Porträt

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Die Türen des Humboldt-Gymnasiums in Potsdam erinnern an die Zaubererschule des Harry Potter. Wie in den Romanen von Joanne K. Rowling lauern dahinter Geheimnisse und Überraschungen. Da ist die Eingangstür zum alten Zentralbau, majestätisch von Klinkerornamenten gerahmt, aber zugemauert - Stufen davor fehlen, deshalb liegt die Schwelle unerreichbar in 1,60 Meter Höhe. Rechts davon eine metallene Tür mit der Aufschrift "Bitte nicht betreten"; dahinter weht eine Plastikplane. Wenigstens in der Baracke, einen Steinwurf entfernt, öffnet sich eine klapprige Holztür zum "Sockenraum" mit einem dicken Teppich. "Scena incipit, die Szene beginnt", ruft Lehrerin Anett Kettner und schwingt die Hand, als halte sie einen Zauberstab. Drei Schüler, in römische Togen gehüllt, inszenieren ein Theaterstück auf Latein. "Hic, Lydia", rufen sie, und: "Salve!"

Die Schule ist eine Baustelle. Seit Jahren. Und hat inmitten von wachsenden Neubauten und Betonmischern ein Leben entwickelt - eine leistungsfördernde Atmosphäre, bei der Lernen allgegenwärtig ist. "Leistung und Zufriedenheit sind siamesische Zwillinge", sagt Schulleiterin Carola Gnadt. Ihr Büro hat sie in der Baracke bezogen, die dünnen Wände erinnern an Container. "Daher haben wir im Lauf der Jahre am Schulklima gearbeitet, die offenen Ganztagsangebote erweitert." Und an der Qualität des Lernens gefeilt, besonders Begabte gezielt gefördert. "Den Schlüssel zum Erfolg", sagt Gnadt, "haben wir in der Gemeinsamkeit gefunden."

Im "Sockenraum" gleich gegenüber beispielsweise besprechen Jungs und Mädchen der 8 l die Spielszene ihrer Mitschüler. "Ihr habt den Text schön und sicher vorgetragen", findet Uwe*, 13. "Ein bisschen mehr Requisite hätte gut getan", schlägt Lea, 12, vor. Draußen lärmt ein Bagger. Leistung nicht für die Lehrerin oder den Lehrer bringen, sondern für sich selbst und mit den anderen Schulkindern - dieses Lernprinzip zieht sich durch den Schulalltag. Ob eigenständig, in Kleingruppen oder als Klassengemeinschaft: Jedem Schritt folgt ein Feedback.

Seit Jahren ist das Humboldt-Gymnasium eine begehrte Adresse, nicht nur beim Bildungsbürgertum. Ein Drittel der 710 Schulkinder kommt aus Arbeiterfamilien. Die Attraktivität gründet auf dem Erfolg der Schule: Bei Vergleichsarbeiten der Jahrgangsstufe 8, bei Abschlussprüfungen am Ende der Jahrgangsstufe 10 und in den Abitursnoten liegen die Humboldt-Schülerinnen und -Schüler über dem Landesschnitt. Als die Schule Leistungs- und Begabungsklassen ab dem fünften Jahrgang einrichtete, wurde es eng in den Räumen. Einen ersten Anbau gab es 1996, einen weiteren zum September 2015, und Ende dieses Jahres soll auch der alte Zentralbau, derzeit gesperrte Baustelle, in neuem Glanz dastehen.

Lernen braucht Abwechslung. Daher schließen sich an die 90 Minuten langen Unterrichtsblöcke immer wieder andere Lernsituationen an, wie Arbeitsgemeinschaften, "Aktivteams" oder individuelle Treffen, heute beispielsweise zwischen den Schülern Henok aus der 10 b und Achtklässler Peer im ersten Stock des Neubaus namens "Wilhelm". "Waren die Aufgaben in der letzten Mathearbeit ein Schock?", fragt Henok. "Neenee, hab sogar eine Drei plus geschafft", antwortet Peer.

Das Humboldt-Gymnasium versteht sich als ein Ort, der "Stärken stärkt und Schwächen schwächt", so Schulleiterin Carola Gnadt. Im "Huckepack"-Projekt helfen leistungsstarke Schülerinnen und Schüler den schwächeren. Die freiwillige Nachhilfe soll eigentlich mit fünf Euro pro Stunde vergolten werden, Henok will aber kein Geld nehmen, "nur helfen. In Mathe geht es ums Verständnis. Wenn das fehlt, hilft auch Pauken nicht", sagt er. Und Peer ergänzt: "Mit Henok verstehe ich mehr, bei ihm geht’s ruhiger, leiser und komprimierter zu." Und wendet sich einer Schnittpunktberechnung zu, die ihm der zwei Jahre ältere Henok aufgegeben hat.

Manche Schülerinnen und Schüler stimmen sich mit den Lehrkräften über individuelle Förderpläne ab. Im Beratungsraum nebenan treffen sich Bea, Nadine und Helene von der 9 l mit Englischlehrerin Beate Czech. "Wir würden gern ›Will Grayson, Will Grayson‹ lesen", sagt Nadine. "Dazu könnt ihr auch Essays schreiben, etwa zu Stereotypen über schwule Teenager", schlägt die Lehrerin vor. Die drei zeigen seit Jahren sehr gute Leistungen in Englisch. Nun schließen sie mit Czech einen Vertrag über "besonders anspruchsvolle Lernleistungen"; im Gegenzug sind die Schülerinnen vom Unterricht befreit. "Aber wir schauen ab und zu rein", sagt Bea. "Sonst verpassen wir zu viel."

Unterricht - der soll konzentriert und entspannt zugleich funktionieren. Im Physikraum sitzen die Schülerinnen und Schüler der 9 a in Kleingruppen zusammen und brüten über verschiedenen Aufgaben. Aus einem Ghettoblaster dringt "Dancing Queen" von ABBA. Georg und Raik haben sich Wilhelm Busch vorgenommen: die drei Hennen und den Hahn aus "Max und Moritz", die miteinander verknotet in verschiedene Richtungen eilen. Mit der Software "Geogebra" errechnen beide die Kräfteverhältnisse. "Also, wenn Henne 3 fehlt", murmelt Raik, "dann ändert sich für die anderen Viecher nichts." Und experimentiert eifrig mit anderen Hennen, die er am Bildschirm losrennen lässt.

Ambitioniert zeigen sich die Arbeitsgemeinschaften der Schule: Da reiht sich "Offene Physik" an die "Chemie-Akademie", "Chinesisch" an "Altgriechisch" und "Kräuter" an "Anti-Rassismus". Zwischen Mittagspause und dem nächsten Unterrichtsblock um 12:30 Uhr treffen sich ein paar "Aktivteams" - es gibt einiges zu bereden.

Im Erdgeschoss des "Wilhelm"-Trakts eilen Schülerinnen und Schüler in einen leeren Klassenraum. "Wir müssen jetzt mit den Vorbereitungen beginnen, sonst läuft uns die Zeit davon", sagt Anja, 15. Aktivteams sind eine Mischung aus AGs und projektförmigen Vorhaben - hier im Raum W0.14 besetzen 20 Teammitglieder drei Tische, jeder an einer Seite mit Rollen an den Tischbeinen versehen, stellen sie schnell zu einem Dreieck zusammen und scharen sich um Anja; es tagt das Aktivteam "Flüchtlinge". Vor kurzem hat sich eine Erstaufnahmestelle neben der Schule angesiedelt: Anja stellt einen Stadtplan auf Arabisch vor, den das Team entworfen hat. "Das Sponsoring für den Druck steht", sagt sie. "Haben wir dann noch Geld für ein Sommerfest mit den Flüchtlingen?" Kassenwart Meik, 17, nickt. "Aber nur, wenn wir improvisieren. Also viele kostengünstige Sportspiele und so."

Nebenan beim Aktivteam "Politik" geht es weniger hektisch zu. Man plant ein Forum, auf dem Schülerinnen und Schüler kontroverse Themen diskutieren können, "für den schnellen Gedankenaustausch", sagt Eva, 16. "Auf jeden Fall brauchen wir eine Art Chatroom, verlinkt mit der Schul-Website." Henri, 13, wirft ein: "Warum nicht einfach eine Pinnwand in der Aula? Da ist Platz." Die Aula leert sich, man eilt zum Unterricht. Vom Kiosk am Ende weht Zimtduft frisch gebackener Franzbrötchen herüber. Plötzlich ist es ruhig. Nur von fern ein Presslufthämmern. Bald, gegen Ende des Jahres, soll jeder Baulärm enden. Schon jetzt wirkt der Krach gedämpft. Als könnte nichts dieses gute Schulklima erschüttern.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert.

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Es ist so ruhig in dieser Schule. Kein Stimmengewirr auf den Fluren, kein Getrappel, kein Geschrei. Die Grundschule St. Nicolai in Westerland, direkt neben dem Bahnhof gelegen, hat einen besonderen Grundton. Wer durch die Flure geht, muss schon die Ohren spitzen, um etwas zu hören, obwohl alle Türen zu den Klassenzimmern weit offen stehen. Drinnen wird geschäftig und konzentriert gearbeitet. Kein Kind lässt sich stören. Auch Janna nicht, die gerade Lesestunde in der Montessori-Klasse hat. Mit dem Rücken zur übrigen Klasse sitzt die Erstklässlerin in einer Ecke des Raumes vor dem PC, die blonden, leicht zerzausten Zöpfchen umwickelt mit Haarband, rot und pink, vor sich ein Buch: "Das verwunschene Einhorn". Janna reagiert nicht, als ihr der Schulleiter über die Schulter hinweg eine Frage stellt, sie überhört auch das Kichern und Tuscheln von Maciej und seinen Kumpels, die es sich unter den Tischen gemütlich machen, in der Lesestunde ist das erlaubt.

Janna ist ein "plietsches" Kind, wie man an der Küste sagt, sie ist besonders aufgeweckt, braucht viel "Futter". Ähnlich wie ihr Mitschüler Felix, der schon Aufgaben für Zweitklässler löst und demnächst eine Klasse überspringen wird.

Die kleine Schule St. Nicolai - 180 Kinder, 22 Lehrerinnen und Lehrer - schafft, was vielen Schulen kaum lösbar erscheint: komplett unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Zur Inklusion behinderter Schüler kommt nun die mindestens ebenso anspruchsvolle Integration von Flüchtlingskindern - und als wäre das nicht genug, fördert die Schule auch noch Begabte wie Janna und Felix. Jannas Mutter hatte anfangs Zweifel, ob dieser Dreiklang funktionieren kann. Als sie ihre älteste Tochter Nommi, inzwischen in der Vierten, einschulte, "war ich noch eine Gegnerin der Inklusion", bekennt Susanne Rohde, auch aus persönlicher Erfahrung. Sie hat einen behinderten Bruder. Susanne Rohde sorgte sich, dass bei diesem Modell alle zu kurz kommen, behinderte und nicht behinderte Kinder. Nach Nommis erstem Jahr in der Schule St. Nicolai sagt sie: "Diese Sorge ist weg."

Jannas Förderung begann schon, als sie noch den Kindergarten besuchte. Weil sie im letzten Jahr dort unterfordert war - Gleichaltrige, mit denen sie Schach spielte, fehlten -, durfte sie einmal pro Woche in die Grundschule. Die Fünfeinhalbjährige blühte auf, lernte fast nebenbei lesen.

Inzwischen besucht Janna die Montessori- Klasse. Die besteht aus vier Klassenstufen mit Kindern zwischen sechs und zehn Jahren. Erstklässlerin Janna bekommt von ihrer Lehrerin eine andere Aufgabe als ihr Tischnachbar Maciej, dessen Familie aus Polen stammt, oder Zweitklässler Ole, der schon Matheaufgaben der dritten Klasse erledigt und nebenbei noch ganz locker einen Witz zum Besten gibt. Klassenlehrerin Maren Kusber-Albertsen leitet ihre Klasse wie ein Dirigent sein Orchester. Über weite Strecken wissen die Kinder, was zu tun ist, nur hier und dort brauchen sie einen Einsatz.

"Einmaleins-Kinder arbeiten im Arbeitsheft Flex und Flo, Seite 30", sagt sie. "Wer fertig ist, holt sich den Arbeitsplan. Ole und Malte machen ihren Arbeitsplan weiter. Klasse eins guckt zu mir." An der Tafel klebt ein Schild: "Ich arbeite zielstrebig." Hausaufgaben gibt es in mindestens acht Variationen. Einmal die Woche darf Janna ins "Geistreich", eine Kammer unterm Dach mit Blick auf die benachbarte Kirche St. Nicolai. Den Namen haben Kinder erfunden, weil bei geöffnetem Fenster der Wind so schön geisterhaft durch den Raum weht. Dort probiert Janna neue Spiele aus. Britta Frank, eine von vier Lehrerinnen mit einer Zusatzausbildung als Begabungsberaterin, gibt Tipps. Janna bekomme genügend Anregung, sagt ihre Mutter, "sonst würde sie anfangen zu quatschen." Und sie lerne an dieser Schule noch etwas: "Rücksichtnahme und Miteinander." Schließlich sitzen hinter den offenen Türen der Klassen dunkel- und hellhäutige Kinder, Kinder mit Kopftuch, Kinder im Rollstuhl, Kinder mit Down-Syndrom, Kinder, die gerade in Afghanistan ihren Vater verloren haben. Kinder mit vielen Talenten. Die Unterschiede beeindruckten auch die Jury des Deutschen Schulpreises: Heterogenität werde hier "bewusst aufgenommen, nicht bekämpft".

Auf der Insel mit ihren teils exorbitanten Grundstückspreisen leben immer weniger Familien mit Schulkindern. Drei Grundschulen existieren noch, in Kampen schlossen sie sogar den Kindergarten. Doch inzwischen gibt es neben alteingesessenen Familien eine wachsende Zahl von Migranten, die sich um die Häuser der Reichen kümmert, in Hotels und Gastronomie arbeitet und in Sozialwohnungen wohnt. Und seit kurzem auch Flüchtlingskinder.

Noch vor wenigen Jahren hatte die Grundschule St. Nicolai einen schlechten Ruf, sie galt "als Problemschule für die unteren sozialen Schichten". Im Jahr 2011 übernahm Horst-Peter Feldt, der bis dahin Konrektor der benachbarten Förderschule war. Er sollte beide Schulen fusionieren.

Feldt ist Sonderpädagoge, aber er hat auch Schulmanagement und Qualitätsentwicklung studiert. Er habe sich und dem neuen Kollegium damals drei Fragen gestellt: Welche Stärken haben wir? Was wollen wir erreichen? Welche außerschulischen Partner haben wir? Andere Schulen auf Sylt lockten den Nachwuchs mit Arbeitsgemeinschaften für Reiten und Golfen. Die Schule St. Nicolai lockte mit Vielfalt. "Ich sagte mir, wir müssen offensiv damit umgehen, wen wir bei uns haben - Rothaarige, Schwarzhaarige und Blauhaarige", sagt er und lacht. "Und klarmachen: Das ist gut so."

In einem Raum am Ende des sonnengelb gestrichenen Flurs sitzen Asma mit buntem Kopftuch, Sara und Rayana auf dem Teppich, jede mit einer knallbunten Fliegenklatsche in der Hand. Ihre Lehrerin legt Spielkarten mit verschiedenen Motiven aus. Zirkus, Kühlschrank, Bügeleisen, Apfel, Kartoffel. "Klatsche hoch!", befiehlt Sara. Gleich wird Ricarda Thiesen den Begriff auf Deutsch nennen. Wer zuerst auf die Karte haut, bekommt sie. Die Mädchen, die erst seit wenigen Wochen in Deutschland sind, lieben das Spiel, auch die siebenjährige Rayana aus Russland, die bei jedem Wort entschlossen auf die Kartoffel haut - Asma und Sara sind einfach fixer. Bald wird Rayana die Wörter kennen. "Nach einem halben Jahr explodiert der Wortschatz", sagt die Lehrerin.

Das System "Kinder helfen Kindern" ist überall sichtbar. Und manchmal ist gar nicht erkennbar, wer wem mehr hilft. Beispielsweise in der dritten Klasse, die heute im Labor arbeitet. Dort setzt sich Nieke neben Louisa, die sehgestört, körperlich und geistig behindert ist und nur Laute von sich geben kann. Als Nieke versucht, eine Spielkarte unter einer Münze wegzuziehen, die dann ins Glas fällt, schaut Louisa neugierig zu. Manchmal hält Nieke einfach nur die Hand von Louisa. Nieke hilft Louisa, aber Louisa auch ein bisschen der schüchternen Nieke. "Es macht mir Spaß, mit Kindern zu arbeiten", sagt die Neunjährige mit ernsthaftem Blick. Das habe sie erst durch die Schule und durch Louisa entdeckt. Louisa hat eine Heilpädagogin zur Seite, die sich nicht nur um das behinderte Kind, sondern um die ganze Klasse kümmert. Zu den multiprofessionellen Teams der Schule gehören Lehrer, Erzieher, Betreuer, Begabtenlehrer und Sozialpädagogen. Inklusion heiße "vorbereitet sein", definiert der Schulleiter. Selbst auf den Fall, dass in der nächsten Stunde ein Dutzend Flüchtlingskinder vor ihm stünde. "Dann", sagt er, "machen wir eben eine neue Klasse auf."

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"Wach auf", ruft eine Kinderstimme, eine schrille Schulglocke läutet. "Hier ist euer Klimperkasten Süsteresch! Nun geht es los, jetzt knallt es durchs Mikro!" - "Celebrate good times, come on!", laut und fröhlich tönt der Titel der Band "Kool & the Gang" durch die Schule. Die Radio-AG der Grundschule auf dem Süsteresch in Schüttorf, im Westen Niedersachsens, nur wenige Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt, ist wieder auf Sendung. Eine gute Viertelstunde lang werden Witze erzählt, die Auswertung eines Quiz verlesen (Wann genau endet der Frühling?), aber auch über ernste Themen berichtet. Diesmal geht es um Demokratie. Marie, Kjell und Mattes haben Daniela de Ridder, die Bundestagsabgeordnete ihres Landkreises, getroffen und interviewt. Die jungen Moderatoren erklären ihren Mitschülerinnen und Mitschülern das Prinzip der Demokratie: "Wir handeln an unserer Schule demokratisch. Zum Beispiel mit unserem Radio-Briefkasten: Hier haben wir alle die Möglichkeit, unsere Stimmen für unser Lieblingslied auf einen Zettel zu schreiben und in einen Kasten zu schmeißen. Das Lied mit den meisten Stimmen wird dann in der nächsten Sendung abgespielt.

Auch bei der Klassensprecherwahl handeln wir demokratisch. Wir dürfen alle darüber abstimmen, wer unsere Klasse im Schülerrat vertritt. Beim Schülerrat stimmen dann alle Klassensprecher darüber ab, was wir für unsere Schule tun können und was wir verändern wollen. Unsere Schuldemokratie lässt uns alle mitbestimmen, und genau das finden wir prima! "Mitbestimmung leben die Kinder der Grundschule auf dem Süsteresch täglich. Auf unterschiedlichen Ebenen übernehmen sie Verantwortung für sich und andere: Das fängt bei den Klassendiensten an, geht über den Klassenrat, bei dem wöchentlich Probleme besprochen werden und der abwechselnd von einem Kind der Klasse geleitet wird, bis hin zur "Selbstlernzeit". Dabei entscheiden schon die Jüngsten täglich, mit wem sie arbeiten wollen, allein, mit einem Partner oder in der Gruppe, mit welchem Material und wo. Sie bewegen sich frei zwischen Klassenraum, Lernatelier, Bücherei und dem "Lichtblick", dem großen lichtdurchfluteten Atrium der Schule. Überall stehen Computer, die für die Kinder jederzeit und völlig selbstverständlich zugänglich sind.

Selbstlernzeit bei der "Affenbande", der Klasse 1a: Ryan, 6, schwarzes BVB-Shirt, und Jano, 7, rotes Bayern-Sweatshirt, sitzen sich gegenüber. Sie würfeln. Wer die höhere Zahl hat, greift sich ein paar bunte, gläserne Muggelsteine, zieht die Differenz ab und legt die abgezählten Glassteine vor sich hin, immer hübsch in Zehnerreihen. Elke Felix, die Klassenlehrerin, wirft kurz einen Blick auf die beiden ins Spiel vertieften Jungs. "Brauchst du noch die Fünfer-Päckchen, Ryan?", fragt sie. Der Junge schüttelt den Kopf. Er kann bereits in Zehnerschritten rechnen. An einem anderen Tisch sitzen vier Mädchen und machen "Elfchen" - Gedichte aus elf Wörtern, die sie aufwendig verzieren. Sönke schreibt in sein "Reisetagebuch": ein dickes DIN A4-Buch, in das die Kinder während ihrer Grundschulzeit Geschichten schreiben und Bilder malen und so festhalten, was sie bewegt; Emily arbeitet im Leseheft und Elke Felix setzt sich zu Hannes und bespricht mit ihm in Ruhe die Verbesserungen einer Schreibübung.

In der Grundschule auf dem Süsteresch lernen nicht alle zur selben Zeit das Gleiche, sondern jedes Kind nimmt sein Lernen selbst in die Hand. "Wir müssen uns auf die Kinder zubewegen, nicht umgekehrt", sagt Elke Felix. "Ein Kind konnte schon bei der Einschulung lesen, das muss ich doch nicht mit Silbenlesen langweilen; manche Klassenkameraden können noch nicht ihren Namen schreiben, und einer meiner Schüler hängt gerade durch, weil er eine schwierige Phase hat. Aber die geht vorüber. Da bin ich froh, wenn ich bei dem nicht den Stoff durchprügeln muss." Von den Lehrerinnen und Lehrern entwickelte Lernlandkarten visualisieren den Lernstand jedes Kindes in Mathe und Deutsch. Regelmäßig setzen sie sich mit den Kindern zusammen und beraten mit ihnen die nächsten Lernschritte. Besonders Begabte können selbständig eine Idee oder eine "Expertenarbeit" entwickeln und umsetzen. Die Ansprüche sind hoch: "Bei uns gilt die Regel: Wie beim Fußball geben wir hundert Prozent", sagt Schulleiter Heinrich Brinker. Mit Erfolg: Bei den VERA-Ergebnissen liegt die Grundschule in Deutsch weit über dem Durchschnitt.

Die "Affenbande" setzt sich auf Bänke und um die Tafel. Sie klatschen in einem einfachen, aber speziellen Rhythmus - dieses Klatschen wiederholt sich überall in der Schule im Laufe des Tages und dient dazu, sich zu konzentrieren und zu fokussieren. Der Präsentationskreis beginnt. Maxi sitzt auf dem Präsentierstuhl, stolz hält sie ihr Forscherheft, in dem sie ihre Überlegungen notiert, in der Hand. "Ich habe bis 100 gerechnet. " Applaus von den übrigen Kindern. Marie sagt: "Ich finde es gut, dass du das schon so gut kannst.

"Durch das regelmäßige Präsentieren erfahren die Kinder eine hohe Wertschätzung für ihre geleistete Arbeit. Sie lernen, mit Kritik umzugehen und konstruktiv Feedback zu geben - schließlich ist jeder mal in der Rolle, sich eine Rückmeldung von den Klassenkameraden einzuholen. Ergebnisse ihrer Forscheraufgaben präsentieren sie als Vortrag, mit Plakaten, Powerpoints und Ausstellungen. Solche Plakate hängen überall in der Schule. Ein Team hat es sogar bis zu "Jugend forscht" geschafft, als eines der jüngsten bei dem Wettbewerb bisher überhaupt. Ihr Plakat mit der genau dokumentierten Versuchsanordnung über Bakterien ("Weißt du eigentlich, wer sich am Süsteresch noch so tummelt?") ist nicht zu übersehen. In einer Ecke steht ein Tisch mit einem Glas mit Erde und einem Plakat, auf dem die Forscherfrage der Woche steht. Die "Drachen" aus der 2 a wollen wissen: Wie entsteht Regen? Antworten oder Tipps bitte in die Box einwerfen! "Hallo, Herr Brinker!" - ein Junge streckt dem Schulleiter die Hand zum High-Five entgegen, der schlägt im Vorbeigehen ein. Seine Tür und auch die zum Lehrerzimmer steht eigentlich immer offen. "Wir wollen unseren Kindern nicht nur Wissen vermitteln", sagt Konrektorin Heike Draber, "wir wollen für sie auch eine Heimat sein bis zehn vor vier." Dann enden die offenen Ganztagsangebote, die rund die Hälfte der 250 Schülerinnen und Schüler nutzt. "Wir brauchen in Zukunft kreative Vordenker, die Kinder von heute müssen lernen, die Probleme von morgen zu lösen. Bei uns sollen sie lernen, Verantwortung zu übernehmen und mit Computern umzugehen."

Diese Art, Schule zu machen, erfordert Aufklärungsarbeit bei Eltern. "Viele können sich die Mitbestimmung schlecht vorstellen, weil sie in der Regel durch Frontalunterricht sozialisiert sind", beobachtet Heike Draber. Ein Vorurteil im Ort ist, dass die Kinder auf dem Süsteresch nur spielen würden. "Die können sich nicht vorstellen, dass Kinder so viel Verantwortung übernehmen können. Hier denken viele noch sehr traditionell", sagt ihre Kollegin Astrid Stockhorst. Vom Lehrerzimmer aus sieht man direkt auf die katholische Schule von Schüttorf, die damit wirbt, dass es bei ihr noch den klassischen Unterricht gibt. Eigentlich teilen sich die Kinder der beiden Schulen den Pausenhof mit Klettergerüsten und Fußballfeld, aber die katholische Schule hat - wie zum Symbol - einen Zaun zwischen den beiden Schulen errichten lassen. So, als könnten die Lehrer damit ihre konservative Art von Schule von dem selbstverantworteten Stil der Grundschule auf dem Süsteresch abgrenzen. "Ich glaube, viele Kollegen haben Angst vor Kontrollverlust, die Eltern machen Druck, wollen alles genau wissen", sagt eine Kollegin vom Süsteresch.

Doch der Wandel lässt sich auch in dem idyllischen 10.000-Seelen-Ort in der niedersächsischen Provinz nicht aufhalten: Familienstrukturen verändern sich, viele Kinder wachsen nur bei einem Elternteil auf, 30 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Und auch in Schüttorf lassen sich Familien nieder, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind.

"Die Gesellschaft verändert sich", sagt Schulleiter Heinrich Brinker, "und Schule muss es auch." Sein Team ist seit zwölf Jahren in Bewegung und entwickelt sich systematisch weiter. Der Motor dafür ist die Steuergruppe "Grundschule im Wandel". Fast das gesamte Material haben sie im Team selbst entwickelt, allein im Forscherlabor stehen 80 Forscherkisten für die Schülerinnen und Schüler, gefüllt mit Materialien und Literatur von Arktis über Feuerwehr, Kartoffeln und Strom bis hin zum Thema Wüste. "Am Anfang haben wir uns am Wochenende getroffen und viel gebastelt", erzählt Heike Draber. In der "Baubude", die sie vor zwei Jahren eingerichtet haben, wird Mathematik begreifbar: Ein ganzer ehemaliger Klassenraum steht den Kindern mit einer Fülle von Materialien zur Verfügung. Dort können die Mädchen und Jungen mit Ankersteinen bauen, geometrische Figuren entwerfen, mit Spiegeln experimentieren.

Natürlich bedeutet das für alle am Anfang mehr Arbeit, aber die Lehrerinnen und Lehrer am Süsteresch sind motiviert durch die Erfolge der Kinder. "Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, anders zu arbeiten", sagt Astrid Stockhorst. "Früher hatte ich das Gefühl, ich erreiche mit meinem Unterricht von den 25 Kindern nur ein Drittel meiner Klasse. Ein Drittel war unterfordert und gelangweilt, ein Drittel kam nicht mit." Und Verena Rothenberg, eine ganz junge Kollegin, die gerade erst ihr Referendariat beendet hat, lobt das Team. "Hier finden wir immer gemeinsam eine Lösung."

Jahr für Jahr hat das Kollegium gezögert, sich für den Deutschen Schulpreis zu bewerben. Die Lehrkräfte hielten sich noch nicht für gut genug, steckten sich lieber immer wieder neue pädagogische Ziele. Als Nächstes wollen sie den Stundenplan noch weiter individualisieren, Lernlandkarten für Sachkunde sind in Arbeit, ein Forscherlabor für Englisch soll entstehen. Dabei prüfen sie immer, ob sie auch erreichen, was sie sich vorgenommen haben, verbessern, passen an.

Die Lehrerschaft würde gern den gebundenen Ganztag einführen. Doch das lässt sich nicht durchsetzen - viele Eltern möchten ihre Kinder mittags zu Hause haben und die Freizeitgestaltung am Nachmittag selbst steuern. Und sie sind losgefahren, haben bei anderen, wie der Wartburg-Grundschule in Münster oder der Laborschule in Bielefeld, geschaut: Wie macht ihr das? Erst die Rückmeldung der niedersächsischen Schulinspektion 2015 gab den Lehrerinnen und Lehrern vom Süsteresch Mut. Einer der Inspektoren sagte: "So ein exzellentes Ergebnis habe ich nach zehn Jahren Schulinspektion das erste Mal attestiert." Diesem Eindruck schließt sich die Schulpreis-Jury an. Sie stellt der Schule in allen sechs Qualitätsbereichen ein exzellentes Zeugnis aus.

Elke Felix, die Klassenlehrerin der "Affenbande", wollte eigentlich immer noch mal wechseln, sie ist seit 1997 an der Schule. Aber wozu? Einen besseren Arbeitsplatz kann sie sich nicht vorstellen.

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Robert * sitzt auf dem Boden im Schulflur. Immer mal wieder erscheint eine Lehrerin im Türrahmen über dem 12-Jährigen. "Robert, komm jetzt wieder rein." "Nein! Ich hab keine Lust!" Der Ton der Lehrerin wird nachdrücklich: "Robert, du musst!" Der Junge antwortet wütend: "Ich will aber nicht." Die Lehrerin versucht es sanft: "Wir proben ein Theaterstück, du könntest mitmachen." "Nein." "Dann gib mir dein Logbuch." Seufzend kramt der Junge ein Heft hervor. Klapp. Tür zu. "Jetzt schreibt sie wieder rein, dass ich die Arbeit verweigere", sagt er. Minuten später öffnet sich die Tür, konzentriertes Murmeln von 30 Schülerinnen und Schülern. "Hier, klär das bitte mit Steffi."

Robert besucht seit einem halben Jahr die Freiherr-vom-Stein-Schule in Neumünster. Aber er will hier nicht sein: Noch kein Lehrer hat ihn dazu gebracht, auch nur seine Jacke auszuziehen. Meist setzt er sich gar nicht erst hin. Die meisten Lehrkräfte lehnt er ab. Nur Steffi Grams, die Schulsozialarbeiterin, die findet er ganz ok. Na gut, dann eben wieder zu ihr. Die wäscht aber gerade ihren Kolleginnen und Kollegen den Kopf. "Lehrer haben oft den Blick nur darauf, was nicht läuft", sagt sie in der Konferenz. Die Teilnehmenden sind dankbar für das Feedback. Steffi Grams erinnert sich noch gut an ihren ersten Tag an der Steinschule vor knapp drei Jahren. "Die Lehrer haben mir zugehört und sogar mitgeschrieben! " Das kannte sie bis dahin nicht.

Diese Teamarbeit ist kein Selbstzweck, sondern der einzige Weg, um Schülern wie Robert gerecht zu werden. "Reibt euch doch nicht daran auf, dass er seine Jacke nicht auszieht!", mahnt sie. "Robert hat zu Hause größere Probleme als in der Schule. Wenn er sich bei uns wohl fühlt, wird er sie schon ausziehen."

Kurz darauf sitzt der Fünftklässler in ihrem Büro. "Zeig mal deinen Plan für heute", sagt sie. Sie blättert durch das leere Heft. Das Logbuch ist eigentlich das Herzstück des Lernens an der Steinschule: Jeder Schüler trägt seinen Plan für die Woche ein und berichtet am Ende, was er gelernt hat und wie er weiter vorgehen will. In Roberts Logbuch steht meist nichts - oder nur ein Satz: "Ich mach heute nichts."

Anfangs sei sie nicht sicher gewesen, ob er das Lernsystem überhaupt verstanden habe, sagt Grams. Aber nun zeichnet sich eine Wende ab. Das Kompetenzraster der aktuellen Lernphase hat er bunt angemalt: Den Satz "Ich weiß, was eine Fabel ist" hat er grün markiert, ebenso "Ich kann untersuchen, wann und wo Fabeldichter gelebt haben". "Äsop wurde gehenkt", sagt er, "aber ich habe nicht rausgefunden, wann er geboren wurde." Steffi Grams lächelt ihn an: "Super, dann hast du doch schon einen Plan für morgen!" In der Pause wird Lars Ziervogel, Mitglied des Schulleitungsteams, wieder zum Schüler. Zwei jüngere Kollegen erklären dem Mathelehrer, wie er am besten die neue digitale Lernplattform befüllt. "Du kannst auf Lernspiele im Internet verlinken", sagt der eine und zeigt, wie er die Lerneinheit "Geodreieck und Winkelmessen" aufbereitet hat. "Das ist eine riesige Erleichterung, wenn die Schüler selbst nachschauen können, wie man einen Winkel misst", sagt Ziervogel. Dann bleibt im Unterricht mehr Zeit für das Wesentliche: tiefergehende Fragen stellen, diskutieren, forschend lernen. Folgerichtig nennen sich die Lehrenden hier Lernberater.

Sie sind es gewohnt, ihre Lehrmaterialien umzustellen. Die Plattform, in die Schülerinnen und Schüler sich einloggen und Lernstoff bearbeiten, ist der vorerst letzte Höhepunkt einer langen Schulentwicklung: "Bei uns macht keiner etwas allein", sagt Schulleiterin Maike Schubert. Was anstrengend klingt, entlastet auch: An der Schule unterrichten alle Lehrkräfte mit den gleichen Materialien. Je alle knapp 300 Schülerinnen und Schüler der Unter- und der Mittelstufe bearbeiten parallel die gleiche fünfwöchige Lerneinheit, in der Stoff für jedes Fach unter einem gemeinsamen Motto steht. Mit dem Kompetenzraster können sie entscheiden, welche Aufgabe ihrem Lernstand entspricht: So passt sich der Stoff fließend an sie an.

"Das kann man verlängern!", ruft eine Fünftklässlerin und zeigt auf das Wort "Glaubensbekenntnes", das ein Mitschüler ans Whiteboard geschrieben hat. "Dann hört man das 'i'." "Ist 'ent' eine Vorsilbe?", fragt ein Siebtklässler und zeigt auf "Entäuschung": zwei "t" oder nur eines? Wie ein Team von Kommissaren ermitteln zwei Schülergruppen gegen die Tücken der Rechtschreibung. "Endbahnhof" oder "Entbahnhof"? "Vorfahrtsschild" mit "d" oder "t"? Schließlich gilt es, den Wettbewerb zwischen den beiden Gruppen zu gewinnen. Teamwork hilft, jeder kann von jedem lernen. Die Rechtschreibförderung ist so beliebt, dass sich viele Schülerinnen und Schüler freiwillig melden.

Der Weg hierher war nicht immer einfach. 2007 wurden in Schleswig-Holstein die Realschulen abgeschafft, zeitgleich ging die Führungsriege der damaligen Realschule in Ruhestand. "Entscheidet ihr, wie es weitergehen soll", rief sie den jüngeren Kollegen noch zu. "So ist das beim Changemanagement", sagt der stellvertretende Schulleiter Olaf Hubert, "es muss echte Not herrschen." In diesem Fall: keine Führung, eine schwierige Lage in strukturschwacher Umgebung und eine total offene Zukunft. Das halbe Kollegium begab sich in Klausur - und warf alles über den Haufen, was es bisher kannte. "Es war eine euphorische Stimmung", erinnert sich Schulleiterin Schubert. Leitfrage der Klausur sei gewesen: "Was ist mein Traum von Schule?" Die Lehrerinnen und Lehrer führten das klassenübergreifende Lernen 5 bis 7 und 8 bis 10 ein und schafften den Frontalunterricht ab.

"Anfangs gab es enormen Widerstand von Kollegen und einigen Eltern - vor allem außerhalb der Schule", erinnert sich Schubert. Auch die Schülerinnen und Schüler mussten sich erst daran gewöhnen. Weil das Unterrichtsmaterial neu aufgebaut werden musste, starteten sie mit Lernspielen - "aber die Schüler haben nur 'spielen' gehört", sagt Schubert. Beim offenen Arbeiten genossen sie lautstark die neue Freiheit. "Offener Unterricht braucht viel Steuerung", weiß sie heute. Aber auch das musste erst erarbeitet werden.

Jetzt steht der nächste große Kampf an: der um die Akzeptanz. Rike Früchtenicht aus dem Schulleitungsteam betrachtet ein Plakat in ihrem Büro: "Raus aus der Schule, rein in die Schule" steht darüber. Die Idee ist klar: Die Schule muss Freunde finden und dafür rausgehen oder andere einladen. Viele in der Stadt sind misstrauisch. "In dieser Schule lernt man nichts, weil kein Lehrer vorne steht", heißt es in Neumünster. Dieses bunte Schulprojekt, zu dem sich die einst konservative Realschule entwickelt hat, behagt vielen nicht. Das aktuelle Projekt: Bewohner des benachbarten Seniorenheims und die Kita-Kinder zur singenden Pause einladen.

"Ain’t nobody, loves me better", schallt es durchs Treppenhaus, der Schulchor singt inbrünstig am Fuß der Treppe, ein Lehrer haut leidenschaftlich in die Tasten, auf den Stufen stehen Schüler und mimen mit ihren Handytaschenlampen schwingende Feuerzeuge. Auch drei Lehrerinnen singen mit - "hach, das ist die erholsamste Art der Pause", ruft eine ihrer Kollegin zu. Auf dem Sofa vor dem Lehrerzimmer sitzt Robert mit seinen Freunden und zockt. Er hat seine Jacke ausgezogen. Die Lehrer haben die kleine Revolution auf dem Schulflur noch gar nicht bemerkt.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert.

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Interview mit Schulleiter Thomas Bachmeier

Den Umgang mit Vielfalt und Heterogenität: Wir unterrichten Kinder aus 30 Nationen, mit unterschiedlichsten Glaubensbekenntnissen und verschiedensten sozialen Hintergründen.

Bei uns begegnen sich Gleichaltrige, die sonst keine Berührungspunkte hätten. In Südafrika existieren Unterschiede, die in Europa kaum vorstellbar sind. Doch sobald die Kinder unsere Schule betreten, werden alle gleich behandelt. Um es drastisch zu beschreiben: Einige kommen mit Chauffeur. Sie sind in einer Klasse mit Kindern, die hungrig zur Schule gehen und kein Geld für Bücher haben. Als die Jury des Deutschen Schulpreises da war, erzählte ein früherer Schüler: "Ohne diese Schule würde ich vielleicht an der Straße betteln. Heute arbeite ich im Management einer Bank." Ich bin eigentlich nicht so emotional, aber es war sehr berührend. Doch ich will nichts schönreden. Es bleibt eine unglaubliche Herausforderung. Diese Schule ist ein winziger, aber für den Einzelnen unschätzbarer Wert hinsichtlich der Bildungsgerechtigkeit in Südafrika.

Man darf nicht vergessen: Johannesburg wurde nur vier Jahre davor gegründet und war eine Siedlung aus Zelten und Ochsenkarren, wo vor allem Goldgräber hausten. Ein deutscher Pastor begann, Kinder deutscher Einwanderer zu unterrichten. Somit sind wir die älteste gemischte Schule der Stadt. Doch bis auf den Grundstein am Eingang der Schule ist wenig geblieben.

Nein, auch wenn Gäste anfangs manchmal irritiert sind. Es ist ein Zeichen der Zusammengehörigkeit, sie repräsentieren die Schule sichtbar und stolz. Das trägt zur hohen Identifikation bei. Dieses besondere Gemeinschaftsgefühl von Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften ist schwer zu beschreiben. Auf der Abschlussfeier, nach meinem Amtsantritt, habe ich mich gefühlt wie der Einzige, der noch nicht zur Familie gehört. Ich sehe uns im Spannungsfeld zwischen Deutschland und Südafrika, Tradition und Moderne. Wir sind im Vergleich zu südafrikanischen Schulen sehr liberal, unsere Schüler dürfen etwa Piercings tragen, was Kollegen an anderen Schulen kaum verstehen, dort wird selbst die Haarlänge kontrolliert. Andererseits legen wir mehr Wert auf Disziplin als Schulen in Deutschland.

1987 beauftragte die Bundesregierung unsere Schule, eine "Neue Sekundarstufe" für Kinder aus dem Township Soweto einzurichten. Sie ist Teil der heutigen Schule. Ein unglaublich mutiger Schritt, wenn man bedenkt, dass Menschen unterschiedlicher Hautfarbe damals nicht mal den gleichen Bus nehmen durften. Unsere Schülerschaft hat sich stark gewandelt. Wir hatten früher 60 Prozent sogenannter Expat-Kinder, deren deutsche Eltern aus beruflichen Gründen drei, vier Jahre in Südafrika waren. Heute sind es noch sieben Prozent und deutschstämmige Südafrikaner in der Mehrheit. Wir nehmen zudem jedes Jahr 25 Kinder aus benachteiligten Familien auf, die dank der Unterstützung der Bundesrepublik einen Bruchteil des Schulgelds von durchschnittlich 3.500 Euro pro Jahr zahlen. Zurzeit bekommen 180 von insgesamt 1.150 Schülerinnen und Schülern ein Stipendium.

Wir sind eine private Schule, ich bin im Prinzip ihr Angestellter. Die Zusammenarbeit ist enger und die Identifikation wesentlich größer als an vielen deutschen Schulen.

Wir haben viele Motoren, allerdings nicht immer aufeinander abgestimmt. Die Herausforderung ist es, das Lenkrad in der Hand zu behalten. Wir haben Vorgaben von südafrikanischen und deutschen Behörden. Südafrikanische Eltern fordern, dass ihre Kinder zwischen Kricket und Rugby wählen können. Deutsche Eltern fragen: Warum eine Uniform? Wieso Ferienunterricht? Darum müssen wir selbstbewusst unser Profil vertreten, das unsere Ansicht von Erziehung und Bildung widerspiegelt.

Diese komplexe Schule, wie sie heute existiert, ist das Ergebnis vieler Verantwortlicher im Kollegium, Management und Vorstand. Ich verlasse mich auf die, die hier seit Jahren sind, und versuche, zunächst gründlich zuzuhören. Wir haben eine Schulleitung mit vier, eine erweiterte mit zwölf Personen. Ich muss auch loslassen können als Schulleiter, mehr delegieren als regulieren im Vergleich zu einer Schule in Deutschland.

Erstens: Selbstständigkeit, das unterscheidet uns von südafrikanischen Schulen. Ich sage den Eltern, wir bereiten auf das Leben vor, nicht nur auf Prüfungen. Das ist für manche befremdlich. Es gibt da auch Diskussionen zwischen deutschen und südafrikanischen Lehrern, weil hierzulande Schülerleistung traditionell stark mit der Person des Lehrers verbunden wird. Deshalb unterrichten südafrikanische Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler sogar in den Ferien. Der zweite Wert, soziale Verantwortung, ist gerade für dieses Land extrem wichtig. Wir bilden Streitschlichter aus, schicken Schülerinnen und Schülern für Sozialprojekte in Waisen- und Krankenhäuser. Der dritte Wert ist Kritikfähigkeit. Kinder aus traditionellen Strukturen sind anfangs verstört, wenn sie miteinander diskutieren sollen und ihre Meinung Gehör findet. Denn in staatlichen Schulen mit bis zu 70 Schülerinnen und Schülern pro Klasse ist Interaktion häufig unerwünscht.

Systematisch, mittels Elternumfragen, Mitarbeitergesprächen und gegenseitiger Unterrichtsbeobachtung. Hauptthema sind momentan Binnendifferenzierung, Inklusion und kooperatives Lernen. Wir haben vor allem im Fach Deutsch unterschiedliche Leistungsniveaus. Frontalunterricht - alle im Gleichschritt - funktioniert da nicht. Deshalb setzen wir in der Nachmittagsbetreuung zum Beispiel gezielt Schülerinnen und Schüler ein, damit sie anderen helfen.

Unsere deutschen und südafrikanischen Abschlussprüfungen schaffen seit zwölf Jahren nahezu 100 Prozent unserer Absolventen. Das hat auch mit einer positiven Haltung zur Leistung zu tun, die sich nicht auf intellektuelle Fähigkeiten beschränkt. Wir sehen die ganze Persönlichkeit: Es ist schön, dass jedes Kind Talente hat, im sozialen, sportlichen oder musischen Bereich. Auch diese Erfolge würdigen wir regelmäßig mit Auszeichnungen.

Mir war klar, dass wir unser Bestes geben. Aber wir konnten nicht einschätzen, wie das von außen gesehen wird. Die Juroren haben die Schule nach drei Tagen so gut gekannt wie ich nach sechs Monaten und auch Schwachstellen gefunden. Unsere Konzepte sind gut, die Umsetzung im Unterricht kann stets verbessert werden. Nach dem Besuch waren wir der Meinung: Dieses offene Feedback ist unbezahlbar.

Porträt

Porträt

Vier Krähen begrüßen den Tag an der "Schule für Erwachsenenbildung" (SFE). Die Beine angewinkelt, das Körpergewicht auf den Händen, blicken Benni *, Jens, Anne und Henri auf ihren Lehrer. Es ist kurz nach halb acht. In einer Stunde wird der Unterricht beginnen. Die vier nutzen die Ruhe für Yoga in Position der Rabenvögel - hier in der Aula im dritten Stock eines ehemaligen Fabrikgebäudes in Berlin-Kreuzberg. "Gleich fliegt ihr los", murmelt Gian und schließt die Augen. Auch der 22-jährige Gian ist Schüler an der SFE, er bietet Yoga-Übungen ehrenamtlich an. Da knallt von hinten eine Tür. Theo hastet herein. "Hatte mein Sportzeug vergessen", sagt er und lächelt. "Wie früher."

Theo ist 22. Früher - dieses Wort ist an diesem Frühlingstag in den betongrauen Fluren oft zu hören. Früher besuchten die Schülerinnen und Schüler andere Schulen. Früher klappte etwas nicht, knirschte und blockte es. Die SFE ist eine zweite Chance - für junge Menschen, die ihre Schule abbrachen, nicht klarkamen oder gleich ins Erwachsenenleben starten wollten und einige Jahre später ihren Bildungshunger entdeckten. Die Geschichte der SFE ist die eines kleinen Wunders.

Zum Biologieunterricht der Klasse K4 geht es durch den Flur am Schwarzen Brett vorbei, auf dem Arbeitsgemeinschaften für "Hacking", "Kampfkunst" und "Türkisch" werben. Mit "Bio-Ute", wie alle die Lehrerin Ute Richter nennen, will die K4 heute Stammesgeschichte durchnehmen; doch erst einmal muss Geld her. "Wir brauchen noch sechs Euro zum Kopieren der Unterlagen", sagt Skip, 27. Die sechs Schülerinnen und Schüler legen zusammen. Die SFE ist die einzige Schule im deutschsprachigen Raum, die sich selbst verwaltet. Lernende und Lehrende agieren nicht nur auf Augenhöhe, sondern organisieren ihr gesamtes Schulleben basisdemokratisch. Wichtigstes Strukturmerkmal ist, dass es keine Strukturen gibt.

Die sechs von der K4 sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Alle haben irgendwann den Realschulabschluss absolviert. Skip und Ede sind Köche geworden, Anja hat in der Altenpflege gearbeitet. Die anderen drei möchten nicht verraten, was sie gemacht haben. Nun beziehen alle sechs BAföG. Und büffeln fürs Abitur. Einige jobben noch nach Ende des Unterrichts um halb zwei. Ebenso einige Lehrkräfte: Ihr Gehalt berechnet sich nach einem Stundenlohn von 12,50 Euro, mehr als 1.300 Euro netto werden es im Monat selten. Alles begann 1973 mit einem Streik. Schülerinnen und Schüler einer kommerziellen Privatschule protestierten gegen einen autoritären Rektor und forderten mehr Rechte. Es kam zu Streik und Polizeieinsatz, Schüler organisierten wegen der nahenden Abiprüfungen einen Gegenunterricht und fanden Gefallen daran. Sie verließen die Schule und gründeten ihre eigene. Der Monatsetat von 32.000 Euro wird ausschließlich von ihrem monatlichen Schulgeld bestritten. Eine Förderung hat die SFE nie erhalten und wollte dies auch nie, um der Unabhängigkeit willen. Seitdem drohte der Schule mehrfach die Insolvenz, auf die sie mit dem Einfrieren der Lehrergehälter reagierte.

Lehrerin Ute Richter, 60, wartet, bis jeder ein Arbeitspapier gelesen hat. "Was erzählen uns Embryonen über die Stammesgeschichte?", fragt sie. Skip murmelt: "Sie tragen die Merkmale ihrer Vorfahren." Rasch entfaltet sich eine Diskussion. "Plattfische wie Schollen zum Beispiel", sagt Ute Richter, "ähneln zwar Rochen, sind aber nicht mit ihnen verwandt, sondern mit Heringen." Ede unterbricht. "Ute, kannst du mir noch eine Klausur zum Üben mitgeben?"

Der Unterricht an der SFE ist nur schwer anhand von Kategorien zu beschreiben. Mal ist er klassisch frontal, mal reine Kleingruppenarbeit, mal offene Diskussion - alles gemäß dem Motto, das auf einem an die Wand genagelten blauen Schulshirt prangt: "Bildet Banden, bildet euch!" Der Unterricht ist jedenfalls anders. Die Schülerinnen und Schüler entscheiden, was sie wann wie lernen. Sie sind verantwortlich für ihr Lernen. Prinzipiell können sie sogar ihre Lehrkräfte abwählen. Das spornt an. Noten gibt es keine, es sei denn, die Schüler wollen eine, Klausuren werden nur zum Selbstcheck geschrieben; zur Vorbereitung aufs Abitur, das extern abgelegt wird. Die Lehrerinnen und Lehrer richten sich nach den Wünschen der Schülerinnen und Schüler. Die üben in der Regel zielgerichtet auf die Prüfungen hin, verlangen zahlreiche Klausuren und ausführliches Feedback - welches Ute Richter mit einem Bleistift an den Klausurenrand schreibt; mitunter mehr Text als jener der Schüler. Oft treffen sie sich am Wochenende in Kleingruppen, um weiterzuüben. Wer hier landet, geht ein Arbeitsbündnis ein. In der K4 wird konzentriert gelernt. Dennoch wirkt alles lässig.

Anja schreibt eine SMS, während Ute Richter über das menschliche Steißbein referiert. Unter dem Tisch von Skip kaut eine große Hündin auf einem Holzstock. Zehn Minuten vor Unterrichtsschluss kommt Jasmin rein, mit ihrer Bullterrierin, die einen Maulkorb trägt. "Hatte noch zu tun", sagt sie. Als der Bio-Unterricht endet, regt sich in der Ecke ein dritter Hund.

In der Pause schnappt sich Anja in der offenen Küche in der Aula eine Brotscheibe mit Tofupaste und setzt sich auf die dreistufige Holzbühne. "Mit 15 schmiss ich die Schule", sagt sie. "Die Selektion und die Noten schreckten mich ab." Sie arbeitete, wurde zweifache Mutter. Und will nun mit 30 Lehrerin werden. "Lehrer sollten Schüler nehmen, wie sie sind - ohne Vorstellung davon, wie sie sein sollten." Neben ihr springt Wolf aufs Podium, der 21-Jährige ist gekommen, um mit den anderen für die Abiprüfung in der kommenden Woche zu üben. Die wichtigste Frage, die ein Schüler sich hier anfangs zu stellen habe, sei: "Woher kommt die Disziplin? Hier wird niemand gezogen. Man muss selbst machen." Die Abbrecherquote in der SFE ist hoch. Da ist zum einen die Last der Freiheit. Zum anderen treten hin und wieder finanzielle Engpässe auf, biographische Einschnitte wie Familiengründungen. Oder ein interessanter Job ergibt sich, der den Schulabschluss nicht verlangt.

Die SFE lebt ein selten in Schulen umgesetztes Credo: das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Ein Vorbild für andere Schulen in Sachen Demokratie: Verwaltung, Stundenplan und -inhalte regeln die Schülerinnen und Schüler in Versammlungen. Selbst die Schule putzen sie allein. In vielem war die SFE Vorreiterin, sie praktizierte zum Beispiel selbständiges Lernen zu Zeiten, in denen Pädagogen dies für eine Quadratur des Kreises hielten. So viel Pioniergeist macht zu schaffen.

Denn früher besuchten 800 Schülerinnen und Schüler die SFE - heute nur noch 200. Die Gesellschaft hat hinzugelernt. Es gibt eben nicht mehr nur einen Weg zur Universität. Auch die SFE hat im Lauf der Jahrzehnte viel gelernt. So wird seit einigen Jahren auch mal ein Bauauftrag nach außen vergeben und nicht mehr alles selbst repariert. Und die Schule führte vor zwei Jahren ein fest in den Stundenplan integriertes Tutorenmodell ein: Zwei Lehrkräfte begleiten eine Klasse zusätzlich von Beginn an und betreuen die Schülerinnen und Schüler; geben Hilfestellung, wenn die Selbständigkeit Probleme bereitet. Früher, als die Klasse als "Zelle" verstanden wurde, wäre dieser "Eingriff" der Lehrer in die Autonomie der Klasse undenkbar gewesen. Heute überzeugt die Erkenntnis, dass absolute Unabhängigkeit auch einsam machen kann.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert.

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