozess alleingelassen werden. Während die Kinder arbeiten, geht Lehrerin Anne Keller durch den Raum, sieht den Kindern über die Schulter, mahnt sie zur Ruhe, wenn sie zu zappelig werden, und schaut, ob sie Wörter auch richtig schreiben. „Wir verstehen uns nicht als Wissensvermittler", erklärt sie, „sondern wir organisieren und begleiten das Lernen."

Keller und ihre Kollegen gehen davon aus, dass Kinder von sich aus Lust haben, zu lernen. Sie wollen können, was die Großen können. Herausfinden, wie die Welt funktioniert. „Hilf mir, es selbst zu tun", lautet der Grundgedanke der Reformpädagogik, die Maria Montessori Anfang des 20. Jahrhunderts begründete. Neben den vier jahrgangsgemischten ersten und zweiten Klassen und den je zwei dritten und vierten Klassen, gibt es in der Grundschule Hackenberg auch zwei Montessori-Klassen, in denen Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Noch stärker als in den anderen Klassen können sich die Großen hier als Experten wahrnehmen, die den Kleineren helfen können. Und sie lernen früh, wie man das behutsam macht: Vorsagen ist ebenso verboten, wie ein Kind auszulachen, weil es einen Fehler macht.

Fehler sind an der Grundschule Hackenberg alles andere als eine Katastrophe. Sie gehören zum Lernen dazu, sind wichtige Informationsquellen für Lehrer und Kinder: Wo hat sich der Stoff noch nicht in den Köpfen verankert? Auf welchem Feld braucht jemand Hilfe? Dass Fehler sein dürfen, müssen die 23 Lehrerinnen vor allem den Eltern regelmäßig erklären. Die sind es aus ihrer eigenen Kindheit gewohnt, dass man am besten durch die Schule kommt, wenn Diktate und Hausaufgaben möglichst ohne Patzer abgeliefert werden. Doch bei Brigitte Dörpinghaus schrillen die Alarmglocken, wenn ein Kind mit allzu perfekten Hausaufgaben in die Schule kommt. Das bedeutet nämlich zuweilen, die Eltern haben nachgeholfen, oder das Kind hat viel zu lange an der Aufgabe gesessen. Für die Dauer der Hausaufgaben gelten an der Remscheider Schule strenge Regeln: Die Erst- und Zweitklässler sollen eine halbe Stunde arbeiten, die größeren eine Stunde. Hausaufgaben sind zum Üben da, nicht als Strafe für schwächere Kinder. Für die Kinder ist der souveräne Umgang mit Fehlern selbstverständlich. Selbstbewusst meldet sich die blonde Lisa aus der vierten Klasse, als ihre Lehrerin fragt, ob jemand Schwierigkeiten bei der Mathe-Hausaufgabe hatte. „Ja, ich, auf Seite 16. Ich wusste nicht, wie man das ausrechnet." Sie bringt das ganz sachlich vor, ohne Scham. „Wer hatte die Probleme noch?", fragt die Lehrerin, und ruft die, die noch Fragen haben zu sich, um die schwierige Aufgabe noch einmal durchzugehen.

Dass die Lehrer auf die Bedürfnisse jedes Kindes eingehen, macht es möglich, dass auch Kinder mit besonderem Förderbedarf und hochbegabte Kinder in den Klassen mit unterrichtet werden. Sie bekommen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Aufgaben und werden von Sonderpädagoginnen betreut. Acht Kinder, denen das Lernen besonders leicht fällt, treffen sich einmal in der Woche zum „Selbstlernen" in der Schulbibliothek. Im Augenblick arbeiten sie zum Thema „China". Die Viertklässlerin Lisa sitzt am Computer und stellt eine Power-Point-Präsentation zusammen. Dafür durchforstet sie das Internet nach Fotos von chinesischen Wohnhäusern. Derweil beugt sich Mitschülerin Couna über ein Poster, das sie zum Thema „Wirtschaft" begonnen hat. „Die meisten Menschen verdienen wenig", schreibt sie mit Filzstift darauf. Ihre Ergebnisse wollen die Kinder in einer Ausstellung präsentieren. „Darauf freue ich mich schon", sagt Couna. „Dann können alle sehen: Das haben wir ganz alleine gemacht."

Sara Mously

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War das peinlich! „Aziz, kommst du bitte mal, Reinhard möchte dich sprechen!" Aziz wurde ins Lehrerzimmer gerufen, alle bekamen es mit. Sein Klassenlehrer war am Telefon. Der war zu Hause, krankgeschrieben. Wie er denn so mit Mathe klarkomme, wollte Reinhard wissen. Und ob er nachmittags zu ihm kommen könne, um zu üben. „Das war mir damals in der sechsten Klasse furchtbar unangenehm, einen Lehrer zu Hause zu besuchen", erzählt Aziz, heute 19 Jahre alt.

Was sie damals wiederholt haben, daran kann sich Aziz nicht mehr erinnern. Aber diesen Anruf, den vergisst er nicht. Weil Reinhard, sein Lehrer, nicht aufdringlich war oder gar komische Absichten hatte, sondern ihm einfach nur helfen wollte. „Cool", findet Aziz diesen Besuch inzwischen. Der kräftige Oberstufenschüler mit dem dunklen Vollbart geht seit der fünften Klasse auf die Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule, die in Göttingen nur IGS genannt wird, die Abkürzung für Integrierte Gesamtschule. Aziz hatte eine Empfehlung für die Realschule. Im nächsten Jahr wird er Abitur machen. Weil Lehrer wie Reinhard an ihn geglaubt und ihm geholfen haben.

Burak kam mit einer Hauptschulempfehlung in die Fünfte. Da hatte er schon einmal eine Klasse wiederholt. „Ich hatte das Gefühl: Aus mir wird nichts. Die anderen in der Klasse waren für mich lauter Streber. Im Unterricht habe ich viel Mist gebaut." Aber die Lehrer bestraften ihn nicht, sondern fragten: Warum machst du das? „Sie haben mir klar gemacht: Du kannst etwas erreichen", erzählt Burak, der heute ebenfalls in die zwölfte Klasse geht. Nach seinem Abitur will der 18-Jährige an die Uni gehen und studieren. Sein Berufsziel: Lehrer für Biologie und Deutsch.

In der Oberstufe trifft man viele Schüler wie Aziz oder Burak, denen die Lehrer in der Grundschule das Abitur nicht zugetraut haben. Die Lehrer schaffen es nicht nur, keinen Schüler zu verlieren, die Schule zählt auch noch zu den besten fünf Prozent der Schulen mit gymnasialer Oberstufe in ganz Niedersachsen. Bei den zentralen Abiturprüfungen schneiden die Schüler hervorragend ab. 2010 machte die beste Abiturientin des Bundeslandes mit einem Schnitt von 0,7 hier ihr Abitur, 25 Prozent der Schüler hatten eine Eins vor dem Komma bei ihrem Abschlusszeugnis.

Nicht nur beim Kriterium Leistung erhielt die IGS die Bestnote A, auch bei den übrigen fünf Kategorien des Deutschen Schulpreises (Vielfalt, Unterricht, Verantwortung, Schulleben und -entwicklung) schnitt sie hervorragend ab. Die 14-köpfige Jury entschied deshalb einstimmig: Die Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule bekommt den Hauptpreis 2011. Sie ist die beste Schule Deutschlands.

Der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther begleitet die IGS seit zehn Jahren. Er sagt: „An dieser Schule wird hirngerecht gelernt: Die Kinder erschließen sich den Stoff selbstständig. Sie haben Freude am Entdecken. Dadurch werden neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, die wie Dünger aufs Gehirn wirken." So macht Lernen glücklich.

Josephine wechselte vor einem Jahr an die IGS; die 17-Jährige hielt den Druck am G8-Gymnasium nicht mehr aus. „An meiner alten Schule herrschte eine Ellenbogengesellschaft. Bei Arbeiten legte meine Freundin ihren Arm auf den Tisch, damit ja keiner von ihr abschreiben konnte. Die Lehrer haben bewusst die Konkurrenz geschürt. Hier ist es ganz anders. Meine Klassenkameraden kommen auf mich zu, um mir zu helfen."

Die Ganztagsschule hat einen hohen Leistungsanspruch, auch wenn es bis zur achten Klasse keine Noten gibt und von der fünften bis zur zehnten Klasse Haupt- und Realschüler gemeinsam mit Gymnasiasten lernen. Keimzelle für das gemeinsame Lernen sind die sogenannten „Tischgruppen": Je sechs Schüler sitzen und arbeiten an einem Tisch. Sie rotieren alle halben Jahre, damit jeder Schüler jeden kennenlernt.

Anna, Mehtap, Melissa, Gretje, Finn und Maurice bilden eine Tischgruppe in der Stammgruppe 9.3. Am Dienstag steht in den ersten beiden Stunden Mathematik auf dem Stundenplan, die Fächer sind überwiegend in Doppelstunden organisiert. „Unter Dach und Fach" heißt ihr Thema in Mathe. Die Neuntklässler sollen nicht nur die Formeln zur Berechnung von Körpern und Flächen lernen, sie basteln auch Modelle aus Holz, damit sie die Dimensionen buchstäblich begreifen. Heute sollen sie die Oberfläche eines 3-seitigen Prismas berechnen.

An fünf Tischen diskutieren die 30 Schüler Lösungsansätze und Formeln. Es herrscht eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre. Auch an Tischgruppe zwei stecken sie die Köpfe zusammen: die blonde Melissa mit dem dunkelhaarigen Maurice. „Ich sitze neben ihm, weil er Mathe besser kann als ich", sagt die 15-Jährige. Auf ihren Arbeitsbögen stehen Grund- und erweiterte Anforderungen. Jeder Schüler entscheidet selbst, welche Aufgaben er löst. Aber das 6er-Team ist dafür verantwortlich, dass alle mitkommen. „Anna sagt mir, wenn ich mich besser konzentrieren soll", sagt Mehtap. Und wenn es mal Zoff gibt? „Wir klären immer gleich, wenn was nicht klappt", sagt Gretje, 14. Hirnforscher Hüther sagt: „In heterogenen Gruppen lernen Kinder besser. Verschiedenheit ist die Voraussetzung für Individualität. In homogenen Gruppen lernen Schüler nur, sich abzugrenzen."

An der IGS sind alle per Du, sogar den Schulleiter nennen alle nur „Wolfgang". Das Duzen wirkt weder kumpelhaft noch anbiedernd, sondern ganz natürlich. Es ist Teil der Schulkultur. „Ich finde es gut, dass wir die Lehrer duzen, wir vertrauen denen echt. Und die tun auch was dafür. Steffi fragt nach, wenn man traurig guckt", erzählt Mehtap. Die 15-jährige Türkin trägt ein Shirt mit auffälligem Leopardenmuster, kunstvoll zerrissene, schwarze Leggings, ihre Fingernägel hat sie in drei Farben lackiert. An der IGS sind die Lehrer keine Pauker, die vorn an der Tafel stehen und Monologe halten, sondern Lernbegleiter. Jede Klasse hat zwei Klassenlehrer, die Tutoren. Die sechs Stammgruppen mit 180 Schülern eines Jahrgangs sind um ein sogenanntes „Cluster" angelegt, ein offener, heller Raum. Er dient als Arbeitsund Treffpunkt für Schüler und Lehrer. Der Betonklotz für die 1500 Schüler und ihre 130 Lehrer, der beim Betreten an einen Flughafenterminal erinnert, wird so in kleine Lernbereiche aufgebrochen.

Im Cluster der „blauen Gruppe", zu der auch die 9.3. gehört, steht ein Aquarium zwischen Holztischen, Sesseln, Bänken und Grünpflanzen. An den Wänden haben die Schüler Schließfächer. Die Möbel sind abgenutzt, aber gepflegt. Genauso wie der hellgraue Teppich, der überall in der Schule ausgelegt ist. Auch das Lehrerzimmer für den Jahrgang findet man hier. Die Türen stehen immer offen. 12 bis 15 Lehrer bilden ein Jahrgangsteam. Sie gestalten die Stundenpläne, regeln die Aufsicht in den Pausen, vertreten sich gegenseitig, besprechen die Rhythmisierung des Stoffs oder wie sie mit Schülern umgehen. „Wir sind dichter dran, als manchem lieb ist", sagt Florian Scholz, 39. Der Lehrer hat bei einem seiner Schüler eine Bierfahne gerochen. Der Junge wurde nach Hause geschickt, die Eltern werden zum Gespräch gebeten. Jetzt haben alle Kollegen ein Auge auf den Jugendlichen. Die 9.3 hat Deutsch bei ihrer zweiten Tutorin, Karola Hagedorn, 58. Die beiden Klassenlehrerinnen Steffi und Karola decken die meisten Fächer ab, sie begleiten ihre Schützlinge sechs Jahre lang, von der fünften bis zur zehnten Klasse. Die Neuntklässer bereiten sich auf eine Lernzielkontrolle am Freitag vor zum Thema „Erörterung". Sie diskutieren die Einführung von Schuluniformen. Wieder sammeln die Schüler Argumente in der Tischgruppe, gliedern sie in Vor- und Nachteile und präsentieren ihre Ergebnisse auf einem Plakat vor der Klasse. Keiner scheut sich vor der Gruppe zu reden, Kritik wird sachlich und nicht verletzend geäußert.

„So einen Unterricht habe ich noch nicht erlebt", sagt Hans Anand Pant, Direktor des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Der Professor ist Mitglied der Schulpreis-Jury und hat die Gesamtschule gründlich inspiziert. „Die Schüler werden ständig angehalten, ihre Lernergebnisse zu präsentieren. Die Tischgruppen sind toll." Auch seine Jury-Kollegin Gisela Schultebraucks-Burgkart ist begeistert. Die Schulleiterin lässt sich nicht so leicht beeindrucken. Sie weiß, wie man Kinder individuell unterrichtet und unterschiedliche Begabungen fördert – ihre Grundschule, die Kleine Kielstraße in Dortmund, bekam schließlich 2006 den Deutschen Schulpreis verliehen. „Das Tischgruppenmodell ist genial", sagt sie. „Die Schüler lernen: Wir sind ein Team. Und erzielen dabei sehr gute Lernergebnisse." Wolfgang Vogelsaenger, Schulleiter der IGS, sagt: „In der Tischgruppe sitzt der zukünftige Maurer neben dem späteren Architekten. Wenn sie bei uns gelernt haben, miteinander zu sprechen und zu arbeiten, dann schaff en die das auch als Erwachsene."

Nach dem Mittagessen in der Mensa haben die Schüler der 9.3. „AÜ": Arbeits- und Übungsstunde. Die Schüler nutzen die Zeit für ihre Wochenaufgaben, klassische Hausaufgaben kennen sie nicht. Gretje arbeitet an einer Tabelle zu Virusinfektionen, Finn und Maurice haben sich einen ruhigen Tisch im Cluster gesucht. Sie bereiten blaue und grüne Plakate für den sogenannten „Tischgruppenabend" vor. Eine weitere pädagogische Besonderheit der Schule.

Viermal im Jahr präsentieren die Schülerteams ihre Arbeiten zu Hause vor ihren Müttern und Vätern. Zwanzig dieser privat organisierten Elternabende besuchen die Lehrer im Laufe eines Schuljahres. Ganz schön viel Zeit. Doch die rechne sich, meint Stefanie Vogelsaenger, 46: „Ich kenne von jedem Schüler den Hintergrund, wir haben eine Vertrauensbasis. Dadurch entstehen viel weniger Konflikte." 18:30 Uhr: Melissa, Mehtap, Anna, Gretje, Maurice und Finn sitzen mit ihren Vätern und Müttern und den beiden Lehrerinnen Steffi und Kornelia in der hellen Wohnküche von Jörg und Birgit Mannigel, den Eltern von Gretje. Die Eltern hocken dicht gedrängt auf der Eckbank unter der Weltkarte an der Wand. Stühle werden rangerückt, damit auch ja alle sechs Jugendlichen und die acht Erwachsenen Platz um den Esstisch aus Kiefernholz finden. Vor ihnen stehen Brötchen, belegt mit Wurst und Käse. Die Mädchen haben am Nachmittag Wurzeln und Gurken geschnippelt, Dipp vorbereitet und Fruchtquark selbstgemacht.

Maurice und Finn suchen nach einem Platz für ihr blaues Plakat. „Können wir die Pappen an den Küchenschrank kleben?", fragt Gretje. Ihre Mutter nickt. Gretje sucht Tesafilm in einer Küchenschublade. Die Jungs heften das Papier an den Schrank. „Also, wir haben in Mathe gerade das Thema 'Unter Dach und Fach'. Wir berechnen Seiten von Dächern, also von Prismen", erzählt Maurice. Finn hält das Modell eines Prismas hoch, Maurice erklärt die Formeln. Bei den Tischgruppenabenden präsentieren die Schüler nicht nur, was sie in den Fächern Naturwissenschaften, Deutsch und Englisch erarbeitet haben, sondern wie bei jedem normalen Elternabend werden auch Konflikte in der Klasse besprochen, die Eltern erfahren alles über die nächste Klassenfahrt oder das anstehende Praktikum. Aber wie im Unterricht ist auch die Information der Mütter und Väter keine Lehrer-Show, sondern auch hier wechseln die Pädagoginnen die Methode. „So, jetzt sollen die Eltern aktiv werden und dazu vertauschen wir die Kinder", sagt Lehrerin Steffi Vogelsaenger. Melissa rückt neben die Mutter von Maurice auf die Eckbank, der Vater von Gretje verzieht sich mit Finn ins Wohnzimmer. Und Mehtap lehnt mit Annas Mutter an der Küchenanrichte. Zehn Minuten lang fragt je ein Vater oder eine Mutter einen Schüler aus: In welcher Branche wirst du arbeiten? Was hast du für Aufgaben? Wie sind deine Arbeitszeiten? Anschließend berichten die Eltern, was sie herausgefunden haben. Margot Lotze erzählt: „Melissa macht ihr Praktikum als Schwimmmeisterin."

Dann schicken die Lehrerinnen die Schüler mit den Worten aus der Küche: „Ihr könnt jetzt spielen gehen." Grinsend verziehen sich die Jugendlichen ins Wohnzimmer, um mit der Playstation vor dem Fernseher Karaoke zu singen. In der Küche rutschen die Lehrerinnen und die Eltern um den Tisch zusammen. „Wir möchten von Euch wissen, wie fandet ihr die Tischgruppenabende der letzten vier Jahre?", fragt Steffi Vogelsaenger. Auch Mütter, Väter und Lehrer duzen sich selbstverständlich. Margot Lotze sagt: „An so einem Abend erlebt man sein Kind ganz anders, zu Hause erzählt Maurice nicht mehr so viel. Wir erfahren, woran sie in der Schule arbeiten. Mein Sohn ist ein Einzelgänger. Ich glaube nicht, dass er sich an einer anderen Schule so geöffnet hätte." Jörg Mannigel war zunächst skeptisch als erst seine älteste Tochter Merle und dann Gretje auf die Gesamtschule gehen wollten. „So lange keine Noten – die müssen doch wissen, wo sie stehen, dachte ich. Ich wollte lieber ein Gymnasium, nicht so eine Schulform, die man nicht so kennt", sagt er. Aber inzwischen ist er restlos überzeugt: „Mich beglückt es zu sehen, wie sicher unsere Kinder ihre Arbeit präsentieren, wie sie sich wertschätzen, egal wie unterschiedlich sie sind. Das erlebt man nicht häufig im Arbeitsleben. Das habt ihr gut hingekriegt", sagt der Geschäftsführer der Diakonie zu den beiden Lehrerinnen. Der Namensgeber der Schule, Georg Christoph Lichtenberg, war Physiker und Querdenker. „Er passt ganz gut zu uns", sagt Schulleiter Wolfgang Vogelsaenger. Der 59-Jährige leitet die IGS seit neun Jahren. Vor 35 Jahren wurde die Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule von Wissenschaftlern, Lehrern, Eltern, Politikern und Architekten als Gegenmodell zum klassischen dreigliedrigen Schulsystem entwickelt. Heute kämpft Schulleiter Vogelsaenger um ausreichende Lehrerstellen. „Früher hatten wir Doppelbesetzungen in den AÜ-Stunden, heute nicht mehr", sagt er. Und er fordert die Erhaltung von G9. In Niedersachsen sollen auch die Gesamtschulen die Zeit bis zum Abitur, wie die Gymnasien, um ein Jahr kürzen (G8). Die Oberstufe möchte Vogelsaenger weiter entwickeln – und ein zusätzliches Gebäude braucht er. Jury-Mitglied Schultebraucks-Burgkart sagt: „Andere Schulen können von der IGS lernen: Es braucht eine Vision. Die Lehrer brennen immer noch für ihre Schule. Das lässt sich nicht von oben verordnen." Und Professor Hans Anand Pant sagt: „Ich hätte wirklich gerne so eine Schule besucht wie die Göttinger!"

Bevor Josephine sich entschied, vom Gymnasium an die Gesamtschule zu wechseln, überlegte sie gründlich: „Habe ich später vielleicht Nachteile, weil ich mein Abitur hier gemacht habe?" In der Universitätsstadt steht die Abkürzung IGS immer noch für„ Idioten-Gesamtschule". „Aber wichtig ist doch, dass ich mich wohlfühle", sagt Josephine. Der Schulpreis wird nun auch die letzten Zweifler überzeugen: Die Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule in Göttingen ist eine ausgezeichnete Schule.

Catrin Boldebuck

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Ein Gymnasium, an dem die Mehrheit der Schüler Migranten sind – eine Utopie in Deutschland? Irrtum.

So hatte sich Robin die neue Schule nicht vorgestellt. Völlig verunsichert kam er nach dem ersten Schultag nach Hause. In seiner fünften Klasse waren er und ein Klassenkamerad die einzigen deutschen Schüler. Einen „Kulturschock" attestierte ihm Schulleiter Bernd Knorreck. Am zweiten Tag weigerte sich der Junge, in die Schule zu gehen. Da fühle er sich fremd. Sieben von zehn Schülern an seiner Schule sind mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen: Türkisch, Russisch, Polnisch, Arabisch, Bengalisch, Afghanisch, Finnisch, Ovambo, Lingala, Urdu. Robin fühlte sich wie auf einem anderen Planeten. Die Eltern ermutigten ihn durchzuhalten. Sein Vater, Ingenieur bei Siemens, und die Mutter, gelernte Goldschmiedin, hatten sich bewusst für die Schule im Südwesten Kölns entschieden, obgleich es Alternativen gab, die näher lagen. Er solle es noch eine Woche versuchen, bat ihn sein Vater, er arbeite schließlich auch mit ausländischen Kollegen zusammen. Inzwischen besucht Robin die sechste Klasse. Zu seinen besten Freunden zählt Kotaro aus Japan. Robins Urteil heute: „Eigentlich ist es bei uns egal, woher einer stammt."

Klingt fast zu schön, um wahr zu sein, erst recht, wenn man die Gegend kennt, in der die Schule liegt: Köln-Mülheim, ehemaliges Arbeiterviertel, gleich um die Ecke die Keupstraße, „Klein-Istanbul" genannt, in der es kaum noch deutsche Geschäfte gibt. Etwa ein Drittel der Schüler lebt von Hartz IV. Eltern der Mittelschicht machen seit Jahren einen Bogen um diese Schule. Selbst unter Migranten gibt es Vorbehalte. Schülerin Fatima, 15, und ihre Eltern bekamen vor einigen Jahren noch zu hören, die Tochter solle doch besser das Hölderlin-Gymnasium besuchen, statt diese „asoziale Schule mit den vielen Ausländern".

Aus dem einstigen Mädchengymnasium wurde in den Neunziger Jahren eine Ganztagsschule vor allem für Zuwanderer. „Erst kam die polnische, dann die russische, dann die türkische Welle", sagt Knorreck, der 2005 die Leitung der Schule übernahm. Er selbst kam aus dem Stadtteil Lindental, „wo die Professoren leben", und Eltern viel Geld für Nachhilfeunterricht investieren. Nur den wenigsten Genoveva-Schülern wird derart geholfen. Umso erstaunlicher, dass sie im Zentralabitur ebenso gut abschneiden wie Abiturienten in bürgerlichen Stadtteilen. „Konsequent, hochprofessionell und höchst wirksam", so die Jury des Deutschen Schulpreises, setze das Gymnasium um, was Bildungsreformer seit Jahren fordern, nämlich endlich das Potenzial von Einwandererkindern zu nutzen, die in vielen deutschen Großstädten zwar schon die Mehrheit ihrer Generation stellen, aber überproportional häufig auf Hauptschulen landen.

Das Motto des Genoveva: „Alle reden von Integration. Wir machen sie." Mit der Sprache fängt alles an. Ohne sehr gute Deutschkenntnisse kein Abitur, das weiß am „Geno" jedes Kind. Trotzdem werden selbst Kinder, die kein Wort Deutsch sprechen, aufgenommen, sofern sie den Aufnahmetest in Englisch und in ihrer Muttersprache bestanden haben. Danach lernen sie Deutsch in Intensivkursen bei speziell ausgebildeten Lehrern. So wie die 15-jährige Kaja aus Polen, die 12-jährige Anastasia aus Russland oder die 11-jährige Viktoriya aus Bulgarien, die erst seit wenigen Monaten in Deutschland leben. Regina Beckmann unterrichtet die kleine Gruppe in der Mittagszeit, während andere schon in der Mensa sitzen. Die Lehrerin hat Küchengeräte als Anschauungsobjekte mitgebracht. „Schüssel", schreibt ein Mädchen an die Tafel. Regina Beckmann erklärt nicht nur die Schreibweise, sondern auch die Rechtschreibregel dazu. Ihre Schüler lernen schnell und zielstrebig. Immerhin ein Fünftel der Genoveva-Schüler, besonders jene aus Osteuropa, hat Akademikereltern – darunter Ingenieure und Ärzte, die wissen, wie wichtig das Abitur für ihre Kinder ist.

Nach ein paar Monaten beherrschen solche ehrgeizigen Seiteneinsteiger genug Deutsch, um dem Unterricht folgen zu können. Daneben gibt es auch am Genoveva Schüler, die in einer Parallelwelt aufwachsen. Es gehe nicht darum, Migranten die deutsche Kultur aufzuzwängen, betont der Schulleiter. Aber ein paar „harte Regeln" müssen sein: Pünktlichkeit und Disziplin, gegenseitiger Respekt und Solidarität sind Pflicht. Wer seine Mitschüler notorisch stört, kommt in den „Trainingsraum", wo er allein, unter Aufsicht eines Lehrers, arbeiten muss. Eltern verpflichten sich schriftlich, dass ihr Kind an Klassenfahrten und am Schwimmunterricht teilnehmen darf. Zugleich werden Kompetenzen der Schüler wichtig genommen. Türkisch kann als Prüfungsfach im Abitur gewählt werden. Statt einer Weihnachtsfeier gibt es ein „Winterfest", die Schüler gehen durch Räume, die von Mitschülern mit Symbolen jüdischer, christlicher und muslimischer Feiertage ausgeschmückt wurden.

In Klasse sieben sprechen fast alle sehr gut deutsch. Das ist notwendig, wenn man Sinn und Form von Heines Ballade „Belsazar" ergründen will. „Der König stieren Blicks da saß, mit schlotternden Knien und totenblass", rezitiert Medine. Die Mitschüler sollen „coachen" und Tipps für den besseren Vortrag geben. Marice trägt das „Heideröslein" vor. „Du hast Takt, Metrum und Betonung eingehalten", loben die Klassenkameraden. „Aber sprich noch einen Tick lauter." Leistungsbereitschaft verlangt auch Tanzpädagogin Sarah Schuhmacher. Tanz ist für die Ganztagsschüler am Genoveva bis Klasse neun Pflichtfach. An diesem Morgen studiert sie mit elf Mädchen und fünf Jungen der siebten Klasse eine neue Technik ein. „Klarer Blick, stolzer Rücken! Hände aus den Hosentaschen, Fliegerdrehung, hopp!" Schuhmacher, schlank und durchtrainiert, tanzt die Bewegungen vor. Die meisten Mädchen machen sie mühelos nach, doch einige Jungs stehen sichtlich neben sich. Die Arme von Emrah hängen schlaff wie die Zweige einer Trauerweide. „In wenigen Wochen", ermahnt Sarah Schuhmacher, „habt ihr einen öffentlichen Auftritt!" „Was?" klingt es aus der Klasse.

Die Schüler lernen Schritt für Schritt, Verantwortung für ihr Stück zu übernehmen. „Du stehst – du gehst – du entscheidest!", ermuntert die Lehrerin ihre Schülerin Medine. Und gleich darauf Emrah: „Du führst die Klasse an." Emrah steht jetzt vorn. Ein Ruck geht durch seinen Rücken – und auf einmal fließen seine Bewegungen.

Tanz funktioniert, wenn Sprache noch nicht funktioniert, erklärt die Tanzpädagogin. Tanz sei ein Ventil für Emotionen, sorge für ein besseres Miteinander, sogar für bessere Noten. Schülerin Laura, 14, sagt: „Beim Tanz muss man sich vertrauen." Egal, woher einer stammt.

Solche Angebote machen die Schule auch für deutsche Schüler attraktiv. Aber das allein würde nicht reichen, wenn das Engagement der Lehrer nicht wäre. „Man darf sie fragen, man darf auch mal etwas nicht verstanden haben", beobachtet Robins Mutter. „Diese Lehrer mögen Kinder." Folge: Aus Robins Angstfach Mathe wurde sein Lieblingsfach. Schon am dritten Tag fand Robin seine Mitschüler „witzig". Den besten Beweis, dass die Entscheidung für diese Schule richtig war, liefert er seiner Mutter seitdem auch ohne Worte: „Er kommt jeden Tag gut gelaunt aus der Schule."

Ingrid Eißele

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Am Anfang ist das Wort. Nur will es erstmal nicht heraus. Dennis schielt den Bleistift vor sich an, schnippt einen Krümel vom Tisch. Eigentlich soll die Tischgruppe hinten links, sollen die vier Schüler hier im Klassenraum der 7b, argumentieren üben. Doch das Thema „Ist Lesen nicht mehr trendy?" trifft wohl nicht Dennis’ Nerv. Lustlos wippt er auf seinem Stuhl. Da horcht er auf. „Ist doch viel zu anstrengend, ein Buch aufzuschlagen", grinst ihn Maik an. „Im Internet gibt es Filme über alles." Dennis gibt sich einen Ruck. „Ach", sagt er gedehnt und beugt sich vor, „zum Anklicken solcher Filme musst du also nicht lesen können?"

So also läuft der Deutschunterricht an der gebundenen Ganztagsschule Johannes Gutenberg in Wolmirstedt. In festen Tischgruppen lernen die Schüler, nach dem Prinzip der Leistungsheterogenität zusammengesetzt. Und heute ist es der lernschwache Maik, der Klassenprimus Dennis aus seiner Lethargie reißt. Im Stakkato schreiben beide nun gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen Petra und Nicole Argumente auf. Den Pausenruf überhören sie nahezu. Rektor Helmut Thiel lächelt. „Schule heißt für uns, dass wir uns alle gemeinsam weiterbilden – Schüler und Lehrer, als würden wir in einem Feuer die Flammen hochpusten". In der Gutenbergschule in Wolmirstedt, 15 Kilometer nördlich von Magdeburg, lodert es gewaltig.

Eine beeindruckende Entwicklung hat die ehemalige Polytechnische Oberschule „Wladimir Iljitsch Lenin" hingelegt. 1981 wurde sie erbaut, seit 1985 stand Thiel ihr vor. Dem Mauerfall folgte eine „tolle Zeit", erinnert sich Thiel, als er den in hellen Pastellfarben getauchten Schulflur entlangschreitet. „Bis 1991 besuchten wir zig Schulen, suchten kreative Ideen." Den sich aufdrängenden Problemen – Rückgang der Schülerzahlen, Erschütterung der Sozialstrukturen – begegnete die Schule mit dem Versuch, stetig ihre Qualität zu verbessern. Thiel sagt es etwas trocken: „Wir analysieren halt und suchen dann nach Lösungen." Die Gutenberger machten sich auf einen Weg, dessen Ende auch heute nicht absehbar ist. Sie stellten sich im Laufe der Jahre externen Überprüfungen, luden Experten ein, setzten Anregungen um. Mit Erfolg: Längst nicht alle gemeldeten Kinder kann sie aufnehmen. Über 90 Prozent der Schüler erreichen einen Realschulabschluss. Zwanzig Prozent der Abgänger wechseln aufs Gymnasium, nur zwei Schüler haben seit 1996 dort keinen Abschluss geschafft. Und die PISA Lernergebnisse zeigen die Schule im Trend der Landesgymnasien. Einen Grund für die guten Schülerleistungen sieht Thiel in einer Neuerung seit 2006: dem Selbstorganisierten Lernen (SOL).

Am lautesten an diesem SOL ist die Stille. Wie vertieft die Schüler an ihren Aufgaben sitzen, wie bei einer Klausur – nur viel entspannter. Sarah, 12, zieht einen Knopfhörer aus dem rechten Ohr. „Ich konnte die Klasse überzeugen, dass ich bei Musik besser lerne", sagt sie, geht an die Tafel. „Weiß jemand, was 'my hobby by heart' heißt?", schreibt sie mit Kreide. Nach einer halben Minute setzt ihr Mitschüler Sascha die Antwort darunter. SOL findet statt zur Primetime, jeden Tag in der dritten und vierten Stunde, ein Filetstück im Stundenplan bei allgemein höchster kognitiver Leistungsfähigkeit. „Wir merken, wie die Lernleistung insgesamt durch das SOL gestiegen ist", flüstert Thiel. In den 90 Minuten setzen sich die Schüler an Pflichtaufgaben aus allen Fächern. Zusätzlichen Wahlaufgaben stellen sie sich selbst und wählen dabei den Schwierigkeitsgrad. In einem Lernplaner, einem grünen Büchlein, dokumentiert jeder seinen Lernfortschritt.

Draußen auf dem Flur geht das selbstorganisierte Lernen weiter. Tische stehen neben Gummibäumen und Yuccapalmen, an ihnen emsiges Lernen. Auch in der „Futterluke", der Mensa, sitzen Schüler hinter Büchern. „Darf ich mal euren Ausweis sehen", sagt Thiel und setzt ein strenges Gesicht auf. Nils und Kevin zücken eine grüne Lichtbildkarte. Wer sich „verantwortlich" verhält, darf während der SOL-Einheiten in der Mensa arbeiten, noch beliebter seien nur die Lerninseln auf dem Hof, sagt Kevin und zuckt mit den Schultern: Regenschauer peitschen ans Fenster. Die Holzpavillons draußen mit den Tischbänken trotzen verwaist einem strengen Westwind. Nils zieht sich die Schirmmütze nach hinten. „Dass wir in der Futterluke lernen können, haben wir gegen die Lehrer durchgesetzt." Thiel räuspert sich. Nun ja, man habe im Kollegium halt Bedenken gehabt, sagt er, wegen der Aufsicht und den Getränkeautomaten. Nils grinst. „Die Lehrer haben dann Zeit erhalten, mal nachzudenken."

So läuft das in Wolmirstedt. Die Schulkonferenz, bestehend zu je einem Drittel aus Schülern, Eltern und Lehrern, setzte sich über die Bedenken der Pädagogen hinweg. Eine doppelte Stimme hat Thiel nicht. Und ist darüber froh. „Die Mensa hat sich als ein ausgezeichneter Lernort erwiesen", sagt er. „Man lernt ja nie aus." Jede Neuerung im Unterricht geht diesen Weg. Eine Klasse prüft eine Anregung im Pilotprogramm, dann entscheidet die Konferenz für die ganze Schule – alle Gruppen sind beteiligt.

Die SOL-Einheit der Schüler nutzen die Lehrer der Klasse 9a zu einer „Kommunikationsstunde". Sie beraten, wer welche Stunden für die Lernwerkstatt „Leonardo da Vinci" verwendet. „In Hauswirtschaftslehre könnten wir Rezepte aus der Renaissance nachkochen", schlägt Iris Nickel vor. „Allerdings kenne ich nicht die alten Maße, wäre das etwas für den Matheunterricht?" Birgit Schellhase nickt. Quer durch alle Fächer sprechen sich die Pädagogen über ihren Zugang zum Phänomen da Vinci ab. Die Kommunikationsstunde ist fester Bestandteil des in Viertelstunden getakteten Stundenplans. Er erlaubt mehr Flexibilität als die klassische Dreiviertelstunde. Auch „Sorgenfälle" kann das Lehrerteam schnell erörtern. Seit zehn Jahren gibt es keinen Abbrecher und keine erzwungene Wiederholung mehr. Vorausschauend organisieren die Lehrer für versetzungsgefährdete Schüler drei Ferienakademien im Jahr.

Mindestens zwei Wochen im Jahr bringt jeder Lehrer in die Akademien ein, für den Einzelunterricht. „Das ist einfach Solidarität", sagt Thiel. Auch das ist Wolmirstedt: Wertvolle Elemente der Schulkultur aus der DDR-Zeit hat man sich hier bewahrt; Fürsorge für die Schüler, eine hohe Verbindlichkeit im Umgang mit gefassten Beschlüssen – und Solidarität.

Die Schüler zahlen sie zurück, auf ihre Weise. Draußen auf dem Hartgummiplatz kämpfen acht Jungs und ein Ball gegen Wind und Regen an. Im Kurs „Miteinander Leben" bolzen Gutenberger und Jungs aus der benachbarten Gerhard-Schöne-Schule für geistig Behinderte. Wer von welcher Schule kommt, erkennt man im Spiel nicht. „Der Kurs ist bedeutsam", sagt Lehrerin Manuela Nebelung, „die Bewertungen kommen in die Ausbildungsbewerbungen". Vor ihr dreschen die Jungs die Pille gegen eine Böe, der Ball kommt kaum voran. Mit einem Mal lässt der Wind nach. Im Doppelpass rennen zwei nach vorn, der Ball saust flach, da schüttelt ihn wieder der Wind – und schickt den Torwart in die falsche Ecke. Das Leder hüpft, wird langsamer und trudelt ins Netz.

Jan Rübel

Porträt

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Um zwölf Uhr halten alle den Atem an. Elmedin zückt sein Handy und filmt, wie Willy Düpjohann einen letzten Blick auf die Ventile des Motors wirft, einen Schraubenzieher als Hebel hineinschiebt und mit einem Ruck nach unten die Schwingscheibe auf Touren bringt. 60 PS röhren – „Stapellauf geglückt!“, jubelt Elmedin, 16, und greift nach der Hand von Willy Düpjohann, 80. Zwei Rentner schlendern vorbei. „Bei Willy hat der Motor keine andere Chance, als zu laufen“, schmunzelt einer von ihnen, hier, im Vorhof einer ausgedienten Gärtnerei im Ostmünsterland – der Außenwerkstatt der August-Claas-Schule in Harsewinkel bei Gütersloh.

In den vergangenen Wochen hatte Elmedin aus den Teilen zweier Mähdreschermotoren einen neuen Motor zusammengesetzt, bald soll dieser in einen Traktor eingebaut werden – alles in der Unterrichtszeit. Denn die August-Claas-Schule setzt auf fundierte Berufsvorbereitung: Zehn Rentner, alle ehrenamtlich tätig, geben ihre Berufserfahrung an 20 Schüler weiter. Zuerst waren es die Mitglieder des Seniorentreffs des Landmaschinenherstellers Claas gewesen, die auf Ansprache der Schule reagiert hatten. Mittlerweile hat sich der gute Ruf der Werkstatt in der 24 000-Einwohner-Stadt herumgesprochen; immer wieder melden sich Pensionäre bei der Schule, die mitmachen wollen.

Unter dem sonnendurchfluteten Kunststoffdach der ehemaligen Gärtnerei, in getrennten Arbeitsnischen für Elektro oder Holz, Kfz, Sanitär, Hoch-, Tief- oder Trockenbau vertiefen sich Junge und Alte in anspruchsvolle technische Aufgaben, entspannt und zugleich hochkonzentriert. „Hier weiß jeder, was er zu tun hat“, sagt Willy Düpjohann, und Elmedins dankbarer Blick verrät, dass der Teenager vom gelernten Kfz-Mechaniker, den alle nur „Halbgott Willy“ nennen, nicht nur das Motorenschrauben lernt. Sondern dass er in ihm auch ein Vorbild sieht.

Acht statt der üblichen drei Unterrichtsstunden in der Woche arbeiten die Schüler in der Außenwerkstatt. Dort können sie ihre Talente ausprobieren und Arbeitswirklichkeit erleben. Die Außenwerkstatt der Hauptschule finanziert sich durch den Verkauf ihrer Produkte und Dienstleistungen – und durch Spenden. Die städtische Ganztagsschule sieht sich mit Stolz nicht als Restschule, erhalten doch 60 Prozent ihrer Abgänger einen Ausbildungsvertrag und wechseln 40 Prozent auf weiterführende Schulen. Sitzenbleiber, Schulabbrecher? Fehlanzeige. Die beruflichen Perspektiven sind oft sogar besser als jene ihrer Mitschüler auf Realschule und Gymnasium: Denn der Hauptschüler bleibt nach der Ausbildung dem Betrieb erhalten und erscheint dadurch attraktiver.

Dieser Erfolg liegt auch an Christiane Michael. Die 48-jährige Trainerin sitzt im Erdgeschoss des Hauptgebäudes Ronan gegenüber. „Hast du gestern die Lokalzeitung gelesen? Da sucht eine Firma Mechatronik-Lehrlinge“, sagt sie und reicht ihm die Zeitungsseite. „Klingt gut“, sagt der 16-Jährige. „Fotos habe ich noch. Haben Sie morgen Zeit für das Bewerbungsschreiben?“ Christiane Michael sitzt im vielleicht kleinsten Raum dieser 5 000 Quadratmeter großen Schule mit ihren 125 Räumen für 470 Schüler. Aber an ihr geht kaum jemand vorbei – die städtische Angestellte ist „Übergangscoach“ und begleitet die Schüler beim Einstieg in den Beruf. „Fast alle Schüler kommen zu mir in die freiwillige Beratung“, sagt sie. Christiane Michael hält engen Kontakt zu vielen Arbeitgebern der Region. „Schon in der 9. Klasse sondiere ich die Berufswünsche und beginne mit der Suche.“ Sie betreut die Schulabgänger sogar noch zu Beginn der Lehre.

Als Schulform gilt die August-Claas-Schule als Auslaufmodell. Im nächsten Schuljahr wird sie mit einer Realschule zur Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe zusammenwachsen. Doch mit ihrer Praxisnähe und Konzentration auf die berufliche Zukunft hat die „Restschule“ eine Erfolgsgeschichte geschrieben, die für viele Schulen in vielen Regionen beispielhaft sein könnte.

Das eigenverantwortliche Arbeiten in der Außenwerkstatt setzt sich auch im Unterricht fort. Die Bandklasse 7a/8b übt gerade das Stück „Mercy“ ein. „I don’t know what this is, but you got me good“, singen vier 13-jährige Frontsängerinnen den Song des walisischen Soulstars Duffy. Dahinter rocken eine Bassgitarre, zwei E-Gitarren, Keyboards und ein Schlagzeug. Zwei Schüler mit Behinderung sollen hier in der Schülerband mitspielen. Wer das ist, erkennt man nicht. „Der Song steht“, bilanziert ein Schüler und reckt die Drum-Sticks nach oben. Der 13-Jährige blickt in die Runde. „Jetzt können wir vier Lieder für das Schulfest in zwei Monaten. Was noch?“ Wie aus einem Mund rufen die vier Frontsängerinnen: „‘Back to Black‘ von Amy Winehouse.“ In der August-Claas-Schule lernt jeder Schüler ein Musikinstrument. So wie in der Außenwerkstatt Jung und Alt voneinander lernen, lernen hier Leistungsstarke und Leistungsschwache gemeinsam. Das hilft allen.

In der Schule herrscht nicht nur eitel Sonnenschein, davon zeugt der „Raum für eigenverantwortliches Denken“ (RVD) im ersten Stock. Dorthin kommt, wer den Unterricht stört. Mehmet* sitzt vor einem Blatt Papier und schreibt. „Mein Plan“, steht da doppelt unterstrichen. Mehmet hat seinen Schulranzen vergessen, nicht zum ersten Mal. Er hatte mit der Lehrerin einen heftigen „Dialog“, wie der 14-Jährige sagt. Deshalb musste er in den RVD. „Das ist kein Knast“, sagt Mehmet. „Aber man weiß: Da darf man nicht rein, das ist schlecht für das Ansehen. Vollkommen uncool.“

Die Lehrer der August-Claas-Schule haben untereinander einen Deal geschlossen: Jeder von ihnen schiebt freiwillig Aufsichtsdienst im RVD. Für diese Überstunden erhalten sie Entlastung im Unterricht. Und die Schüler die Chance zur Besinnung. Im RVD schreibt Mehmet zunächst zusammen mit Lehrerin Ulrike Schulze-Vejnovic seine Sicht der Dinge auf, dann schaut er in den Schulregeln nach – seine Schimpftirade findet er als Verstoß und schreibt nun, was er in Zukunft besser machen will: „Respekt zeigen, nicht ausrasten“, fasst Mehmet knapp zusammen. Rektor Hermann Hecker schaut zur Tür herein. „Das stärkt das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft“, sagt er mit Blick auf den RVD.

Dieses Verantwortungsgefühl ist allerorten spürbar. Die Mensa zum Beispiel ist fest in der Hand von „Buddys“. Ein Drittel aller Schüler beteiligt sich am bundesweiten Buddy-Programm „Aufeinander achten – füreinander da sein“. Schüler sollen durch freiwilliges Engagement ihre soziale Kompetenz stärken. In der Mensa säubern vier Buddys die Tische von den Resten des Mittagessens, an einer Säule zum Eingang lehnen zwei Sanitäter- Buddys in orange-weiß gestreiften Westen, die Arme verschränkt: Als einzige Schüler dürfen sie heute mit Handy unterwegs sein; ein Diensthandy, das sie im Notfall benutzen würden. Für kleinere Unfälle haben die beiden Neuntklässler einen Beutel mit Verbandszeug und Pflaster dabei. Und schauen wichtig drein.

Es ist später Nachmittag. Langsam leeren sich die Räume und Flure. An einer Wand nahe dem Haupteingang hängt eine mannsgroße Platte aus Edelstahl. Das Konterfei des Namensgebers August Claas, Mitbegründer des Landmaschinenkonzerns Claas. Schüler haben es im Projektunterricht in den Stahl gelasert und daneben den ehrfürchtigen Satz geschrieben: „Er war Optimist, Pionier, Gründer, Entdecker und Tüftler“. Kann es ein besseres Motto geben für seine Schüler?

* Namen geändert