Porträt
Um zwölf Uhr halten alle den Atem an. Elmedin zückt sein Handy und filmt, wie Willy Düpjohann einen letzten Blick auf die Ventile des Motors wirft, einen Schraubenzieher als Hebel hineinschiebt und mit einem Ruck nach unten die Schwingscheibe auf Touren bringt. 60 PS röhren – „Stapellauf geglückt!“, jubelt Elmedin, 16, und greift nach der Hand von Willy Düpjohann, 80. Zwei Rentner schlendern vorbei. „Bei Willy hat der Motor keine andere Chance, als zu laufen“, schmunzelt einer von ihnen, hier, im Vorhof einer ausgedienten Gärtnerei im Ostmünsterland – der Außenwerkstatt der August-Claas-Schule in Harsewinkel bei Gütersloh.
In den vergangenen Wochen hatte Elmedin aus den Teilen zweier Mähdreschermotoren einen neuen Motor zusammengesetzt, bald soll dieser in einen Traktor eingebaut werden – alles in der Unterrichtszeit. Denn die August-Claas-Schule setzt auf fundierte Berufsvorbereitung: Zehn Rentner, alle ehrenamtlich tätig, geben ihre Berufserfahrung an 20 Schüler weiter. Zuerst waren es die Mitglieder des Seniorentreffs des Landmaschinenherstellers Claas gewesen, die auf Ansprache der Schule reagiert hatten. Mittlerweile hat sich der gute Ruf der Werkstatt in der 24 000-Einwohner-Stadt herumgesprochen; immer wieder melden sich Pensionäre bei der Schule, die mitmachen wollen.
Unter dem sonnendurchfluteten Kunststoffdach der ehemaligen Gärtnerei, in getrennten Arbeitsnischen für Elektro oder Holz, Kfz, Sanitär, Hoch-, Tief- oder Trockenbau vertiefen sich Junge und Alte in anspruchsvolle technische Aufgaben, entspannt und zugleich hochkonzentriert. „Hier weiß jeder, was er zu tun hat“, sagt Willy Düpjohann, und Elmedins dankbarer Blick verrät, dass der Teenager vom gelernten Kfz-Mechaniker, den alle nur „Halbgott Willy“ nennen, nicht nur das Motorenschrauben lernt. Sondern dass er in ihm auch ein Vorbild sieht.
Acht statt der üblichen drei Unterrichtsstunden in der Woche arbeiten die Schüler in der Außenwerkstatt. Dort können sie ihre Talente ausprobieren und Arbeitswirklichkeit erleben. Die Außenwerkstatt der Hauptschule finanziert sich durch den Verkauf ihrer Produkte und Dienstleistungen – und durch Spenden. Die städtische Ganztagsschule sieht sich mit Stolz nicht als Restschule, erhalten doch 60 Prozent ihrer Abgänger einen Ausbildungsvertrag und wechseln 40 Prozent auf weiterführende Schulen. Sitzenbleiber, Schulabbrecher? Fehlanzeige. Die beruflichen Perspektiven sind oft sogar besser als jene ihrer Mitschüler auf Realschule und Gymnasium: Denn der Hauptschüler bleibt nach der Ausbildung dem Betrieb erhalten und erscheint dadurch attraktiver.
Dieser Erfolg liegt auch an Christiane Michael. Die 48-jährige Trainerin sitzt im Erdgeschoss des Hauptgebäudes Ronan gegenüber. „Hast du gestern die Lokalzeitung gelesen? Da sucht eine Firma Mechatronik-Lehrlinge“, sagt sie und reicht ihm die Zeitungsseite. „Klingt gut“, sagt der 16-Jährige. „Fotos habe ich noch. Haben Sie morgen Zeit für das Bewerbungsschreiben?“ Christiane Michael sitzt im vielleicht kleinsten Raum dieser 5 000 Quadratmeter großen Schule mit ihren 125 Räumen für 470 Schüler. Aber an ihr geht kaum jemand vorbei – die städtische Angestellte ist „Übergangscoach“ und begleitet die Schüler beim Einstieg in den Beruf. „Fast alle Schüler kommen zu mir in die freiwillige Beratung“, sagt sie. Christiane Michael hält engen Kontakt zu vielen Arbeitgebern der Region. „Schon in der 9. Klasse sondiere ich die Berufswünsche und beginne mit der Suche.“ Sie betreut die Schulabgänger sogar noch zu Beginn der Lehre.
Als Schulform gilt die August-Claas-Schule als Auslaufmodell. Im nächsten Schuljahr wird sie mit einer Realschule zur Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe zusammenwachsen. Doch mit ihrer Praxisnähe und Konzentration auf die berufliche Zukunft hat die „Restschule“ eine Erfolgsgeschichte geschrieben, die für viele Schulen in vielen Regionen beispielhaft sein könnte.
Das eigenverantwortliche Arbeiten in der Außenwerkstatt setzt sich auch im Unterricht fort. Die Bandklasse 7a/8b übt gerade das Stück „Mercy“ ein. „I don’t know what this is, but you got me good“, singen vier 13-jährige Frontsängerinnen den Song des walisischen Soulstars Duffy. Dahinter rocken eine Bassgitarre, zwei E-Gitarren, Keyboards und ein Schlagzeug. Zwei Schüler mit Behinderung sollen hier in der Schülerband mitspielen. Wer das ist, erkennt man nicht. „Der Song steht“, bilanziert ein Schüler und reckt die Drum-Sticks nach oben. Der 13-Jährige blickt in die Runde. „Jetzt können wir vier Lieder für das Schulfest in zwei Monaten. Was noch?“ Wie aus einem Mund rufen die vier Frontsängerinnen: „‘Back to Black‘ von Amy Winehouse.“ In der August-Claas-Schule lernt jeder Schüler ein Musikinstrument. So wie in der Außenwerkstatt Jung und Alt voneinander lernen, lernen hier Leistungsstarke und Leistungsschwache gemeinsam. Das hilft allen.
In der Schule herrscht nicht nur eitel Sonnenschein, davon zeugt der „Raum für eigenverantwortliches Denken“ (RVD) im ersten Stock. Dorthin kommt, wer den Unterricht stört. Mehmet* sitzt vor einem Blatt Papier und schreibt. „Mein Plan“, steht da doppelt unterstrichen. Mehmet hat seinen Schulranzen vergessen, nicht zum ersten Mal. Er hatte mit der Lehrerin einen heftigen „Dialog“, wie der 14-Jährige sagt. Deshalb musste er in den RVD. „Das ist kein Knast“, sagt Mehmet. „Aber man weiß: Da darf man nicht rein, das ist schlecht für das Ansehen. Vollkommen uncool.“
Die Lehrer der August-Claas-Schule haben untereinander einen Deal geschlossen: Jeder von ihnen schiebt freiwillig Aufsichtsdienst im RVD. Für diese Überstunden erhalten sie Entlastung im Unterricht. Und die Schüler die Chance zur Besinnung. Im RVD schreibt Mehmet zunächst zusammen mit Lehrerin Ulrike Schulze-Vejnovic seine Sicht der Dinge auf, dann schaut er in den Schulregeln nach – seine Schimpftirade findet er als Verstoß und schreibt nun, was er in Zukunft besser machen will: „Respekt zeigen, nicht ausrasten“, fasst Mehmet knapp zusammen. Rektor Hermann Hecker schaut zur Tür herein. „Das stärkt das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft“, sagt er mit Blick auf den RVD.
Dieses Verantwortungsgefühl ist allerorten spürbar. Die Mensa zum Beispiel ist fest in der Hand von „Buddys“. Ein Drittel aller Schüler beteiligt sich am bundesweiten Buddy-Programm „Aufeinander achten – füreinander da sein“. Schüler sollen durch freiwilliges Engagement ihre soziale Kompetenz stärken. In der Mensa säubern vier Buddys die Tische von den Resten des Mittagessens, an einer Säule zum Eingang lehnen zwei Sanitäter- Buddys in orange-weiß gestreiften Westen, die Arme verschränkt: Als einzige Schüler dürfen sie heute mit Handy unterwegs sein; ein Diensthandy, das sie im Notfall benutzen würden. Für kleinere Unfälle haben die beiden Neuntklässler einen Beutel mit Verbandszeug und Pflaster dabei. Und schauen wichtig drein.
Es ist später Nachmittag. Langsam leeren sich die Räume und Flure. An einer Wand nahe dem Haupteingang hängt eine mannsgroße Platte aus Edelstahl. Das Konterfei des Namensgebers August Claas, Mitbegründer des Landmaschinenkonzerns Claas. Schüler haben es im Projektunterricht in den Stahl gelasert und daneben den ehrfürchtigen Satz geschrieben: „Er war Optimist, Pionier, Gründer, Entdecker und Tüftler“. Kann es ein besseres Motto geben für seine Schüler?
* Namen geändert