Porträt

Die Schulleiterin räumt kurzerhand ihr Büro. Auf dem Besprechungstisch stehen Mineralwasser, Kaffee und Schokolade. "Nehmen Sie sich, bitte", sagt sie. Dann legt sie den Telefonhörer neben den Apparat - "sonst klingelt es hier die ganze Zeit und stört", sagt sie, bevor sie die Tür hinter ihrem Büro zuzieht und sie dieses ihren  Schülerinnen und Schülern überlässt. So als sei das völlig selbstverständlich. Dabei hätten sich die sechs auch in einen Klassenraum setzen können, es ist schließlich nach Unterrichtsschluss und die Schule leert sich. Sie sind gekommen, um der Besucherin zu erklären, warum ihre Schule, die Elisabeth-Selbert-Schule (ESS), eine berufsbildende Schule in Hameln, den Deutschen Schulpreis verdient hat. Nach kurzem Überlegen reden sie los - und hören gar nicht wieder auf.

"Die pädagogischen Grundwerte der Lehrer machen diese Schule besonders", sagt Hasan, 21. Er geht in die Sozialassistenz-Klasse und will sein Fachabitur machen. "Hier wird jeder so akzeptiert, wie er ist - egal, woher er kommt." An seiner alten Schule habe sein Lehrer ihn in die Schublade "kleinkrimineller Ausländer" gesteckt und Hasan aufgefordert, er solle seine Mimik ändern. Hasan ist ein großer, ernsthafter junger Mann, er will mit Jugendlichen arbeiten und Menschen helfen. Für Isabelle, 20, angehende Ergotherapeutin, ist es die Vielfältigkeit in ihrer Klasse und an der Schule, die die ESS preiswürdig macht. An ihrer alten Schule habe die sich blöde Sprüche anhören müssen, weil sie etwas korpulenter ist. Auch Giulia, 25, die eine Ausbildung zur Pflegeassistentin macht, kennt Mobbing. Hier sei das, so versichern die Schülerinnen, kein Thema. "Obwohl wir an drei unterschiedlichen Standorten zur Schule gehen", sagt Isabelle, "herrscht ein großes Wir-Gefühl. Dafür sorgen unsere Lehrer." Weihnachten, zum Beispiel, seien alle zusammen in der Kirche gewesen, den Gottesdienst hätten die Lehrerinnen und Lehrer gestaltet, die Schülerband habe gespielt und Frau Grimme habe gesprochen.

1.980 Schülerinnen und Schüler aus 34 Nationen

Gisela Grimme, immer wieder fällt ihr Name im Laufe des Gesprächs. Sie ist seit 22 Jahren Schulleiterin der Elisabeth-Selbert-Schule, bei ihr laufen alle Fäden der großen und vielfältigen Schule zusammen. "Sie kennt uns alle", sagt Belana, 17. "Ich frage mich, wie sie die ganzen Namen behalten kann - wir sind doch so viele!", staunt sie. Die anderen nicken. 1.980 Schülerinnen und Schüler aus 34 Nationen werden an der berufsbildenden Schule in Hameln in den Bereiche Agrarwirtschaft, Gesundheit und Pflege, Hauswirtschaft und Ernährung, Sozialpädagogik sowie Körperpflege unterrichtet. Sie können alle Abschlüsse machen: vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur. Belana geht auf das berufliche Gymnasium der ESS. "Frau Grimme kommt häufig an den Standorten vorbei, schaut bei uns im Unterricht rein", erzählt Isabelle. "Die Lehrer setzen sich ein, damit wir einen guten Abschluss machen und gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben", sagt sie. Belana schätzt vor allem, dass die Lehrerinnen und Lehrer ihr auf Augenhöhe begegnen: "Sie sind an uns Schülern als Menschen interessiert und stellen sich nicht über uns", sagt sie. "Die Lehrer vertrauen uns total. Wir dürfen die Handys benutzen, um im Unterricht zu recherchieren. An anderen Schulen sind sie da viel strenger. Aber tatsächlich machen die Schüler damit hier kaum Quatsch - weil man uns vertraut.

"Im Matheunterricht der angehenden Pflegekräfte im zweiten Schuljahr, die sich auf ihren Realschulabschluss vorbereiten, dürfen die Schülerinnen und Schüler Spickzettel für die Arbeit schreiben: Karteikarten, die von der Lehrerin Barbara Bremert für die Klausur auf das Pult geklebt werden. Was sie darauf notieren, entscheiden sie. "Habe ich von allen einen Spicker für morgen?", fragt die stellvertretende Schulleiterin am Ende der Stunde. Sie sammelt die Kärtchen ein. "Manche meiner Schüler bringen so viel Angst von anderen Schulen mit - da beruhigt so ein kleiner Spickzettel und gibt Sicherheit. Und in Deutsch dürfen sie ja auch einen Duden benutzen", erklärt sie. Für Vertrauen sorgen auch die farbigen Übungszettel: Wer den blauen schafft, ist auf der sicheren Seite – er oder sie bekommt für die Lösungen mindestens eine Vier. Trotzdem fasst sich nach der Stunde ein Schüler ein Herz und spricht Barbara Bremert an: "Ich werde morgen nicht mitschreiben, ich kann das nicht. Ich bin sicher: Ich bekomme eine Sechs." Barbara Bremert reagiert gelassen: "Was kann ich tun, damit Sie es trotzdem versuchen?" Nach einem kurzen Gespräch kann sie ihn so weit beruhigen, dass er sich den blauen Zettel ansehen, die Übungen im Intranet durchgehen und morgen die Arbeit mitschreiben wird. "Ich glaube, Sie schaffen das", macht sie ihm Mut.

"Wer von hier kommt, der kann auch was"

Für schwache Schülerinnen und Schüler gibt es ein individuelles Förderkonzept. In allen Klassenräumen hängen an den Pinnwänden Streifen wie bei privaten Annoncen oder Inseraten an Laternen auf der Straße. Auf den Papierstreifen stellt sich das Beratungsteam der Berufsschule vor: die Schulpastorin, der Schuldiakon, Beratungslehrerinnen und ein Schulsozialarbeiter - alle mit Handynummer. Für jedes Problem wird nach einer unkomplizierten Lösung gesucht, egal ob für minderjährige Mütter oder für Geflüchtete. Hier bekommt jeder nicht nur eine zweite, sondern notfalls auch noch eine dritte oder vierte Chance. Durch das dichte Geflecht von Förderung und Fürsorge entwickeln sich an der ESS Schülerbiografien, die an anderen Schulen kaum jemand für möglich hielt. Das hat sich auch bei den Ausbildungsbetrieben in Hameln und Umgebung herumgesprochen. "Wer von hier kommt, der kann auch was", erklärte ein Innungsmeister dem Team des Deutschen Schulpreises beim Besuch im Januar 2017.

"Früher war ich eine Vierer-Schülerin, jetzt stehe ich auf Zwei", erzählt Melinda, 19, im Zimmer der Direktorin, "weil die Lehrer hier zu mir gesagt haben: Du kannst doch mehr. Diese Entwicklung habe ich ihnen zu verdanken." Nach ihrem Fachabitur an der Fachschule Sozialpädagogik würde sie gern Wirtschaftspsychologie studieren. Statt Klausuren zu schreiben, dürften die Schülerinnen und Schüler auch Referate halten oder Videos erarbeiten, erzählt ihre Mitschülerin Cansu. Und Belana bestätigt: "Wir dürfen mitbestimmen, wie und was wir lernen wollen." Statt in Religion weiter in der Bibel zu lesen, hat ihre Klasse am beruflichen Gymnasium lieber eine Umfrage über die Rollen von Mann und Frau in verschiedenen Kulturen gemacht und ausgewertet. "Das haben wir absolut demokratisch entschieden - und unsere Lehrerin hat uns machen lassen."

Die Schüler entscheiden selber, wann sie mit wem an welcher Aufgabe arbeiten wollen

In der Abteilung Sozialpädagogik werden die jungen Erwachsenen durch die Arbeit am Daltonplan systematisch beim selbständigen Lernen gefördert. Das Konzept der amerikanischen Reformpädagogin Helen Parkhurst wurde an der Berufsschule in Hameln vor fünf Jahren eingeführt. Während der sogenannten Daltonstunden, immer montags, dienstags, donnerstags und freitags in der 5. und 6. Stunde, entscheiden die Schülerinnen und Schüler, an welcher Aufgabe sie arbeiten, mit wem, allein oder in der Gruppe, bei welcher Lehrkraft und in welchem Raum. Ihre Lernerfolge dokumentieren sie in Arbeitstagebüchern. In jeder Klasse gibt es einen Daltonbeauftragten: Der Schüler oder die Schülerin arbeitet gemeinsam mit zwei Lehrkräften daran, das Konzept weiter zu verbessern. Inzwischen ist die Schule so versiert, dass sie von Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland um Rat gefragt wird. Gerade waren Gäste aus Österreich zu Besuch.

Eine zentrale Rolle spielen die Projekte, die Schule und Beruf verbinden. "Schule muss raus aus dem Elfenbeinturm und das echte. Leben in die Schule holen", sagt Schulleiterin Gisela Grimme. Am Standort Thibautstraße, am Stadtrand von Hameln gelegen, betreiben Schülerinnen und Schüler den "Kiosk" und sorgen für eine gesunde Verpflegung von täglich rund 400 Mitschülerinnen und Mitschülern. Selbständig regeln sie den Verkauf, überprüfen den Bestand und die Dekoration des Bistros. Kaffeeduft liegt in der Luft. Morgens kurz nach acht Uhr, in gelben T-Shirts, roten Schürzen und Basecaps nicht zu übersehen, macht sich das Team daran, Brötchen großzügig mit Tomate und Mozzarella zu belegen. "Das ist eine super Erfahrung", sagt Serkan, 20. "Am Anfang war ich nicht so das Genie an der Kasse - aber man lernt dazu." Der Umsatz im "Kiosk" beträgt immerhin 28.000 Euro pro Schuljahr. Für das Projekt "Produktion" stellen Schülerinnen und Schüler im fachpraktischen Unterricht Marmelade, Kekse, Vanillezucker oder auch Kräuteröle selbst her und verkaufen sie im Internet oder beim Weihnachtsbasar. Viele der verwendeten Lebensmittel wachsen im Schulgarten, so dass sich die Lernenden vom Anbau über die Ernte, Verarbeitung und Lagerung bis hin zum Verkauf mit ihren Produkten identifizieren.

Regelmäßig werden die Schülerinnen und Schüler zum Unterricht befragt. Dabei wollen die Lehrkräfte zum Beispiel wissen, ob eine klare Struktur im Unterricht erkennbar ist oder ob sich die Schülerinnen und Schüler gerecht beurteilt fühlen. Das Feedback ist freiwillig und anonym. 68 Prozent sagen: "Ich lerne viel im Unterricht." Und 87 Prozent respektieren ihre Lehrerinnen und Lehrer. "Die Lehrer sollten schon wissen, was wir von ihnen und ihrem Unterricht halten", sagt Cansu, "sie bewerten uns ja schließlich auch." Aus den Ergebnissen der Umfrage erarbeiten die Lehrkräfte gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Maßnahmen zur Verbesserung ihres Unterrichts. Auch die 172 Lehrkräfte evaluieren ihre Arbeit und das Kollegium. 2016 sagten 81 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer: "Ich bin mit dem Arbeitsklima in meinem Lehrerteam zufrieden."

"An das Leitbild hält sich doch so, wie es da jetzt steht, eh niemand"

"Neben der pädagogischen Haltung der Lehrkräfte hat die Schulpreis-Jury vor allem die multiprofessionelle Teamarbeit und die konsequente Schulentwicklung beeindruckt: Seit 20 Jahren entwickeln die Lehrkräfte systematisch Unterricht und Schule weiter. Jeder kann daran mitarbeiten - selbstverständlich auch Schülerinnen und Schüler. "An das Leitbild hält sich doch so, wie es da jetzt steht, eh niemand", meinte Hasan zu einer Lehrerin. Prompt wurde er aufgefordert, an der neuen Fassung mitzuarbeiten. Die monatlich tagende Steuergruppe zur Unterrichtsentwicklung hat ein Konzept für kollegiale Hospitationen der Lehrkräfte untereinander erarbeitet und organisiert Fortbildungen. Als Nächstes steht ein Medienkonzept auf der Agenda. Jeder Bildungsgang hat seinen didaktischen Jahresplan mit zeitlichen Abläufen der Lerninhalte und Lernsituationen, Praxisphasen und Veranstaltungen entwickelt. Ihren Unterricht bereiten die Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam vor - das entlastet nicht nur, sondern macht auch die Vertretung viel einfacher. Die Schule setzt sich Ziele und prüft, ob sie diese auch erreicht: Mit Hilfe der internen Datenerhebungen und der Vorgaben des Kultusministeriums (z.B. zur Abschlussquote der Schülerinnen und Schüler) werden Kennzahlen für das Qualitätsmanagement entwickelt.

Fünfmal hat sich die Schule beim Deutschen Schulpreis beworben und die Rückmeldungen der Jury systematisch genutzt, um an der Bewerbung zu feilen. "Vieles, was andere preiswürdige Schulen machen, tun wir längst: Arbeit in Projekten, fächerübergreifendes und individualisiertes Lernen", sagt Schulleiterin Gisela Grimme selbstbewusst. Die Schulpreis-Jury bescheinigt der Elisabeth-Selbert-Schule in allen sechs Qualitätsbereichen herausragende Ergebnisse - vor allem aber beim Umgang mit Vielfalt und im Qualitätsbereich Schulleben. Neben inhaftierten Jugendlichen werden auch 124 Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrung in Sprachförderklassen unterrichtet und in den Schulalltag integriert.

Bei der Gesprächsrunde im Zimmer der Direktorin zählt Cansu noch einen weiteren Pluspunkt der ESS auf: "Mir gefällt total gut, dass wir eine Europaschule sind. Im Oktober war ich in Portugal", sagt sie. Jeder, der will, kann ins Ausland gehen: Es gibt Austauschprogramme mit Polen, der Türkei, den Niederlanden, Frankreich, Portugal, Spanien, Finnland, Norwegen, Dänemark, Ungarn, Kroatien, Tschechien, Großbritannien und Österreich. Für viele Schülerinnen und Schüler ist es die erste Auslandsreise überhaupt. "Guten Abend, Frau Kessler, ich wollte Sie nur wissen lassen, dass ich mich hier pudelwohl fühle. Ich kann Ihnen kaum genug danken, dass Sie dies ermöglichen konnten. Die Zeit, die ich hier verbracht habe, war sehr schön, anstrengend und lehrreich. (…) Im Großen und Ganzen werde ich hieran wachsen, und das habe ich nur Ihnen zu verdanken. Mit besten Grüßen von der See", schreibt ein angehender Erzieher sonntagabends in einer SMS an seine Lehrerin. Und dann schickt er ihr noch einen breit lachenden Smiley hinterher.