Passt man nicht auf, übersieht man sie fast, die kleine Tafel aus Acryl im Flur der Europaschule Bornheim bei Bonn. In schwarzen Buchstaben steht da: "Jeder Mensch ist einzigartig und verdient unser Vertrauen. Kein Mensch darf gedemütigt werden."
Bevor Christoph Becker 2008 als Schulleiter antrat, standen auf der Tafel noch die Namen der Schulleitung. "Vertrauen ist ein zentraler Begriff für ein menschliches Miteinander und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen", sagt er. Die Schülerinnen und Schüler sollen den Lehrkräften, ihren Mitschülern und sich selbst vertrauen. "Damit wollen wir sie befähigen, zu Autoren eines eigenverantwortlichen und gelingenden Lebens zu werden." Diese Idee hat die Schule auf unterschiedlichen Ebenen in den gesamten Schullalltag integriert. In jeder Klasse bespricht ein Klassenrat aktuelle Probleme und Entwicklungen. In Arbeitskreisen diskutieren Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler gemeinsam über Themen wie gesunde Pause, Verwaltung, Umwelt oder Lernzeiten. Die Schülervertretung vermittelt selbstbewusst die Belange der Schülerinnen und Schüler. Vertrauen und Eigenständigkeit, Demokratie und Mitbestimmung lernen sie so ganz nebenbei.
"Moment mal", sagt Pia, 18, "Sie sind nicht dran." Rund 30 Schülerinnen und Schüler sitzen mit drei Lehrkräften in Raum 195 beim Treffen des Schülervertreter-Kernteams. Klassen-, Stufen-, Schülersprecher und Schüler aus den Arbeitskreisen diskutieren über Hausaufgabenkonzepte oder die kommenden Schülersprecher-Wahlen.
Die drei Lehrkräfte beraten sie. Pia, die Schülersprecherin, hat gerade eine Lehrerin unterbrochen. Was anderswo als Respektlosigkeit zählen würde, gehört hier zum demokratischen Prozess dazu. Auch Lehrkräfte müssen warten, bis sie dran sind. Als Nächstes stellt Pia die Ergebnisse des schulinternen Wettbewerbs vor. Zum 60-jährigen Geburtstag der Europäischen Union konnten alle Schülerinnen und Schüler ein Geburtstagsgeschenk abgeben. Mehr als hundert haben sich beteiligt. "Wir haben tolle Einreichungen bekommen", sagt Pia. "Kuchen, Postkarten, Briefe, Plakate und sogar Spiele." Eine Jury aus neun Schülerinnen und Schülern und vier Lehrkräften hat die Einreichungen bewertet. Die Erfinder der besten 50 machen einen Ausflug nach Brüssel.
Schülerinnen und Schüler sollten nicht nur Algebra, Goethe und Alkalimetalle kennen- lernen, sondern sich zu starken Persönlichkeiten entwickeln, sagt Christoph Becker. Die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler ist an der Europaschule Bornheim wichtig. "Angesichts der Millionen Menschen, die zurzeit vor Krieg und Terror auf der Flucht sind, ist mir klar geworden: Unserer Welt fehlt es nicht an noch mehr Wissen und Technik. Es fehlt uns an Empathie und Herz. Wir sind in der Lage, gestochen scharfe Bilder aus dem All zu senden. Aber wir scheitern bei Verhandlungen über eine friedliche Koexistenz."
Für die friedliche Koexistenz an der Europaschule sind die Streitschlichter zuständig. In einer halbjährigen Ausbildung werden pro Klasse zwei Schülerinnen und Schüler des 7. Jahrgangs ausgebildet. Mit dem Übergang zur 8. Klasse übernehmen je zwei Streitschlichter eine 5. Klasse. Wöchentlich fragen sie dort nach Streitigkeiten. Julian, 14, ist einer von ihnen. "Wir helfen ihnen, miteinander zurechtzukommen", sagt er. "Zuerst sollen beide ihre Sicht schildern und dann die Perspektive des anderen einnehmen." Nach dem Rollentausch kommen die meisten selbst auf die Lösung des Konflikts. Gemeinsam halten sie in einem Vertrag fest, wie sie sich in Zukunft verhalten wollen. "Ausreden lassen, zuhören und in die andere Position hineinversetzen. Wenn man das schafft, ist die Streitschlichtung erfolgreich", sagt Julian.
In der Europaschule unterstützen sich Schülerinnen und Schüler gegenseitig. Viele Konflikte können so ohne die Hilfe der Lehrkräfte oder Sozialpädagogen gelöst werden. Für Schulleiter Christoph Becker ist das zu einer Selbstverständlichkeit geworden. "Wir überlegen nicht, was die Schüler möglicherweise wollen. Wir fragen sie einfach danach", sagt er. Schülerinnen und Schüler reden auf allen Ebenen mit. In dem vierköpfigen Gremium, das über die Einstellung von neuen Lehrerinnen und Lehrern entscheidet, sitzt seit einigen Jahren immer eine volljährige Schülerin oder ein volljähriger Schüler. Den Pausenhof mit "Chill-Zonen", Hängematten und Bolzplatz haben Schülerinnen und Schüler entwickelt. In der Schulkonferenz sitzen neben sechs Lehrkräften auch jeweils sechs Eltern und sechs Schülervertreter. "Demokratie muss man schon in der Schule lernen", sagt Becker, "und weil Selektion und Demokratie nicht zusammenpassen, ist die Schule seit 2009 inklusiv." Einer, der den Bereich der Inklusion an der Schule vorantreibt, ist Philipp Michel. Der 34-Jährige hat Sport und Sonderpädagogik in Dortmund studiert. Aber er wollte nicht, dass nur die Lehrkräfte für die Inklusion zuständig sind. "Ich wollte auch die Schüler aktiv werden lassen." Also bot er Sonderpädagogik als Schulfach in der 12. Klasse an. Die Resonanz hat ihn überrascht. Im ersten Jahrgang haben sich 70 Schülerinnen und Schüler angemeldet. Aus einem geplanten Kurs musste er kurzerhand drei machen.
Gemeinsam entwickeln sie im Unterricht pädagogische Konzepte für behinderte und nicht behinderte Kinder. Die Schulleitung stellte Michel einen Raum zur Verfügung. "Wir haben ihn SamS-Raum genannt, Schüler arbeiten mit Schülern", sagt er. Betreut von älteren Schülern finden dort Anti-Aggressionstrainings statt. Schülerinnen und Schüler, die sich im Unterricht nicht konzentrieren können, dürfen im SamS-Raum weiter- arbeiten. "Außerdem bieten wir in unteren Klassen Konzentrationsübungen und Vertrauensspiele an", sagt Michel.
Im SamS-Raum sitzen Maya, Juliane, Lea, Lena und Luisa aus der 12. Stufe. Sie alle haben das Fach Sonderpädagogik belegt, aus unterschiedlichen Gründen. "Ich wollte wissen, wie ich mit behinderten Menschen umgehen soll, und weiß jetzt, dass ich einfach offen sein muss", sagt Lena. Juliane wollte nicht nur mathematische Funktionen lernen, sondern "etwas fürs Leben mitnehmen". Lea dagegen will nach dem Abitur auf Lehramt für Grundschule und Sonderpädagogik studieren. "Danach will ich in einer inklusiven Schule arbeiten."
Im Raum hängt ein Boxsack, in der Ecke steht ein Computer zur Recherche, in den Regalen Bücher und Spiele. Die Ausstattung hat die Schule bezahlt. Die Betreuung übernehmen Teilnehmer des Sonderpädagogik-Kurses. Es klopft. Drei Schülerinnen aus der Unterstufe kommen in den Raum. "Braucht ihr Hilfe?", fragt Juliane. "Wir haben uns Übungsaufgaben mitgebracht", antwortet eine, und die Gruppe setzt sich an einen Tisch. Konzentriert arbeiten sie an ihren Aufgaben. "Wenn sie Hilfe brauchen, werden sie sich schon melden", sagt Juliane.
Inklusion und Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler auf allen Ebenen an einer Gesamtschule - als Christoph Becker mit dieser Idee antrat, war der Anfang alles andere als einfach. "Die stärkere Beteiligung der Schülerschaft und die Wahl von Schülerinnen und Schülern in wichtige Gremien war für uns alle eine Umstellung und Herausforderung. Aber dann haben wir gemerkt: Das verbessert das System." Und wenn sich alle beteiligen, sei das auch eine Entlastung für die Lehrerinnen und Lehrer.
An der Europaschule in Bornheim klappt das. Vor kurzem wurde sie als "Schule ohne Rassismus" ausgezeichnet. Die Idee für die Bewerbung hatte eine Schülerin.
Plötzlich lugt ein Kind durchs Loch in der Mauer. Es schiebt einen Koffer, kriecht hindurch, schaut vorsichtig und still umher. Fünf Meter entfernt ein weiteres Loch und ein weiteres Kind – immer mehr schlüpfen heraus. Sie setzen sich in Grüppchen zusammen, packen aus und essen, manche spielen. Mit einem Male schauen alle nach vorn. Stehen auf, lassen alles liegen, fassen sich an den Händen und verlassen wie an einem Seil den Platz, der in Wirklichkeit eine Aula ist, hier bei der Theaterprobe der Grundschule Borchshöhe in Bremen.
"Großes Kompliment", ruft Regisseur Hans König, "diese Ruhe war phantastisch, und das schon bei der zweiten Probe!" König ist ein "Externer", er macht eigentlich Theater mit Erwachsenen, ist kein Pädagoge. Hier dirigiert er alle - sämtliche 240 Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer, auch die Reinigungskräfte und den Hausmeister. "Ein Stück Heimat" heißt das mit den Schülerinnen und Schülern entwickelte Stück, und es ist nicht einfach nur ein Schauspiel. Es ist eine Grundsäule des Schullebens. In allen Fächern dient das Thema "Heimat" als tragender Gestaltungsgedanke. Er meistert die Herausforderung, "anders zu lernen", weil sich die Theaterarbeit stark auf Leistung und Unterricht auswirkt, auf Schulklima und Verantwortung, auf den Umgang mit Vielfalt und kollegiale Lernprozesse. Wie ist das nur möglich?
Mit Kuschelpädagogik jedenfalls nicht. Kurz vorher hatte König zwei Jungs mit harschem Ton des Saals verwiesen, sie hatten sich wiederholt gekabbelt. Eher spinnt sich der rote Faden des Schultheaters durch das Vertrauen in das Selbstlernpotential der Schülerinnen und Schüler fort und durch die Verwandlung der Klassenzimmer in Lernhäuser nach skandinavischen Konzepten.
Seit 16 Jahren arbeitet man in der Grundschule Borchshöhe schon so. Im Lernhaus "Grün" zückt Swenja* nach der Probe einen Buntstift und schraffiert eine Tabelle im Heft "Unsere Schule", eine Datenerfassung über das Alter ihrer Mitschüler und aus welchen Nationalitäten sie sich zusammensetzen - ein Stück Heimatkunde in Mathematik. Das Lernhaus teilt sich in zwei Stufen. Links der Raum für die Jahrgänge eins bis drei, und durch eine Tür getrennt der Raum für die Jahrgänge drei bis sechs: Jeweils 20 Schülerinnen und Schüler gehen ihrer selbstgewählten "Lernarbeit" nach, die "Drittklässler" sind je nach Entwicklungsstand hüben und drüben. Sowieso wechseln alle munter. In Stufe eins lehrt Lisa Lohmann für alle Mathe und in Stufe zwei Isil Özel Deutsch. Uwe* zum Beispiel hat gerade die Checkliste zum Schreiben eines Briefes abgearbeitet. "Prima", sagt Özel, "dann kannst du ja die Multiplikationen weitermachen." Da steht schon Zweitklässlerin Eva* von drüben vor ihr, Silbentrennung will ihr einfach nicht gelingen. "Hör, wir klatschen gemeinsam: Mo-fa, So-fa", flüstert Özel. Beide Lehrerinnen meistern den Spagat, in ihrem Raum genau die Lernenden zu beobachten und auch ansprechbar für die Fragen von drüben zu sein. Entspannt sehen sie dabei aus.
Aus der Ecke blinzelt ein Porträt von Mutter und Kind von Paula Modersohn-Becker. Gegen Ende dieser Unterrichtsphase eilt Ahmad* zu den Toiletten. Heute ist er zuständig für den dreimaligen Check, ob alles in Ordnung ist. Fehlen Tücher oder Seife, informiert er das Personal. Man übernimmt Verantwortung füreinander.
Diese Grundschule Borchshöhe ist ein historischer Glücksfall. In den späten Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts erbaut, erstrecken sich die niedrigen Flure wie verglaste Kreuzgänge eines Klosters weitläufig von Anbau zu Anbau; diese lichtdurchflutete Lehrstätte ist natürlich gewachsen. In ihrer Nachbarschaft stehen mit Hecken bewehrte Einfamilienhäuser neben rotgebrannten Ziegeln des sozialen Wohnungsbaus aus den Siebzigern, die Gegend ist ein Abbild Deutschlands in all seinen Facetten.
45-Minuten-Takt und Schulglocke sind Vergangenheit. Multiprofessionelle Teams aus Lehrern, Erziehern und persönlichen Assistenzen begleiten die Schülerinnen und Schüler bei ihren individuellen Wochenplänen als echte Motivatoren. Gerade kommt das Team des Lernhauses "Türkis" zusammen. "Was machen wir mit Chris*?", ist die zentrale Frage. "Der rasselt derzeit mit jedem zusammen", sagt Erzieherin Sabrina Taucke. Er ist einer der beiden Rabauken, die gerade aus der Theaterprobe flogen. "Es wird für ihn schwierig, wenn er die Übersicht verliert", sagt Lehrerin Rena Rützel.
"Vielleicht könnte man ihn öfters begleiten, oft gibt es zum Beispiel auf den Laufwegen Stress", schlägt Referendarin Maara Dethleffsen-Wenzel vor. "Eigentlich ist er ein Kandidat für den Verstärkungsplan", meint Erzieherin Isabella Hubl. Ihre Nachbarin, die persönliche Assistenz Marlies Schwane, nickt. Chris* ist zwar keines von den Kindern mit Förderbedarf, um die sie sich kümmert. Er kommt aber aus einer krisengeschüttelten Familie. Die Eltern trennen sich, kommen wieder zusammen und trennen sich, die Mutter hat psychische Probleme. "Im Verhalten mit Gleichaltrigen hat er einfach Probleme", sagt sie. Der Verstärkungsplan würde seinen Tag genauer einteilen, Reflexionseinheiten schaffen. Die Zeit zum Miteinander-Reden nimmt man sich hier. Von den Lehrkräften verbringt eine Vollzeitkraft neben der Unterrichtszeit weitere 14 Stunden in der Woche an der Schule. Überhaupt dominiert der Teamgedanke an der Grundschule Borchshöhe. Das Lehrerzimmer heißt "Mitarbeiterraum", es finden sich mehrere Schreibtische und Computerarbeitsmöglichkeiten. Im Büro sitzt Rektorin Gunda Strudthoff ihrer Stellvertreterin Özel am selben Tisch gegenüber, Hierarchien wirken wie aufgelöst. "Ich selbst lehre hier seit 15 Jahren", sagt Strudthoff, "und seit drei Jahren bin ich Rektorin. Diese Schule hat schon einen weiten Weg zurückgelegt."
Aus Strudthoffs Büro im Erdgeschoss tritt man durch eine Terrassentür in den Schulgarten. Draußen trägt Jakob* ein paar Kartoffeln mit stiftlangen Keimen zu einem Beet. "Ich war hier mal Schüler", sagt der 19-Jährige, "und zwar ein ziemlich frecher. Habe mich viel geprügelt, aber dann sozial verbessert. Die Schule ist mir heimisch geworden." Er absolviert seit vergangenem Oktober einen Bundesfreiwilligendienst. Auch nach der 6. Klasse habe er immer wieder vorbeigeschaut, "alle sind so nett hier". Später wird Strudthoff, seine ehemalige Lehrerin, erzählen, wie man ihn damals zwischen 7:45 Uhr und 8:15 Uhr in der Aula Fußball spielen ließ, dann sei er ruhiger im Unterricht gewesen.
Es geht auf Mittag zu. Während die Schülerinnen und Schüler zum Essen eilen, übt ein Dutzend in der Aula "Ein Stück Heimat"; den Vormittag über hat Regisseur König Gruppen nacheinander in der Aula proben lassen. "Bitte lauter", ruft er acht Schülerinnen und Schülern in Feldbetten auf der Bühne zu, "ich weiß, dass ihr das könnt - wie auf dem Schulhof!" Nebenan lärmt es in der Kantine. Da tritt Gloria* vor. "Vor vielen Jahren, da bin ich auch aus einem fernen Land gekommen", sagt sie und wendet sich an die Kinder hinter ihr. "Alles war mir neu und fremd. Wie es ist, wenn man beginnt zu begreifen, dass nichts mehr ist, wie es war. Und es ist schwer, etwas loszulassen, das man lieb hat." Dann ist es still. Selbst den Krach aus der Kantine hört man für einen langen Moment nicht mehr.
* alle Schülernamen von der Redaktion geändert
Gedämpftes Murmeln, Englischunterricht in der Klasse 8e. Jan*, 14, wischt über den Bildschirm seines Tablets, öffnet ein Video über Filmprojektoren. Prüfend betrachtet er noch einmal den Beitrag für den Schulwettbewerb "Technikentdecker". Die halbe Klasse hat daran mitgewirkt. Dennis* hat die Animationen gemacht und moderiert: Routiniert erklärt er die Technik, blickt dabei fest in die Kamera. Doch mit dem Ergebnis ist er noch nicht zufrieden. "Das Bild wackelt zu stark", urteilt er.
Während Jan* mit seinem Sitznachbarn im Schnittprogramm am Feinschliff arbeitet, entwickeln seine Mitschüler auf ihren Tablets eigene Lern-Apps: Knobelspiele und Quizfragen zum Thema New England, Karten, auf denen die Schülerinnen und Schüler Staaten zuordnen müssen. Die Einheiten laden sie auf ein Onlineportal hoch, ihr "digitales Klassenzimmer". Jeder löst die Aufgaben des anderen. Jeder in seinem Lerntempo. Die 8e ist eine von zwei Tablet-Klassen am Gymnasium Kirchheim bei München. »Individuelles und eigenverantwortliches Arbeiten in verschiedenen Schwierigkeitsstufen ist auf diese Art leichter umsetzbar«, sagt Bernd Lemanczyk, Englischlehrer und Klassenleiter. Er kann auf mehr Unterrichtsmaterial in allen Schwierigkeitsgraden zugreifen. Und die Schultaschen sind leichter.
Die Schülerinnen und Schüler der Parallelklasse wischen derweil nicht über Monitore, sondern sitzen in Grüppchen zusammen und würfeln. Max* und Tim*, beide 14, haben ein Brettspiel erfunden. "Am Anfang war es komisch, während des Projekts alles auf Englisch zu diskutieren", sagt Max* und erklärt die Regeln: "Ein Schmuggler hat Gold gestohlen - und muss das Ende von Cornwall erreichen." Auf farbigen Feldern mit Aktionskarten üben sie die Grammatik und Vokabeln, passend zu den Lektionen im Englischbuch.
In der Pause drängen sich 1.200 Schülerinnen und Schüler auf den Gängen, sitzen an der Fensterfront und packen Brote aus. Das Schulgebäude, gut 30 Jahre alt, liegt im Grünen, doch nur nach außen ist es ein Idyll. Die Heizung ist kaputt, das Haus für die steigenden Schülerzahlen zu klein. Demnächst soll neu gebaut werden. Auf den ersten Blick ist das GyKi, ein typisch bayrisches Gymnasium, leistungs- und erfolgsorientiert. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich das besondere Konzept: Die Türen zu Lehrerzimmer und Rektorat stehen immer offen. Die Schule kümmert sich um alle Schülerinnen und Schüler, gemäß dem Motto, das auf Plakaten mit Regenbogenherzen im Schulhaus hängt: "Vielfalt leben. Vielfalt lieben."
Kirchheim bei München liegt im Speckgürtel der Landeshauptstadt, rund 13.000 Einwohner, ländlich geprägt. "Veränderte Familienstrukturen, Arbeitslosigkeit, das alles macht vor uns nicht Halt", sagt Lilly Nürnberger, stellvertretende Schulleiterin. Am Morgen, vor Unterrichtsbeginn, hatte sie ein intensives Gespräch mit einem Schüler und seinen Eltern. Die stecken gerade in der Trennungsphase – die Konflikte zu Hause machen sich bei seinen Leistungen bemerkbar.
Ein Fall für das "soziale Netzwerk": Jeden Mittwoch setzt sich Nürnberger mit den Jugendsozialarbeitern, Beratungs- und Verbindungslehrern und den zwei Schulpsychologinnen zusammen. Welche Schülerin, welcher Schüler fiel auf? Wie entwickeln sich unsere Inklusionskinder? "Über Lars* haben wir schon seit Wochen nicht mehr gesprochen ", stellen sie fest. Ein gutes Zeichen.
Der Schüler mit Asperger-Syndrom geht mittlerweile in die 9. Klasse. Im Chemiesaal experimentiert er mit Laugen und Säuren. Lars* hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und spült am Waschbecken sein Reagenzglas. "Früher ist er manchmal ausgetickt. Das hat sich total gebessert", sagt eine Mitschülerin. Mit einer Pipette träufelt sie Klarreiniger zum Geschirrspülpulver, prüft dann den pH-Wert. Nebenan rechnet die andere Hälfte der Klasse. Geteilte Übung heißt das Konzept. Nach einer Stunde tauschen sie die Räume. Barbara Wolf unterrichtet Chemie, Kollege Franz Huber Physik. Eine Doppelstunde, zwei Lehrer: ein Luxus, der sich lohnt. Beide können so besser auf schwächere Schülerinnen und Schüler eingehen.
In der 9. Klasse erleben viele der Schülerinnen und Schüler eine kleine Tiefphase, beobachten Lehrer oft. Auch Lia*. Sie hat das Jahr wiederholt, stand erneut auf der Kippe. "Ich hatte Probleme in Chemie, in Französisch und Mathe. Das liegt auch an meiner Faulheit." Sie grinst. "Anfangs war ich motiviert. Dann hat es wieder nicht geklappt." Ihre Klassenleiter schlugen ihr vor, sich mit einem Motivationsschreiben beim Lerncoaching "2gether" zu bewerben. 30 Mentoren betreuen dabei je eine Schülerin oder einen Schüler. Ein Jahr lang trafen sich Lehrerin Verena Pecho und Lia* jede Woche in der Pause, um Zeitpläne zu entwerfen und kleine Ziele zu setzen. Pecho ermutigte sie immer wieder zum Lernen. So hat die 17-Jährige den "Quali", den Mittelschulabschluss, mit einer glatten Zwei bestanden und die Versetzung geschafft. "Ich war total glücklich und habe gemerkt: Es geht doch." Dass sich ihre Lehrerin so intensiv um sie gekümmert hat, hat sie bestärkt, sagt Lia* heute. Jetzt, in der 10. Klasse, sind ihre Noten besser, in zwei Jahren will sie das Abi machen. Falls Lia* wieder Hilfe braucht, kann sie sich jederzeit bei ihrer Mentorin melden. Und auch Verena Pecho hat dazugelernt: "Ich kann nun besser einschätzen, woran es bei manchen hakt: etwa an der Selbstorganisation."
Angst vor schulischem Misserfolg, das ist eines der Kernprobleme, mit dem die Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler nicht alleinlassen wollen. Alle mitnehmen, das heißt auch gemeinsam Konzepte zu entwickeln, sagt Lilly Nürnberger. Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte, die "GyKi-Schulfamilie", erarbeiten in Konferenzen gemeinsam Lösungen: Beispielsweise lernen schon Fünftklässler mit Hilfe von Entspannungsübungen, ihren Stress zu verringern. Es gibt Intensivierungsstunden, freiwillige Extraeinheiten vor Prüfungen. Und Lernkontrollbögen, auf denen die Schülerinnen und Schüler sich selbst einschätzen und abhaken: Was kann ich schon vom Stoff, wo hapert es?
Jeder Einzelne soll glänzen - in mindestens einem Bereich. Allen Schülerinnen und Schülern ein Angebot zu machen, damit sie auch außerhalb des Unterrichts Stärken entdecken, wünscht sich Lilly Nürnberger. Im Computerzimmer basteln Schülerinnen und Schüler an Robotern, eine Tür weiter treffen sich die Redaktion der Schülerzeitung und die Schach-AG. "Bei so einer großen Schule ist es wichtig, den Einzelnen mitzunehmen - und vor allem zu sehen. Für die Schwächeren machen wir seit langem schon sehr viel. Bei der Förderung der Stärkeren", glaubt sie, "ist noch Luft nach oben. Da arbeiten wir an weiteren Konzepten."
Beispielsweise für Schüler wie André* und Torben*. Am Wahlkurs-Nachmittag tüfteln sie an Ideen für "Jugend forscht". Für ihr letztes Projekt, "Magnetschuhe - Anziehung im All(-tag)", gab es einen Sonderpreis. Stolz zeigen sie ihr Plakat, das nun im Flur hängt. Im Unterricht fühlen sich die beiden Jungs manchmal zu wenig gefordert. "Vor allem in Bio." Seit diesem Schuljahr besuchen die beiden die Universität in München. Mit ihren 14 Jahren sind sie die jüngsten Studenten, als Teilnehmer eines Schülerprogramms für Begabte. Im Biounterricht sind sie den Klassenkameraden nun oft einen Schritt voraus. Dafür können sie andere unterstützen. Auch das gehört am GyKi dazu: jeder lernt von jedem.
* alle Schülernamen von der Redaktion geändert
Durch die Eingangstür der Waldparkschule in Heidelberg schlurft ein Junge, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. "Tim*, he Tim*", ruft Schulleiter Thilo Engelhardt. "Wenn man reinkommt, nimmt man die Kapuze ab." Ordnung, Struktur und Regeln sind wichtig in dieser Schule. Dazu gehört eine Kleiderordnung und dass keiner ohne Aufsicht durch die Flure streift.
Engelhardt steht in der Aula, die sich kurz vor acht mit Leben füllt. Sie ist das Herz der Schule. Hier sammeln sich die Kinder vor Unterrichtsbeginn an Tischen, die wie kleine Inseln über die Halle verstreut sind. Eine Gruppe Zweitklässlerinnen wartet schnatternd auf den Lehrer, der sie zum Klassenzimmer eskortieren wird. Die älteren Schülerinnen und Schüler haben einen flexiblen Beginn, sie können die Zeit bis halb neun für Nacharbeit nutzen - oder fürs Coaching.
Dorthin ist Amira*, ein Tuch mit glitzerndem Strass um den Kopf geschlungen, unterwegs. An einem der Tische wartet ihre Lehrerin auf sie. "Wie war dein Wochenende?", fragt Liliana Gassi-Betsch, während die 14-Jährige verschiedene Ordner aus ihrer Tasche zieht. Gassi-Betsch studiert die Arbeiten ihrer Schülerin aus der Siebten. "Bei den Vokabeln in Englisch wirst du immer besser", lobt sie. "Ich habe auch sehr viel geübt", erwidert Amira* stolz. Alle zwei Wochen spricht sie mit der Lehrerin über ihre Leistungen. Gemeinsam überlegen sie, was besser laufen könnte. Das individuelle Coaching, das jeder Schülerin und jedem Schüler zusteht, soll beim Lernen unterstützen und gleichzeitig motivieren. "Ich freue mich immer richtig auf das Feedback", sagt das Mädchen. Amira* sei regelrecht aufgeblüht, seit sie auf diese Schule gewechselt ist, sagt Rektor Engelhardt. "Wir geben viele Anregungen, wie Schüler selbständig arbeiten können, aber wenn es nicht funktioniert, ist gleich eine Rückmeldung da."
Schon auf den ersten Blick wird die Waldparkschule ihrem Namen gerecht. Sie liegt abseits des Heidelberger Stadtkerns auf dem Boxberg. In den Wipfeln ringsum zwitschern Vögel, die Straßen der Umgebung heißen Haselnussweg, Im Eichwald und Buchwaldweg. Doch nirgendwo im Stadtgebiet leben mehr alleinerziehende Mütter. Das benachbarte Emmertsgrund gehört zu den sozialen Brennpunkten. Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler hat einen Migrationshintergrund, viele stammen aus sozial schwachen Familien. Wer es vermeiden konnte, schickte sein Kind nicht hinauf auf den Berg. Zuletzt besuchten nur noch knapp 200 Kinder die Schule, ganze Gebäudeteile waren verwaist.
"Die Leute stellten sich vor, dass hier jeder rappt und nachts die Mülltonnen brennen", sagt Engelhardt. Die Schule war verschrien und stand vor der Schließung. Aufwärts geht es, seitdem sie 2013 zu einer Gemeinschaftsschule wurde. Inzwischen hat sich die Schülerzahl mehr als verdoppelt, und am Tag der offenen Tür fragen selbst Eltern aus dem Tal, ob sie noch einen Platz für den Nachwuchs bekommen. Gelungen ist der Imagewandel, weil das Kollegium den Unterricht komplett umgekrempelt hat. Es sprach sich schnell herum, dass jedes Kind individuell gefördert wird und dass es auch Projekte außerhalb des täglichen Schulbetriebs gibt, zum Beispiel mit dem Kunstverein und Theater. Die Lehrkräfte schwärmten aus, um sich andernorts Anregungen zu holen. Noch immer wird viel ausprobiert und bewertet, verbessert oder fallengelassen. "Das ist eine gallische Dorfmentalität, wir ziehen unser eigenes Ding durch", sagt Engelhardt. Chaos wird mit strukturierten Abläufen begegnet. Einer der ersten Schritte, um Ruhe in die Klassen zu bringen: Sie zerrten die Tische auseinander.
Heute haben alle Schülerinnen und Schüler eine Art kleines Büro: ein einzeln stehender Tisch, abgeschirmt vom Nachbarn durch ein kopfhohes Regal für Bücher und Unterlagen. Amira* hat sich nach dem Coaching inzwischen an ihrem Tisch über einen Text gebeugt, bei dem sie deutsche Personalpronomen bestimmen soll. Hanna* gegenüber knobelt an der Berechnung eines Kreisdurchmessers, Max* brütet über Englischvokabeln. Ein Schild an der Tür verkündet, dass Lernzeit ist: "Bitte nicht stören! Falls doch: Bitte flüstern!" Zwei Schulstunden am Tag bearbeiten die Schülerinnen und Schüler Aufgaben aus den Hauptfächern, im eigenen Tempo und auf verschiedenen Niveaustufen.
"Hier gefällt es mir besser als auf meiner alten Schule", sagt Amira*. "Wenn ein Lehrer vorne steht und man immer nur zuhören muss, vergeht einem schnell die Lust." Montags plant sie die Freiarbeit in ihrem Lerntagebuch. Dabei muss sie einschätzen, wie weit sie mit ihrem Pensum an einem Tag kommt. Später hakt sie ab, was sie geschafft hat, und bewertet sich selbst mit ein bis drei lachenden Gesichtern. "Für die letzte Woche würde ich mir im Schnitt zwei Smileys geben." Der Planer dient ihr, aber auch den Lerncoachs und Eltern zur Leistungskontrolle. Sie müssen regelmäßig unterschreiben. Weil während der Lernzeit immer irgendwo getuschelt wird, versuchen die Lehrer, den Geräuschpegel zu senken, indem sie die Klasse aufteilen. Während Amira* in ihrem Mini-Büro arbeitet, haben sich Mitschüler in den Raum für Gruppenarbeit zurückgezogen.
Vier Mädchen haben den Ausweis für die Aula ergattert, der ihnen erlaubt, dort zu lernen. Wie an ihrer Schule unterrichtet wird, finden sie gut. "Die Lernpakete sind extra so gemacht, dass jeder in seinem Tempo lernen kann", sagt Sophie*. "Wenn wir Hilfe brauchen, können wir ja fragen", meint Leonie*. Nur eines findet sie manchmal doof: Es gibt keine Noten. "Manchmal würde das helfen, sich besser einzuschätzen."
An der Waldparkschule bleibt niemand sitzen, keiner fällt durch eine Prüfung. Anstelle von Noten gibt es schriftliche Beurteilungen. "Ich glaube nicht, dass die Schüler einen Nachteil haben, weil Noten und Leistungsdruck fehlen", sagt Steffi Groh. Die Vorsitzende des Elternbeirats hat einen Sohn in der 7. Klasse. Ursprünglich wollte sie ihn auf die Realschule schicken, doch das Konzept der Gemeinschaftsschule gefiel ihr besser. "Die Lehrer kümmern sich um jedes Kind, der Austausch funktioniert prima."
Die Schulglocke hat die Mädchen schon aus der Aula getrieben, als Louis*, Finn* und Justin* ihre Runde antreten. Sie sind mit langen Greifzangen bewaffnet und stromern damit durch die Halle, klauben Bonbonpapiere, Plastikfetzen, Brotstückchen auf. "He, da liegt noch überall was", ruft Justin*, als Louis* in Richtung Tür strebt, um sich den Schulhof vorzunehmen. Müllsammeln ist keine Strafe, sondern eine Aufgabe, die alle Schülerinnen und Schüler regelmäßig übernehmen. Genauso gibt es in jeder Klasse einen Tafeldienst, jemanden, der die Pflanzen gießt, das Klassenzimmer fegt oder regelmäßig lüftet. In einem Klassenrat versuchen sie, Probleme selbst zu lösen. Die Lehrkräfte greifen höchstens als Moderatoren ein. Amira* lässt sich gerade zur Streitschlichterin ausbilden. Auch das ist Teil des Konzepts. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Jeder wird als Teil der Schule wahrgenommen und jeder sieht sich als Teil der Schule - das trägt dazu bei, dass Harmonie und nicht mehr Aggression den Umgang bestimmt.
"Wir vermitteln vielleicht etwas weniger Stoff als andere Schulen", sagt Schulleiter Engelhardt. "Dafür vertiefen wir mehr und erziehen zum selbständigen Denken und Arbeiten."
* alle Schülernamen von der Redaktion geändert
Die Schulleiterin räumt kurzerhand ihr Büro. Auf dem Besprechungstisch stehen Mineralwasser, Kaffee und Schokolade. "Nehmen Sie sich, bitte", sagt sie. Dann legt sie den Telefonhörer neben den Apparat - "sonst klingelt es hier die ganze Zeit und stört", sagt sie, bevor sie die Tür hinter ihrem Büro zuzieht und sie dieses ihren Schülerinnen und Schülern überlässt. So als sei das völlig selbstverständlich. Dabei hätten sich die sechs auch in einen Klassenraum setzen können, es ist schließlich nach Unterrichtsschluss und die Schule leert sich. Sie sind gekommen, um der Besucherin zu erklären, warum ihre Schule, die Elisabeth-Selbert-Schule (ESS), eine berufsbildende Schule in Hameln, den Deutschen Schulpreis verdient hat. Nach kurzem Überlegen reden sie los - und hören gar nicht wieder auf.
"Die pädagogischen Grundwerte der Lehrer machen diese Schule besonders", sagt Hasan, 21. Er geht in die Sozialassistenz-Klasse und will sein Fachabitur machen. "Hier wird jeder so akzeptiert, wie er ist - egal, woher er kommt." An seiner alten Schule habe sein Lehrer ihn in die Schublade "kleinkrimineller Ausländer" gesteckt und Hasan aufgefordert, er solle seine Mimik ändern. Hasan ist ein großer, ernsthafter junger Mann, er will mit Jugendlichen arbeiten und Menschen helfen. Für Isabelle, 20, angehende Ergotherapeutin, ist es die Vielfältigkeit in ihrer Klasse und an der Schule, die die ESS preiswürdig macht. An ihrer alten Schule habe die sich blöde Sprüche anhören müssen, weil sie etwas korpulenter ist. Auch Giulia, 25, die eine Ausbildung zur Pflegeassistentin macht, kennt Mobbing. Hier sei das, so versichern die Schülerinnen, kein Thema. "Obwohl wir an drei unterschiedlichen Standorten zur Schule gehen", sagt Isabelle, "herrscht ein großes Wir-Gefühl. Dafür sorgen unsere Lehrer." Weihnachten, zum Beispiel, seien alle zusammen in der Kirche gewesen, den Gottesdienst hätten die Lehrerinnen und Lehrer gestaltet, die Schülerband habe gespielt und Frau Grimme habe gesprochen.
Gisela Grimme, immer wieder fällt ihr Name im Laufe des Gesprächs. Sie ist seit 22 Jahren Schulleiterin der Elisabeth-Selbert-Schule, bei ihr laufen alle Fäden der großen und vielfältigen Schule zusammen. "Sie kennt uns alle", sagt Belana, 17. "Ich frage mich, wie sie die ganzen Namen behalten kann - wir sind doch so viele!", staunt sie. Die anderen nicken. 1.980 Schülerinnen und Schüler aus 34 Nationen werden an der berufsbildenden Schule in Hameln in den Bereiche Agrarwirtschaft, Gesundheit und Pflege, Hauswirtschaft und Ernährung, Sozialpädagogik sowie Körperpflege unterrichtet. Sie können alle Abschlüsse machen: vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur. Belana geht auf das berufliche Gymnasium der ESS. "Frau Grimme kommt häufig an den Standorten vorbei, schaut bei uns im Unterricht rein", erzählt Isabelle. "Die Lehrer setzen sich ein, damit wir einen guten Abschluss machen und gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben", sagt sie. Belana schätzt vor allem, dass die Lehrerinnen und Lehrer ihr auf Augenhöhe begegnen: "Sie sind an uns Schülern als Menschen interessiert und stellen sich nicht über uns", sagt sie. "Die Lehrer vertrauen uns total. Wir dürfen die Handys benutzen, um im Unterricht zu recherchieren. An anderen Schulen sind sie da viel strenger. Aber tatsächlich machen die Schüler damit hier kaum Quatsch - weil man uns vertraut.
"Im Matheunterricht der angehenden Pflegekräfte im zweiten Schuljahr, die sich auf ihren Realschulabschluss vorbereiten, dürfen die Schülerinnen und Schüler Spickzettel für die Arbeit schreiben: Karteikarten, die von der Lehrerin Barbara Bremert für die Klausur auf das Pult geklebt werden. Was sie darauf notieren, entscheiden sie. "Habe ich von allen einen Spicker für morgen?", fragt die stellvertretende Schulleiterin am Ende der Stunde. Sie sammelt die Kärtchen ein. "Manche meiner Schüler bringen so viel Angst von anderen Schulen mit - da beruhigt so ein kleiner Spickzettel und gibt Sicherheit. Und in Deutsch dürfen sie ja auch einen Duden benutzen", erklärt sie. Für Vertrauen sorgen auch die farbigen Übungszettel: Wer den blauen schafft, ist auf der sicheren Seite – er oder sie bekommt für die Lösungen mindestens eine Vier. Trotzdem fasst sich nach der Stunde ein Schüler ein Herz und spricht Barbara Bremert an: "Ich werde morgen nicht mitschreiben, ich kann das nicht. Ich bin sicher: Ich bekomme eine Sechs." Barbara Bremert reagiert gelassen: "Was kann ich tun, damit Sie es trotzdem versuchen?" Nach einem kurzen Gespräch kann sie ihn so weit beruhigen, dass er sich den blauen Zettel ansehen, die Übungen im Intranet durchgehen und morgen die Arbeit mitschreiben wird. "Ich glaube, Sie schaffen das", macht sie ihm Mut.
Für schwache Schülerinnen und Schüler gibt es ein individuelles Förderkonzept. In allen Klassenräumen hängen an den Pinnwänden Streifen wie bei privaten Annoncen oder Inseraten an Laternen auf der Straße. Auf den Papierstreifen stellt sich das Beratungsteam der Berufsschule vor: die Schulpastorin, der Schuldiakon, Beratungslehrerinnen und ein Schulsozialarbeiter - alle mit Handynummer. Für jedes Problem wird nach einer unkomplizierten Lösung gesucht, egal ob für minderjährige Mütter oder für Geflüchtete. Hier bekommt jeder nicht nur eine zweite, sondern notfalls auch noch eine dritte oder vierte Chance. Durch das dichte Geflecht von Förderung und Fürsorge entwickeln sich an der ESS Schülerbiografien, die an anderen Schulen kaum jemand für möglich hielt. Das hat sich auch bei den Ausbildungsbetrieben in Hameln und Umgebung herumgesprochen. "Wer von hier kommt, der kann auch was", erklärte ein Innungsmeister dem Team des Deutschen Schulpreises beim Besuch im Januar 2017.
"Früher war ich eine Vierer-Schülerin, jetzt stehe ich auf Zwei", erzählt Melinda, 19, im Zimmer der Direktorin, "weil die Lehrer hier zu mir gesagt haben: Du kannst doch mehr. Diese Entwicklung habe ich ihnen zu verdanken." Nach ihrem Fachabitur an der Fachschule Sozialpädagogik würde sie gern Wirtschaftspsychologie studieren. Statt Klausuren zu schreiben, dürften die Schülerinnen und Schüler auch Referate halten oder Videos erarbeiten, erzählt ihre Mitschülerin Cansu. Und Belana bestätigt: "Wir dürfen mitbestimmen, wie und was wir lernen wollen." Statt in Religion weiter in der Bibel zu lesen, hat ihre Klasse am beruflichen Gymnasium lieber eine Umfrage über die Rollen von Mann und Frau in verschiedenen Kulturen gemacht und ausgewertet. "Das haben wir absolut demokratisch entschieden - und unsere Lehrerin hat uns machen lassen."
In der Abteilung Sozialpädagogik werden die jungen Erwachsenen durch die Arbeit am Daltonplan systematisch beim selbständigen Lernen gefördert. Das Konzept der amerikanischen Reformpädagogin Helen Parkhurst wurde an der Berufsschule in Hameln vor fünf Jahren eingeführt. Während der sogenannten Daltonstunden, immer montags, dienstags, donnerstags und freitags in der 5. und 6. Stunde, entscheiden die Schülerinnen und Schüler, an welcher Aufgabe sie arbeiten, mit wem, allein oder in der Gruppe, bei welcher Lehrkraft und in welchem Raum. Ihre Lernerfolge dokumentieren sie in Arbeitstagebüchern. In jeder Klasse gibt es einen Daltonbeauftragten: Der Schüler oder die Schülerin arbeitet gemeinsam mit zwei Lehrkräften daran, das Konzept weiter zu verbessern. Inzwischen ist die Schule so versiert, dass sie von Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland um Rat gefragt wird. Gerade waren Gäste aus Österreich zu Besuch.
Eine zentrale Rolle spielen die Projekte, die Schule und Beruf verbinden. "Schule muss raus aus dem Elfenbeinturm und das echte. Leben in die Schule holen", sagt Schulleiterin Gisela Grimme. Am Standort Thibautstraße, am Stadtrand von Hameln gelegen, betreiben Schülerinnen und Schüler den "Kiosk" und sorgen für eine gesunde Verpflegung von täglich rund 400 Mitschülerinnen und Mitschülern. Selbständig regeln sie den Verkauf, überprüfen den Bestand und die Dekoration des Bistros. Kaffeeduft liegt in der Luft. Morgens kurz nach acht Uhr, in gelben T-Shirts, roten Schürzen und Basecaps nicht zu übersehen, macht sich das Team daran, Brötchen großzügig mit Tomate und Mozzarella zu belegen. "Das ist eine super Erfahrung", sagt Serkan, 20. "Am Anfang war ich nicht so das Genie an der Kasse - aber man lernt dazu." Der Umsatz im "Kiosk" beträgt immerhin 28.000 Euro pro Schuljahr. Für das Projekt "Produktion" stellen Schülerinnen und Schüler im fachpraktischen Unterricht Marmelade, Kekse, Vanillezucker oder auch Kräuteröle selbst her und verkaufen sie im Internet oder beim Weihnachtsbasar. Viele der verwendeten Lebensmittel wachsen im Schulgarten, so dass sich die Lernenden vom Anbau über die Ernte, Verarbeitung und Lagerung bis hin zum Verkauf mit ihren Produkten identifizieren.
Regelmäßig werden die Schülerinnen und Schüler zum Unterricht befragt. Dabei wollen die Lehrkräfte zum Beispiel wissen, ob eine klare Struktur im Unterricht erkennbar ist oder ob sich die Schülerinnen und Schüler gerecht beurteilt fühlen. Das Feedback ist freiwillig und anonym. 68 Prozent sagen: "Ich lerne viel im Unterricht." Und 87 Prozent respektieren ihre Lehrerinnen und Lehrer. "Die Lehrer sollten schon wissen, was wir von ihnen und ihrem Unterricht halten", sagt Cansu, "sie bewerten uns ja schließlich auch." Aus den Ergebnissen der Umfrage erarbeiten die Lehrkräfte gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Maßnahmen zur Verbesserung ihres Unterrichts. Auch die 172 Lehrkräfte evaluieren ihre Arbeit und das Kollegium. 2016 sagten 81 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer: "Ich bin mit dem Arbeitsklima in meinem Lehrerteam zufrieden."
"Neben der pädagogischen Haltung der Lehrkräfte hat die Schulpreis-Jury vor allem die multiprofessionelle Teamarbeit und die konsequente Schulentwicklung beeindruckt: Seit 20 Jahren entwickeln die Lehrkräfte systematisch Unterricht und Schule weiter. Jeder kann daran mitarbeiten - selbstverständlich auch Schülerinnen und Schüler. "An das Leitbild hält sich doch so, wie es da jetzt steht, eh niemand", meinte Hasan zu einer Lehrerin. Prompt wurde er aufgefordert, an der neuen Fassung mitzuarbeiten. Die monatlich tagende Steuergruppe zur Unterrichtsentwicklung hat ein Konzept für kollegiale Hospitationen der Lehrkräfte untereinander erarbeitet und organisiert Fortbildungen. Als Nächstes steht ein Medienkonzept auf der Agenda. Jeder Bildungsgang hat seinen didaktischen Jahresplan mit zeitlichen Abläufen der Lerninhalte und Lernsituationen, Praxisphasen und Veranstaltungen entwickelt. Ihren Unterricht bereiten die Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam vor - das entlastet nicht nur, sondern macht auch die Vertretung viel einfacher. Die Schule setzt sich Ziele und prüft, ob sie diese auch erreicht: Mit Hilfe der internen Datenerhebungen und der Vorgaben des Kultusministeriums (z.B. zur Abschlussquote der Schülerinnen und Schüler) werden Kennzahlen für das Qualitätsmanagement entwickelt.
Fünfmal hat sich die Schule beim Deutschen Schulpreis beworben und die Rückmeldungen der Jury systematisch genutzt, um an der Bewerbung zu feilen. "Vieles, was andere preiswürdige Schulen machen, tun wir längst: Arbeit in Projekten, fächerübergreifendes und individualisiertes Lernen", sagt Schulleiterin Gisela Grimme selbstbewusst. Die Schulpreis-Jury bescheinigt der Elisabeth-Selbert-Schule in allen sechs Qualitätsbereichen herausragende Ergebnisse - vor allem aber beim Umgang mit Vielfalt und im Qualitätsbereich Schulleben. Neben inhaftierten Jugendlichen werden auch 124 Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrung in Sprachförderklassen unterrichtet und in den Schulalltag integriert.
Bei der Gesprächsrunde im Zimmer der Direktorin zählt Cansu noch einen weiteren Pluspunkt der ESS auf: "Mir gefällt total gut, dass wir eine Europaschule sind. Im Oktober war ich in Portugal", sagt sie. Jeder, der will, kann ins Ausland gehen: Es gibt Austauschprogramme mit Polen, der Türkei, den Niederlanden, Frankreich, Portugal, Spanien, Finnland, Norwegen, Dänemark, Ungarn, Kroatien, Tschechien, Großbritannien und Österreich. Für viele Schülerinnen und Schüler ist es die erste Auslandsreise überhaupt. "Guten Abend, Frau Kessler, ich wollte Sie nur wissen lassen, dass ich mich hier pudelwohl fühle. Ich kann Ihnen kaum genug danken, dass Sie dies ermöglichen konnten. Die Zeit, die ich hier verbracht habe, war sehr schön, anstrengend und lehrreich. (…) Im Großen und Ganzen werde ich hieran wachsen, und das habe ich nur Ihnen zu verdanken. Mit besten Grüßen von der See", schreibt ein angehender Erzieher sonntagabends in einer SMS an seine Lehrerin. Und dann schickt er ihr noch einen breit lachenden Smiley hinterher.
Während Anna* aus der 6d in Mathe komplizierte Brüche löst, rechnet ihre Klassenkameradin Pia einfache Additionsaufgaben aus ihrem Indianerheft. So heißen an der Matthias-Claudius-Schule Bochum die Rechenhefte für die Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf. In der 6d haben sechs der 27 Schüler ein Indianerheft. Für die Kinder und Jugendlichen ist es Alltag, dass einige von ihnen schwierige Aufgaben lösen, während andere etwas leichtere wählen oder im Indianerheft rechnen. Wichtig ist, dass sie alle in einer Klasse sind und gemeinsam lernen. Stefan Osthoff, Klassenlehrer der 6d und Didaktischer Leiter der Schule, sagt es so: "Jeder Mensch ist ein von Gott geliebtes Geschöpf und gleich wertvoll." Dies sei die Haltung, mit der sie Unterricht machten. "Wir erwarten diese Einstellung von allen Lehrern, aber auch von den Schülern und den Eltern."
Die Matthias-Claudius-Schule ist eine inklusive und christliche Schule in freier Trägerschaft. Im Jahr 1990 wurde sie von Eltern gegründet. In einem modernen Flachbau untergebracht, befindet sich die Schule mitten in einem Wohngebiet im Stadtteil Weitmar. Weitmar gehört zu den fünf Bochumer Stadtteilen, in denen es gut läuft, weil die Sozialdaten stimmen. Es gibt dort zum Beispiel wenig Arbeitslose. Eltern, die es sich leisten können, müssen etwa 150 Euro Schulgeld im Monat bezahlen. Für viele andere ist der Besuch der Matthias-Claudius-Schule aber kostenfrei.
"Wir haben von Anfang an Kinder mit Förderbedarf aufgenommen", sagt Osthoff. Allerdings seien die Förderschüler meist in Extragruppen unterrichtet worden. "Pia zum Beispiel hätte damals in Deutsch oder Mathe nicht mit ihren Klassenkameraden zusammen gelernt, sondern in einem anderen Raum." Vor sieben Jahren beschloss das Kollegium, es anders zu machen. "Wir wollten mehr Inklusion und mehr individuelle Förderung", sagt Osthoff.
Für die Fünft- bis Zehntklässler wurden Lernbüros eingeführt.In den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch gibt es keinen Frontalunterricht mehr. Die Schülerinnen und Schüler wählen sich ihre Aufgaben selbst aus und legen fest, in welcher Zeit sie was schaffen wollen. Die Lehrkräfte sind Lernbegleiter. Sie unterstützen die Schülerinnen und Schüler, wenn es nötig ist, und fördern sie so, wie sie es brauchen. Zur Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler gehört auch, dass sie umfangreiche Mitbestimmungsrechte haben. Sie entscheiden etwa mit, welche Lehrbücher angeschafft werden sollen.
Die Mathematikstunde in der 6 d läuft jetzt seit 20 Minuten. Pia, Anna und die anderen haben sich ihre Aufgaben aus einer großen Holzkiste genommen, die in der Mitte des Raumes steht. Anna ist schon fertig. Nun kümmert sie sich um Martin, der seine Divisionsaufgabe nicht lösen kann. Der Mathelehrer geht von Tisch zu Tisch und hilft denen, die eine Wäscheklammer mit ihrem Namen an einer Schnur neben der Tafel angebracht haben – in allen Lernbüros das Zeichen dafür, dass man Unterstützung braucht. Später erklärt er einer kleinen Gruppe noch einmal die Bruchrechnung. Sie haben sich dafür in einen Nebenraum gesetzt, damit sie die anderen nicht stören.
Zum Lernbüro gehört auch, dass alle Schülerinnen und Schüler ein Logbuch führen. Sie schreiben darin auf, was sie in Mathematik, Deutsch und Englisch jeden Tag schaffen wollen, was ihnen während der Woche gelungen ist und wo sie noch üben müssen. Das motiviert. Außerdem hilft das Aufschreiben dabei, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Stefan Osthoff hat die Lernbüros mit auf den Weg gebracht. "Entscheidend ist, dass jeder Schüler selbstbestimmt und in seinem Tempo arbeiten kann", sagt er. Auf diese Weise könnten auch Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf den Unterricht mitmachen.
Mitmachen, das ist nicht nur für Schülerinnen und Schüler wichtig, denen das Lernen schwerfällt, sondern auch für diejenigen, die körperliche Einschränkungen haben. Der 15-jährige Jonas zum Beispiel hat spastische Lähmungen, aber er fühlt sich hier aufgehoben. Erst kürzlich war er an einer anderen Schule, um Referendarinnen und Referendaren dort zu erzählen, wie es an seiner Schule läuft. "Die hatten keine Ahnung von Inklusion", sagt er. Für ihn sei es dagegen völlig normal, zusammen in einer Klasse zu lernen, egal wie verschieden die Mitschüler auch sind. "Das hat mir mal wieder gezeigt, wie gut unsere Schule ist", sagt Jonas. Das finden auch Lena und Christian. "Menschen mit Behinderung werden in der Öffentlichkeit oft angestarrt, die Leute wissen nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollen", sagt Lena. Christian nickt, er habe früher auch Hemmungen gehabt, auf Mitschüler wie Jonas unbefangen zuzugehen, sagt er. Für ihn sei das erst selbstverständlich geworden, als er an die Matthias-Claudius-Schule gekommen sei. "Ich habe hier schnell gelernt, locker zu sein."
Die Schülerinnen und Schüler der achten Klassen müssen sich bis zum Ende dieses Schuljahres überlegen, welche Herausforderung sie zu Beginn der neunten Klasse meistern wollen. Eine Woche lang werden sie dann für die Umsetzung ihrer Pläne Zeit haben. Sportlehrer Holger Jeppel koordiniert das Projekt, das sie "Herausspaziert" nennen. Es geht darum, dass die Mädchen und Jungen etwas bewältigen, was nicht unbedingt mit ihrem Schulalltag zu tun hat, und dabei auch mal an ihre Grenzen kommen.
Auf einem Plakat, das in Jeppels Zimmer an der Wand hängt, stehen bereits viele Vorschläge. Einige wollen den Jakobsweg wandern, andere mit dem Fahrrad bis nach Holland fahren. "Zu den Radfahrern gehören auch eine Schülerin mit Down-Syndrom und ein autistischer Schüler", sagt Jeppel. Alle in der Gruppe würden jetzt überlegen, wie sie es schaffen können, die beiden mitzunehmen. Es gebe bereits die Idee, zwei Tandems dabei zu haben. Das Projekt "Herausspaziert" soll künftig zu einem festen Bestandteil des Schulkonzeptes werden.
In Bochum hat die Matthias-Claudius-Schule eine große Strahlkraft. Für die 104 Plätze in einer der vier fünften Klassen gibt es mindestens doppelt so viele Bewerber. Zu den Auswahlverfahren der Schule gehören Spiele, bei denen sich die soziale Kompetenz eines Bewerbers zeigt. Auch die Eltern werden interviewt: "Wir erwarten, dass sie sich aktiv am Schulleben beteiligen", sagt sagt Osthoff. Die Pausenverpflegung der Schülerinnen und Schüler, aber auch das tägliche warme Essen in der Mensa seien ohne die Mithilfe vieler Eltern nicht denkbar, ebenso Klassenfahrten und Schulfeste.
Beim Bewerbungsgespräch erfahren die Eltern auch, was die Schule unternimmt, um leistungsstarke Schülerinnen und Schüler zu fördern. "Sie müssen damit einverstanden sein, dass ihre Kinder, wenn sie in der zehnten Klasse sind, Lernbegleiter für jüngere Schüler werden", sagt Osthoff. Auch das sei Begabtenförderung. Anders ausgedrückt: Wer von seinen Kindern erwartet, dass sie zum Abitur Chinesisch sprechen, der schickt sie auf eine andere Schule.
* alle Schülernamen von der Redaktion geändert
Mila* steht im geräumigen hinteren Teil des Naturwissenschaftsraums. Vom Regal blicken ausgestopfte Tiere – Fuchs, Hase, ein Entenpaar – auf die Schülerinnen und Schüler der 5 f hinab. Poster an den Wänden informieren über Hochmoore und Wölfe. Vor Mila auf dem Fußboden hockt Elias und blickt erwartungsvoll zu ihr hoch. Mila wirft einen letzten konzentrierten Blick auf ihren Zettel, dann wendet sie sich Elias zu: "Was machst du, wenn es kalt wird?" Elias denkt nur kurz nach. "Dann werde ich ganz starr. Und du?" Mila nickt, auf diese Frage ist sie vorbereitet. "Ich schlafe ein, dann verbrauche ich weniger Energie." Mila, Elias und die anderen sind heute in die Rollen von Eichhörnchen, Eidechsen, Pinguinen und Fröschen geschlüpft. Im Rollenspiel tauschen sie sich über ihre Eigenschaften als gleich- oder wechselwarme Tiere aus. Anschließend sammelt Naturwissenschaftslehrer Benjamin Rode noch einmal das Gelernte. Fast alle Finger gehen hoch, die Kinder haben Spaß an der Übung. Marie jedenfalls ist zufrieden, sie trägt am Ende der Stunde "+++" in ihren Lernplaner ein. In dem spiralgebundenen A5-Heft – alle Kinder an der Integrierte Gesamtschule Hannover-List (IGS List) haben so eins – notiert sie nach jeder Stunde das Thema und bewertet ihre eigene Leistung.
Rode war nicht ganz zufrieden. Nach der Stunde hält er mit Alexandra Kielgas Rücksprache. Die Sonderpädagogin war in der Stunde dabei, sie unterstützt drei Kinder mit Förderbedarf. Schließlich notiert sich Rode, beim nächsten Mal schon zwischendurch und nicht erst am Schluss das Gelernte zu sichern. Von der Erfahrung profitieren auch seine Kolleginnen und Kollegen. Unterrichtsvorbereitung ist an der IGS List Gemeinschaftsarbeit: Die Fachlehrerinnen und -lehrer entwickeln zusammen Arbeitsblätter und Stundenabläufe für ihre jeweiligen Fächer. Dabei entstehen über die Zeit Vorschläge für komplette Unterrichtsgänge, mitsamt Materialien für verschiedene Niveaus. "Das kommt vor allem den Kindern zugute, weil es viel Material und Hilfestellung gibt. Allein könnte man das gar nicht so umfangreich für jede Unterrichtsstunde leisten", sagt Rode. Gleichzeitig entlaste es die Lehrkräfte: "Man kann viel tiefgehender den Unterricht planen, als wenn man jede Stunde neu entwickeln müsste." Und vor allem sei die Unterrichtsqualität auf diese Weise konstant hoch, "anstatt dass nur manchmal ein Kollege ein Feuerwerk abbrennt".
Feuerwerke – oder besser: Highlights – gibt es natürlich trotzdem an der IGS List. Etwa 2013, da besuchte der Dalai Lama die Schule. Jannik zeigt stolz auf das große, farbenfrohe Mandala auf dem Fußboden im ZENtro, einem Besprechungsraum mit viel dunklem Holz und gemütlichen Sofas: "Ein Geschenk des Dalai Lamas." Im Flur neben dem ZENtro hängen Fotos der Begegnung. Eins davon zeigt eine kleine Person in Imkerkleidung, die dem Dalai Lama ein Glas Honig überreicht. "Das ist Paula", erklärt Jannik. "Der Honig kommt aus der Schülerfirma ‚Imkerei‘."
Inzwischen besucht Paula die neunte Klasse, und weil sie noch immer in der Imkerei mitarbeitet, war sie letztes Jahr sogar in Malawi: Antrittsbesuch an der neuen Partnerschule, zusammen mit Jannik und mehreren Lehrkräften. "Sie wollen dort auch eine Imkerei aufbauen und damit zum Lebensunterhalt der Kinder beitragen", erzählt Paula. Außerdem sollten Jannik und Paula herausfinden, was bei zukünftigen Besuchen in Malawi besser laufen könnte. "Wir waren zum Beispiel mit den Impfungen spät dran. Und die Eltern könnte man auch noch mehr einbinden", meint Jannik. "Das wird nächstes Mal besser laufen!"
Verantwortung zu übernehmen ist für Paula und Jannik keine große Sache. Schließlich kommt das in ihrem Schulalltag laufend vor. In den gemischten Lerngruppen etwa, wenn stärkere Kinder schwächeren helfen, und beim Schülercoaching. Oder auch im Schulzoo: Sieben Hühner teilen sich an der IGS List ein Außengehege, daneben wohnen Meerschweinchen und Kaninchen. Die Echsen – genauer: Agamen – und Nattern bewohnen große Terrarien in einem eigenen Flur des Schulgebäudes. Um die Ecke leben weitere Nagetiere: Degus und Springmäuse. Mehrere AGs kümmern sich während des Schuljahres um die Tiere und organisieren sich auch in den Ferien, damit immer jemand Fütterung und Pflege übernimmt. Allerdings sei die Verantwortung nur einer der Vorteile des Schulzoos, meint Jannik: "Naturwissenschaften machen viel mehr Spaß, wenn man zum Beispiel das Verhalten von Reptilien selbst beobachten kann."
Sonnenstrahlen fallen durch das Fenster auf den hellen Holztisch im Büro von Schulleiter Oswald Nachtwey. Am Garderobenhaken: sportliche Jacke und Fahrradhelm. Man sieht es dem drahtigen Herrn am Tisch – blaue Cordhose, Sakko, gepflegter Bart – nicht an, aber Nachtwey ist vor kurzem 63 Jahre alt geworden. Die letzten 26 davon war er hier Schulleiter, die IGS ist auch ein Teil seiner persönlichen Geschichte, er hat sie sogar mitgegründet.
Seitdem arbeitet er daran, die IGS List zu einem Ort zu machen, an dem sich alle wohlfühlen, gut miteinander umgehen und dabei noch viel lernen. "Ich begeistere mich sehr für Pädagogik", sagt Nachtwey, hinter den randlosen Brillengläsern leuchten seine Augen. Seine Statistik kann sich sehen lassen: Rund zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler erreichen den erweiterten Sekundarabschluss I, der den Übergang in die gymnasiale Oberstufe erlaubt. "Mindestens die Hälfte davon kommt ohne Gymnasialempfehlung", betont Nachtwey. Und die soziale Durchmischung der 670 Schülerinnen und Schüler sei deutlich höher als im bürgerlichen Stadtteil List, in dem die Schule liegt.
Was Nachtwey wichtig ist: dass der Erfolg nicht das Ergebnis einzelner pädagogischer Maß- nahmen ist. Davon gibt es zwar viele an der IGS List – etwa die Profilklassen, den 80-Minutenrhythmus, die tägliche Vertiefungsstunde PerLe ("Persönliches Lernen"), die Netbooks, mit denen ab Klasse sieben alle Schülerinnen und Schüler arbeiten –, den Erfolg führt Nachtwey aber darauf zurück, dass sich die vielen Mosaikteilchen zu einem Gesamtbild zusammenfügen, in dem Lernen, Feedback, Verantwortung und Kooperation genau aufeinander abgestimmt sind.
Auf einem Stuhl in Nachtweys Büro liegen Schülerarbeiten: dreidimensionale Pappgebilde, ein vielzackiger gelber Stern, eine graue Insel mit Turm. Schülerinnen und Schüler der zehnten Klasse haben sie in Nachtweys Mathematikunterricht gebastelt, die Aufgabe lautete: Baue ein dreidimensionales Objekt, das ein Kilogramm Reis fassen kann. Nachtwey nimmt die graue Insel, dreht sie langsam hin und her. Die dreiköpfige Schülerinnengruppe hat mit 105 sogar mehr als die 100 möglichen Punkte dafür bekommen, so steht es auf dem Bewertungsblatt. Nicht nur für das kreative Werk, sondern vor allem für die sorgfältigen Skizzen und Berechnungen.
Ein Foto der Arbeit wird auch in ihrem LEO abgelegt. LEO steht für "Lernentwicklungsordner"– eins der neueren Mosaikstücke im Schulkonzept. Seit dem vergangenen Schuljahr dokumentieren die Schülerinnen und Schüler im LEO ihre Arbeitsergebnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen. Er soll ihren Lernweg sichtbar machen und ist auch im "Lerndialog" zwischen Lernenden, Eltern und Lehrkräften wichtig. "Wir wissen aber noch nicht, wo wir damit in fünf Jahren stehen", sagt Nachtwey vorsichtig. "Erstmal müssen wir Erfahrungen sammeln."
Das Kollegium mitnehmen, behutsam ausprobieren – so funktioniert es an der IGS List am besten, hat er gelernt. "Man braucht zunächst eine Vision", sagt Nachtwey. "Und dann muss man langsam, Schritt vor Schritt vorgehen und immer wieder fragen: ‚Was geht gemeinsam?‘"
* alle Schülernamen von der Redaktion geändert
Joshua* sitzt im Foyer der Gesamtschule Bremen-Ost am Klavier und spielt neugierig die Tasten an. Drei halbwüchsige Jungs stehen um ihn herum und geben Tipps. Andere schenken den Klängen in der Pause wenig Beachtung. "Irgendjemand spielt hier immer in der Pause am Klavier", sagt der Schulleiter Hans-Martin Utz nicht ohne Stolz. Die einen würden sich am Flohwalzer versuchen, andere an vierhändigen Partituren.
Früher seien in dem Klavier Pausenbrote oder Cola-Dosen gelandet, erzählt Utz. "Wir haben überlegt, ob wir es wegschließen, und uns dann dagegen entschieden", sagt der Schulleiter. Das Klavier wurde weiter in die Mitte des Foyers gerückt und stand fortan allen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Auch die Räume, in denen die Streicher- und Bläserklassen ihre Instrumente haben, wurden in der Pause geöffnet. Die Schülerinnen und Schüler wüssten das inzwischen sehr zu schätzen, Abfälle im Klavier seien heute undenkbar, sagt Utz.
Die Gesamtschule Bremen-Ost liegt in einem Neubaugebiet am Rande der Stadt. Das großzügige Schulgebäude wurde in den 1970er Jahren einst für 3.000 Schülerinnen und Schüler gebaut. Heute lernen hier 1.350 Kinder und Jugendliche aus 30 verschiedenen Nationen, viele von ihnen kommen aus Familien mit geringem Einkommen. "Nur wenige haben die Möglichkeit, zu Hause oder in der Musikschule ein Instrument zu lernen. Wie sollten sie auch üben, wenn sich drei Geschwister einen Raum teilen?", sagt der Schulleiter, der selbst zunächst als Musiklehrer an der Schule angefangen hatte.
Vor etwa 15 Jahren hat die Schule begonnen, ein musikalisches Profil aufzubauen. Damals zog die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, die auf der Suche nach geeigneten Probenräumen war, in einen Teil des Gebäudes ein. Das war der Beginn einer bis heute fruchtbaren Kooperation. Profilklassen, in denen die besonderen Neigungen der Schülerinnen und Schüler gefördert werden, sind zum Markenzeichen der Schule geworden. Neben den Musikklassen gibt es inzwischen auch Profilklassen für Kunst, Theater und Naturwissenschaften.
Und so steht im Foyer der Schule nicht nur das Klavier, hier hängt auch die aktuelle Ausstellung der Kunstklassen. Ganz präsent sind zwei Skulpturen in der Eingangshalle: Die "Große Badende" und der "Sitzende Alte" des Bildhauers Waldemar Grzimek sind eine Leihgabe des Gerhard-Marcks-Hauses, das ebenfalls mit der Schule kooperiert. Die Figuren geben den Teenagern Gelegenheit, sich mit den Themen Nacktheit, Jugend und Alter zu beschäftigen. Von Schmierereien, wie man sie bei pubertierenden Jugendlichen angesichts der nackten Figuren erwarten könnte, keine Spur.
"Darf ich in der Pause Geige üben?", fragt Akira ihre Musiklehrerin Sylvia Klingler. Sie darf, und so zieht sich die Zwölfjährige in den Übungsraum mit den Instrumenten zurück, auch wenn keine Aufsicht daneben sitzt. Ein zweites Mädchen gesellt sich dazu. "Die Schülerinnen bringen sich auch gegenseitig die Instrumente bei, das gehört zum Konzept der Schule", sagt die Lehrerin. Dabei sieht man nicht nur Jugendliche gemeinsam an der Geige einen Song üben, sondern auch dabei, wie sie sich zusammen etwa auf eine Matheklausur vorbereiten.
Der 14-jährige Karim aus Kabul ist noch nicht lange an der Schule. Obwohl er erst seit wenigen Wochen eine Geige in der Hand hält, spielt er zusammen mit den anderen Schülerinnen und Schülern der achten Klasse den Popsong "Firework" von Katy Perry. "Jeder kann auf seinem Niveau in der Streicherklasse mitspielen, es gibt immer auch einfache Stimmen", sagt die Musiklehrerin Klingler. Und wenn nicht, dann schreibe sie diese Stimmen eben eigenhändig in das Arrangement.
Auch das ist ein pädagogisches Grundprinzip der Gesamtschule mit vier Inklusionsklassen. "Wenn die Schüler zu uns kommen, starten sie an ganz unterschiedlichen Linien. Einigen wurde schon in der Kita vorgelesen, andere haben das nie erlebt", sagt der Schulleiter. Ziel der Schule sei es, jeder Schülerin und jedem Schüler gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Der erste Schritt dazu sei Ermutigung, und das gelinge vor allem durch sehr viel Beziehungsarbeit. "Die Lebensläufe der Jugendlichen haben oft viele Brüche", sagt Utz. Dazu gehörten auch Gewalt, Armut oder Trennung. Beziehungen würden in der Schule vor allem durch gemeinsame Erlebnisse geschaffen. Das seien Klassenfahrten, gemeinsame Auftritte oder Vernissagen.
Einer dieser Höhepunkte ist die Aufführung der "Melodie des Lebens". Einmal im Monat kommt der Komponist und Songwriter Mark Scheibe aus Berlin nach Bremen, um mit den Jugendlichen ihren Song zu schreiben. Die Schülerinnen und Schüler texten allein oder in kleinen Gruppen, finden ihre eigenen Melodien, und Mark Scheibe setzt die Ideen mit ihnen gemeinsam in professionelle Arrangements um. Am Ende steht eine große Aufführung, bei der die jungen Sängerinnen und Sänger vom Orchester der Kammerphilharmonie begleitet werden.
"Beziehungsarbeit braucht vor allem Kontinuität", sagt Schulleiter Utz. Dieser Erkenntnis wurde die gesamte Organisation der Schule untergeordnet. Von der fünften bis zur zehnten Klasse werden die Schülerinnen und Schüler immer von demselben pädagogischen Team begleitet. Dazu gehören neben den Lehrerinnen und Lehrern auch eine sonderpädagogische und eine sozialpädagogische Fachkraft. Gesellschaftswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Fächer werden im Verbund unterrichtet, damit die Schülerinnen und Schüler nicht so häufig wechselnde Fachlehrer haben. Bei so vielen Klassen würden die Lehrkräfte sonst kaum die Namen der Schülerinnen und Schüler kennen. "Diese Unterrichtsorganisation war nicht einfach und bedeutete für die Lehrkräfte viele interne Fortbildungen", sagt Utz. Dabei unterstützten sich die Pädagoginnen und Pädagogen gegenseitig, indem sie untereinander Unterrichtsmaterialien austauschten und sich gegenseitig in Workshops anleiteten. Schließlich sei es nicht selbstverständlich, dass ein Biologielehrer etwa auch Physik unterrichtet.
Schulleitung und Kollegium agieren an der Gesamtschule Bremen-Ost auf Augenhöhe. Die Lehrkräfte haben viele Spielräume für kreative Projekte, die ganz offensichtlich im Kollegium auch gern angenommen werden. Da ist ein Segelboot in Originalgröße, das in einem Bootsbauprojekt mit den Jugendlichen entstanden ist. Auf einer anderen Etage hat der naturwissenschaftliche Bereich eine Mini-Phänomenta mit skurrilen Versuchsanordnungen aufgebaut, und auf dem Schulgelände summen seit einigen Wochen sogar schuleigene Bienen.
Diese besondere Form der Beziehungsarbeit in Projekten zahlt sich aus: Obwohl sich die Schule in einem sozial benachteiligten Umfeld befindet, erreichen hier 54 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Berechtigung zum Übergang an die gymnasiale Oberstufe. Und auch in der Oberstufe ist die Gesamtschule vergleichsweise erfolgreich. Von den 62 Absolventinnen und Absolventen, die in Bremen und Bremerhaven im vergangenen Jahr ihr Abitur mit 1,0 bestanden haben, kamen fünf aus der Gesamtschule Bremen-Ost.
Wenn man die musikbegeisterte Akira fragt, was diese Schule von anderen unterscheidet, dann nennt sie an erster Stelle die Lehrerinnen und Lehrer: "Sie sind eher wie Partner. Man kann sie jederzeit ansprechen, man kann auch mit ihnen lachen, und sie merken sofort, wenn mit einem mal etwas nicht stimmt", sagt die Schülerin.
* alle Schülernamen von der Redaktion geändert
Von außen sieht die Martinschule in Greifswald aus wie eine gewöhnliche Schule, wie sie noch zu Hunderten in den neuen Bundesländern steht. Fast ausnahmslos alle der weit mehr als 2.000 Schulneubauten in der DDR sind nach einer genormten Bauweise entstanden; die Gebäudetypen heißen Erfurt, Chemnitz, Leipzig oder Halle, benannt nach den ehemaligen Bezirken der DDR. Die Martinschule gehört zum Typ Rostock: ein langer viergeschossiger Block mit drei Treppenhäusern, die nur im Erdgeschoss miteinander verbunden sind; an der Hinterseite verstecken sich zwei Fachraumgebäude, die mit Verbindungsbauten an das Haupthaus angeschlossen sind. Im früheren Bezirk Rostock, der sich nahezu über die gesamte mecklenburg-vorpommerische Ostseeküste erstreckte, ist ein Großteil der Schulen nach genau diesem Modell gebaut worden.
Heute unterrichtet Anne Wende in der zweiten Etage – sie ist Lehrerin am Evangelischen Schulzentrum Martinschule, unter dessen Dach alle Kinder und Jugendlichen willkommen sind – ganz gleich ob mit oder ohne Handicap, Förderbedarf, Religionszugehörigkeit oder besonderer Begabung. Anne Wende ist zuständig für eine Stammgruppe in der fünften Klasse. Das heißt: Bis zur siebten Klasse lernen maximal zwölf Kinder in einer Stammgruppe – ganz gleich ob hochbegabt, gehandicapt oder "Regelschüler". Statt wechselnder Lehrkräfte für unterschiedliche Fächer haben die Schülerinnen und Schüler einer Stammgruppe möglichst eine Lehrerin oder einen Lehrer für alle Fächer. "So können wir die Kinder viel besser kennenlernen, ihren Bedürfnissen gerecht werden und sie intensiv begleiten, als von Klasse zu Klasse und von Raum zu Raum springen zu müssen. Wie soll man da jedes Kind kennen?", erklärt Wolfram Otto, Koordinator der Stufen fünf bis sieben.
Auf dem Stundenplan von Anne Wendes Stammgruppe steht Kunst, aber nicht nur für ein oder zwei Stunden, wie an den meisten Schulen üblich, sondern den ganzen Tag, eine ganze Woche lang. Ziel dieses ungewöhnlichen Ansatzes ist es, den Kindern zu ermöglichen, sich mit einer Aufgabenstellung in Ruhe und ausführlich auseinandersetzen zu können und nicht nach 45 Minuten den Tuschekasten und die Pinsel bis zur nächsten Woche wegräumen zu müssen. Diese Kunstwochen haben die Martinschülerinnen und -schüler mehrmals im Jahr. Das aktuelle Thema heißt "Die Kunst der Zeichnung". Mit leiser, ruhiger Stimme erklärt Anne Wende den Kindern, was eine Parallel-, was eine Kreuzschraffur ist. Liam* und Jolina sind lauter als die Lehrerin, sie kippeln mit dem Stuhl, stehen auf, setzen sich wieder hin, spielen mit dem Lineal, triezen sich gegenseitig. Anne Wende ist gelassen und lässt das Duo gewähren. Nur Schimpfwörter sind nicht erlaubt.
Neben der Lehrerin sind noch zwei weitere Erwachsene im Klassenraum: zwei Integrationshelferinnen, die zwei Kindern mit geistiger Beeinträchtigung zur Seite stehen. Eines von ihnen ist Marlene. An der Martinschule hat jedes Kind seinen eigenen Lernplan, mit dem es die Aufgaben für die Woche plant und umsetzt. Marlene helfen kleine Bilder im Lernplan bei der Orientierung, richtig lesen kann sie noch nicht.
Ihr Wochenziel: Buchstaben erkennen und Mengen erfassen. Die Fünftklässlerin malt mit Filzstiften das Deckblatt ihres Arbeitsheftes aus, während die anderen Kinder mit Bleistift und Kohle selbst unterschiedliche Schraffuren ausprobieren.
Als Marlene fertig ist, steht sie auf und unterbricht ihre Klassenkameradinnen beim Zeichnen: "Guckt mal", sagt sie und zeigt ihr buntes Bild. "Oh, cool, schön hast du das gemacht", sagt ein Mädchen, und die anderen am Tisch lächeln zustimmend. Marlene freut sich über die Wertschätzung und setzt sich zurück zu ihrer Integrationshelferin, von denen insgesamt 60 an der Martinschule arbeiten, und malt weiter. Die Mädchen vertiefen sich wieder in ihre Zeichnungen. Währenddessen setzt sich Anne Wende zu Jolina und Liam und erklärt ihnen auf Augenhöhe, was zu tun ist. Die beiden arbeiten kurz mit, stehen auf und sagen: "Wir brauchen jetzt eine kurze Pause." Sie rennen über den Flur, bis Jolina sagt: "Komm, wir müssen zurück, sonst gibt es Ärger."
Die beiden Kinder benötigen Förderung im emotionalen und sozialen Bereich. Fast die Hälfte der 550 Schülerinnen und Schüler an der Martinschule hat sonderpädagogischen Förderbedarf – ein Wert, der weit über dem mecklenburgvorpommerischen Landesdurchschnitt von 10,8 Prozent für das Schuljahr 2015/16 liegt. Parallel sind an der Martinschule die Ergebnisse der VERA-Vergleicharbeiten, der – zentralen Abiturklausuren und die Abschlussergebnisse der mittleren Reife seit Jahren besser als der Landesdurchschnitt. Jede Schülerin und jeder Schüler verlässt die Martinschule mit einem "Abschluss" – auch Marlene wird später ein schulinternes "Abschlusszeugnis" bekommen.
Doch zuvor profitiert sie von dem jahrgangsübergreifenden, neu entwickelten Lernkonzept, das auf drei Säulen basiert: In der Schülerfirma "Häppchen & Co" bereiten die älteren Schülerinnen und Schüler für die Kinder der Grundschule täglich ein Frühstück zu und lernen dabei den Umgang mit Geld, den Erwerb und die Zubereitung von Lebensmitteln. Beim Projekt "Wohnungstraining" erfahren und trainieren die Jugendlichen Selbstwirksamkeit und Teilhabe für den Alltag. In einer extra angemieteten Vierraumwohnung waschen sie Wäsche, decken den Tisch, gestalten die Zimmer und halten sie sauber. Außerdem hat die Martinschule einen Teil einer alten Kaufhalle in ein Abschlussstufenzentrum umbauen lassen, damit die Jugendlichen auf ihr Leben nach der Schule vorbereitet werden.
Der Blick hinter die Türen der Martinschule zeigt: Was hier passiert, ist alles andere als typisch, gewöhnlich oder gar erwartbar. Wer besser verstehen will, dass diese Schule Außergewöhnliches leistet, muss auch ihr Umfeld und ihre Geschichte anschauen. Die Martinschule steht im Greifswalder Stadtteil Schönwalde I. Doch der Name trügt. Hier ist kein Wald zu sehen und die Schönheit des Viertels erschließt sich auch nicht auf den ersten Blick. Nur die Möwen am Himmel verraten mit ihrem Kreischen, dass die Ostsee nicht fern ist.
Schönwalde I ist eine klassische Plattenbausiedlung, wie sie zu DDRZeiten in fast allen ostdeutschen Städten entstanden ist. Als 1973 im nur wenige Kilometer entfernten Kernkraftwerk Lubmin der erste Reaktor in Betrieb ging, brauchte Greifswald dringend Wohnraum für die Mitarbeiter und deren Familien. Mehr als vier Jahrzehnte später ist das einst größte Atomkraftwerk der DDR stillgelegt, nur die Straßen in Schönwalde I erinnern noch an die Vergangenheit: Ihre Namen sind Lomonossowallee oder Kurtschatowweg, benannt nach Physikern und Chemikern. Auch das Grau der Stahlbetonplatten ist längst übermalt, die Wohnhäuser sind saniert und nur vereinzelt erzählen überlebensgroße Wandgemälde von der sozialistischen Vergangenheit. Der Wohnraum ist günstig, rund 5,40 Euro kostet hier der Quadratmeter für eine Mietwohnung. In Schönwalde I wohnen Rentner, Studenten, Geringverdiener und Menschen mit Migrationshintergrund.
Während der DDR-Zeit galten geistig behinderte Kinder als "schulbildungsunfähig". Staatliche Schulen, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt waren, gab es schlichtweg nicht. Deshalb übernahm in Greifswald diese Aufgabe die Johanna-Odebrecht-Stiftung und eröffnete 1976 eine Fördertagesstätte für Kinder mit Beeinträchtigungen in der geistigen Entwicklung.
Mit der Wende bekamen diese Kinder und Jugendlichen ein gesetzlich verankertes Recht auf Bildung – und die Odebrecht-Stiftung erhielt 1992 die Genehmigung, eine "Schule zur individuellen Lebensbewältigung", eine Schule für geistig Behinderte, zu gründen. "Eine Finanzierung für einen Schulneubau wäre damals möglich gewesen", sagt Schulleiter Benjamin Skladny, der von Anfang an bis heute die Martinschule maßgeblich geprägt hat. Doch die Entscheidung fiel bewusst gegen einen Neubau irgendwo am Rande der Stadt: Die neue Schule, die erst 1994 ihren Namen Martinschule erhielt, zog in die Räume einer ehemaligen Kindertagesstätte mitten in Schönwalde I, dorthin, "wo alle uns sehen können", sagt Skladny.
Seit damals ist viel passiert. Das Gebäude der Kita wurde von Grund auf saniert und auf dem Außengelände wichen die Betonplatten einem großzügigen Spielplatz, der für Skladny ganz selbstverständlich, für alle Kinder des Stadtteils zugänglich ist, nicht nur für die Schülerinnen und Schüler der Martinschule. Zehn Jahre nach der Gründung wurden die Räume zu klein und die Martinschule bezog 2002 das nächste Gebäude in unmittelbarer Nachbarschaft – das Schulhaus Typ Rostock. Mit dem Einzug folgte die Erweiterung des schulischen Angebots: Neben der bereits bestehenden Schule zur individuellen Lebensbewältigung wurden im selben Haus eine Grundschule und ein Schulhort gegründet – die Geburtsstunde des Evangelischen Schulzentrums Martinschule. Vier Schuljahre später folgte der nächste große Schritt: Ab sofort war, dank der Ergänzung um den Bildungsgang einer Integrierten Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe, auch das Abitur an der Martinschule möglich.
Während manche Bildungspolitiker die Inklusion für gescheitert halten, beweist die Martinschule, dass ihr außergewöhnliches Inklusionsmodell funktioniert: Jahre bevor die UN-Behindertenrechtskonvention 2008 in Kraft trat und sich die Unterzeichnerstaaten auf einen gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung verständigten, ging die Martinschule den Weg der Inklusion – und zwar umgekehrt. Die ursprünglich ausschließlich für Kinder mit geistiger Behinderung gedachte Schule öffnete sich nach außen und holte Regelschülerinnen und -schüler zu sich. Mit diesem Ansatz verfolgen Skladny und sein Team ein hehres Ziel: Sie wollen zwei Schulen – eine Regelschule und eine für Kinder und Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen – zu einer guten Schule für alle verschmelzen. Ein Ziel, das sich nicht einfach eines Tages als erledigt abhaken lässt, sondern konsequente Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität erfordert. Ein Ziel, das die Schule selbstbewusst auch in ihrem Leitbild verankert hat: "Wir machen Schule – evangelisch, weltoffen, inklusiv, reformpädagogisch, ganztägig".
Ein Ziel, das nicht unumstritten ist im Kollegium. Stufenkoordinator Wolfram Otto weiß das nur zu gut. Er hat das Konzept der Stammgruppen mitkonzipiert und umgesetzt. Seine Pläne, dieses Konzept zukünftig auf die Stufen acht und vielleicht neun zu übertragen, stößt auch auf Widerstand. Skeptiker gab es bereits bei der Umsetzung der Idee in den Stufen fünf bis sieben, doch der Erfolg ließ viele Kritiker verstummen. Die Martinschule schafft Raum und Zeit für regelmäßige Teamgespräche – dann können die Lehrerinnen und Lehrer Sorgen loswerden, Kritik ansprechen, und Wolfram Otto hat Gelegenheit, seine Kolleginnen und Kollegen zu beraten, zu unterstützen und von seinen Ideen zu überzeugen. Otto brennt für das Konzept des gemeinsamen Unterrichts in kleinen Gruppen und steckt mit seinem Elan und seiner Begeisterung auch die Kolleginnen und Kollegen an. Ottos Idee war es auch, die vier Etagen des Schulgebäudes Typ Rostock den einzelnen Klassenstufen zuzuordnen.
Ganz oben arbeiten die Kinder der Klassenstufe sieben, die dritte Etage gehört der Stufe sechs, die zweite Etage ist der Bereich für den fünften Jahrgang und im Erdgeschoss sind Lehrerzimmer, Sekretariat und Fachräume untergebracht.
Benjamin Skladnys Büro ist immer noch in der ehemaligen Kindertagesstätte, die heute den Grundschulteil der Martinschule beherbergt und wo vor mehr als einem Vierteljahrhundert alles angefangen hat. Zeit zum Unterrichten hat er nicht mehr, die Leitung der Martinschule nimmt Benjamin Skladny ganz in Anspruch. Er sitzt schon an den nächsten großen Plänen für die Schule. Er träumt von der Gründung einer Kindertagesstätte, von einem eigenen Schullandheim und von einer eigenen Turnhalle. Die Martinschule ist zwar über drei Gebäude in Schönwalde I verteilt, eine eigene Halle für den Sportunterricht hat sie bislang aber nicht. Noch lange bevor der erste Spatenstich gemacht ist, fragen schon die ersten Vereine an, ob sie die Halle auch nutzen dürfen. Klar, sagt Benjamin Skladny. Die Martinschule ist eine Schule für alle – dort, wo alle sie sehen können.
* alle Schülernamen von der Redaktion geändert