Porträt
"Wach auf", ruft eine Kinderstimme, eine schrille Schulglocke läutet. "Hier ist euer Klimperkasten Süsteresch! Nun geht es los, jetzt knallt es durchs Mikro!" - "Celebrate good times, come on!", laut und fröhlich tönt der Titel der Band "Kool & the Gang" durch die Schule. Die Radio-AG der Grundschule auf dem Süsteresch in Schüttorf, im Westen Niedersachsens, nur wenige Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt, ist wieder auf Sendung. Eine gute Viertelstunde lang werden Witze erzählt, die Auswertung eines Quiz verlesen (Wann genau endet der Frühling?), aber auch über ernste Themen berichtet. Diesmal geht es um Demokratie. Marie, Kjell und Mattes haben Daniela de Ridder, die Bundestagsabgeordnete ihres Landkreises, getroffen und interviewt. Die jungen Moderatoren erklären ihren Mitschülerinnen und Mitschülern das Prinzip der Demokratie: "Wir handeln an unserer Schule demokratisch. Zum Beispiel mit unserem Radio-Briefkasten: Hier haben wir alle die Möglichkeit, unsere Stimmen für unser Lieblingslied auf einen Zettel zu schreiben und in einen Kasten zu schmeißen. Das Lied mit den meisten Stimmen wird dann in der nächsten Sendung abgespielt.
Auch bei der Klassensprecherwahl handeln wir demokratisch. Wir dürfen alle darüber abstimmen, wer unsere Klasse im Schülerrat vertritt. Beim Schülerrat stimmen dann alle Klassensprecher darüber ab, was wir für unsere Schule tun können und was wir verändern wollen. Unsere Schuldemokratie lässt uns alle mitbestimmen, und genau das finden wir prima! "Mitbestimmung leben die Kinder der Grundschule auf dem Süsteresch täglich. Auf unterschiedlichen Ebenen übernehmen sie Verantwortung für sich und andere: Das fängt bei den Klassendiensten an, geht über den Klassenrat, bei dem wöchentlich Probleme besprochen werden und der abwechselnd von einem Kind der Klasse geleitet wird, bis hin zur "Selbstlernzeit". Dabei entscheiden schon die Jüngsten täglich, mit wem sie arbeiten wollen, allein, mit einem Partner oder in der Gruppe, mit welchem Material und wo. Sie bewegen sich frei zwischen Klassenraum, Lernatelier, Bücherei und dem "Lichtblick", dem großen lichtdurchfluteten Atrium der Schule. Überall stehen Computer, die für die Kinder jederzeit und völlig selbstverständlich zugänglich sind.
Selbstlernzeit bei der "Affenbande", der Klasse 1a: Ryan, 6, schwarzes BVB-Shirt, und Jano, 7, rotes Bayern-Sweatshirt, sitzen sich gegenüber. Sie würfeln. Wer die höhere Zahl hat, greift sich ein paar bunte, gläserne Muggelsteine, zieht die Differenz ab und legt die abgezählten Glassteine vor sich hin, immer hübsch in Zehnerreihen. Elke Felix, die Klassenlehrerin, wirft kurz einen Blick auf die beiden ins Spiel vertieften Jungs. "Brauchst du noch die Fünfer-Päckchen, Ryan?", fragt sie. Der Junge schüttelt den Kopf. Er kann bereits in Zehnerschritten rechnen. An einem anderen Tisch sitzen vier Mädchen und machen "Elfchen" - Gedichte aus elf Wörtern, die sie aufwendig verzieren. Sönke schreibt in sein "Reisetagebuch": ein dickes DIN A4-Buch, in das die Kinder während ihrer Grundschulzeit Geschichten schreiben und Bilder malen und so festhalten, was sie bewegt; Emily arbeitet im Leseheft und Elke Felix setzt sich zu Hannes und bespricht mit ihm in Ruhe die Verbesserungen einer Schreibübung.
In der Grundschule auf dem Süsteresch lernen nicht alle zur selben Zeit das Gleiche, sondern jedes Kind nimmt sein Lernen selbst in die Hand. "Wir müssen uns auf die Kinder zubewegen, nicht umgekehrt", sagt Elke Felix. "Ein Kind konnte schon bei der Einschulung lesen, das muss ich doch nicht mit Silbenlesen langweilen; manche Klassenkameraden können noch nicht ihren Namen schreiben, und einer meiner Schüler hängt gerade durch, weil er eine schwierige Phase hat. Aber die geht vorüber. Da bin ich froh, wenn ich bei dem nicht den Stoff durchprügeln muss." Von den Lehrerinnen und Lehrern entwickelte Lernlandkarten visualisieren den Lernstand jedes Kindes in Mathe und Deutsch. Regelmäßig setzen sie sich mit den Kindern zusammen und beraten mit ihnen die nächsten Lernschritte. Besonders Begabte können selbständig eine Idee oder eine "Expertenarbeit" entwickeln und umsetzen. Die Ansprüche sind hoch: "Bei uns gilt die Regel: Wie beim Fußball geben wir hundert Prozent", sagt Schulleiter Heinrich Brinker. Mit Erfolg: Bei den VERA-Ergebnissen liegt die Grundschule in Deutsch weit über dem Durchschnitt.
Die "Affenbande" setzt sich auf Bänke und um die Tafel. Sie klatschen in einem einfachen, aber speziellen Rhythmus - dieses Klatschen wiederholt sich überall in der Schule im Laufe des Tages und dient dazu, sich zu konzentrieren und zu fokussieren. Der Präsentationskreis beginnt. Maxi sitzt auf dem Präsentierstuhl, stolz hält sie ihr Forscherheft, in dem sie ihre Überlegungen notiert, in der Hand. "Ich habe bis 100 gerechnet. " Applaus von den übrigen Kindern. Marie sagt: "Ich finde es gut, dass du das schon so gut kannst.
"Durch das regelmäßige Präsentieren erfahren die Kinder eine hohe Wertschätzung für ihre geleistete Arbeit. Sie lernen, mit Kritik umzugehen und konstruktiv Feedback zu geben - schließlich ist jeder mal in der Rolle, sich eine Rückmeldung von den Klassenkameraden einzuholen. Ergebnisse ihrer Forscheraufgaben präsentieren sie als Vortrag, mit Plakaten, Powerpoints und Ausstellungen. Solche Plakate hängen überall in der Schule. Ein Team hat es sogar bis zu "Jugend forscht" geschafft, als eines der jüngsten bei dem Wettbewerb bisher überhaupt. Ihr Plakat mit der genau dokumentierten Versuchsanordnung über Bakterien ("Weißt du eigentlich, wer sich am Süsteresch noch so tummelt?") ist nicht zu übersehen. In einer Ecke steht ein Tisch mit einem Glas mit Erde und einem Plakat, auf dem die Forscherfrage der Woche steht. Die "Drachen" aus der 2 a wollen wissen: Wie entsteht Regen? Antworten oder Tipps bitte in die Box einwerfen! "Hallo, Herr Brinker!" - ein Junge streckt dem Schulleiter die Hand zum High-Five entgegen, der schlägt im Vorbeigehen ein. Seine Tür und auch die zum Lehrerzimmer steht eigentlich immer offen. "Wir wollen unseren Kindern nicht nur Wissen vermitteln", sagt Konrektorin Heike Draber, "wir wollen für sie auch eine Heimat sein bis zehn vor vier." Dann enden die offenen Ganztagsangebote, die rund die Hälfte der 250 Schülerinnen und Schüler nutzt. "Wir brauchen in Zukunft kreative Vordenker, die Kinder von heute müssen lernen, die Probleme von morgen zu lösen. Bei uns sollen sie lernen, Verantwortung zu übernehmen und mit Computern umzugehen."
Diese Art, Schule zu machen, erfordert Aufklärungsarbeit bei Eltern. "Viele können sich die Mitbestimmung schlecht vorstellen, weil sie in der Regel durch Frontalunterricht sozialisiert sind", beobachtet Heike Draber. Ein Vorurteil im Ort ist, dass die Kinder auf dem Süsteresch nur spielen würden. "Die können sich nicht vorstellen, dass Kinder so viel Verantwortung übernehmen können. Hier denken viele noch sehr traditionell", sagt ihre Kollegin Astrid Stockhorst. Vom Lehrerzimmer aus sieht man direkt auf die katholische Schule von Schüttorf, die damit wirbt, dass es bei ihr noch den klassischen Unterricht gibt. Eigentlich teilen sich die Kinder der beiden Schulen den Pausenhof mit Klettergerüsten und Fußballfeld, aber die katholische Schule hat - wie zum Symbol - einen Zaun zwischen den beiden Schulen errichten lassen. So, als könnten die Lehrer damit ihre konservative Art von Schule von dem selbstverantworteten Stil der Grundschule auf dem Süsteresch abgrenzen. "Ich glaube, viele Kollegen haben Angst vor Kontrollverlust, die Eltern machen Druck, wollen alles genau wissen", sagt eine Kollegin vom Süsteresch.
Doch der Wandel lässt sich auch in dem idyllischen 10.000-Seelen-Ort in der niedersächsischen Provinz nicht aufhalten: Familienstrukturen verändern sich, viele Kinder wachsen nur bei einem Elternteil auf, 30 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Und auch in Schüttorf lassen sich Familien nieder, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind.
"Die Gesellschaft verändert sich", sagt Schulleiter Heinrich Brinker, "und Schule muss es auch." Sein Team ist seit zwölf Jahren in Bewegung und entwickelt sich systematisch weiter. Der Motor dafür ist die Steuergruppe "Grundschule im Wandel". Fast das gesamte Material haben sie im Team selbst entwickelt, allein im Forscherlabor stehen 80 Forscherkisten für die Schülerinnen und Schüler, gefüllt mit Materialien und Literatur von Arktis über Feuerwehr, Kartoffeln und Strom bis hin zum Thema Wüste. "Am Anfang haben wir uns am Wochenende getroffen und viel gebastelt", erzählt Heike Draber. In der "Baubude", die sie vor zwei Jahren eingerichtet haben, wird Mathematik begreifbar: Ein ganzer ehemaliger Klassenraum steht den Kindern mit einer Fülle von Materialien zur Verfügung. Dort können die Mädchen und Jungen mit Ankersteinen bauen, geometrische Figuren entwerfen, mit Spiegeln experimentieren.
Natürlich bedeutet das für alle am Anfang mehr Arbeit, aber die Lehrerinnen und Lehrer am Süsteresch sind motiviert durch die Erfolge der Kinder. "Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, anders zu arbeiten", sagt Astrid Stockhorst. "Früher hatte ich das Gefühl, ich erreiche mit meinem Unterricht von den 25 Kindern nur ein Drittel meiner Klasse. Ein Drittel war unterfordert und gelangweilt, ein Drittel kam nicht mit." Und Verena Rothenberg, eine ganz junge Kollegin, die gerade erst ihr Referendariat beendet hat, lobt das Team. "Hier finden wir immer gemeinsam eine Lösung."
Jahr für Jahr hat das Kollegium gezögert, sich für den Deutschen Schulpreis zu bewerben. Die Lehrkräfte hielten sich noch nicht für gut genug, steckten sich lieber immer wieder neue pädagogische Ziele. Als Nächstes wollen sie den Stundenplan noch weiter individualisieren, Lernlandkarten für Sachkunde sind in Arbeit, ein Forscherlabor für Englisch soll entstehen. Dabei prüfen sie immer, ob sie auch erreichen, was sie sich vorgenommen haben, verbessern, passen an.
Die Lehrerschaft würde gern den gebundenen Ganztag einführen. Doch das lässt sich nicht durchsetzen - viele Eltern möchten ihre Kinder mittags zu Hause haben und die Freizeitgestaltung am Nachmittag selbst steuern. Und sie sind losgefahren, haben bei anderen, wie der Wartburg-Grundschule in Münster oder der Laborschule in Bielefeld, geschaut: Wie macht ihr das? Erst die Rückmeldung der niedersächsischen Schulinspektion 2015 gab den Lehrerinnen und Lehrern vom Süsteresch Mut. Einer der Inspektoren sagte: "So ein exzellentes Ergebnis habe ich nach zehn Jahren Schulinspektion das erste Mal attestiert." Diesem Eindruck schließt sich die Schulpreis-Jury an. Sie stellt der Schule in allen sechs Qualitätsbereichen ein exzellentes Zeugnis aus.
Elke Felix, die Klassenlehrerin der "Affenbande", wollte eigentlich immer noch mal wechseln, sie ist seit 1997 an der Schule. Aber wozu? Einen besseren Arbeitsplatz kann sie sich nicht vorstellen.