Porträt

Mila* steht im geräumigen hinteren Teil des Naturwissenschaftsraums. Vom Regal blicken ausgestopfte Tiere – Fuchs, Hase, ein Entenpaar – auf die Schülerinnen und Schüler der 5 f hinab. Poster an den Wänden informieren über Hochmoore und Wölfe. Vor Mila auf dem Fußboden hockt Elias und blickt erwartungsvoll zu ihr hoch. Mila wirft einen letzten konzentrierten Blick auf ihren Zettel, dann wendet sie sich Elias zu: "Was machst du, wenn es kalt wird?" Elias denkt nur kurz nach. "Dann werde ich ganz starr. Und du?" Mila nickt, auf diese Frage ist sie vorbereitet. "Ich schlafe ein, dann verbrauche ich weniger Energie." Mila, Elias und die anderen sind heute in die Rollen von Eichhörnchen, Eidechsen, Pinguinen und Fröschen geschlüpft. Im Rollenspiel tauschen sie sich über ihre Eigenschaften als gleich- oder wechselwarme Tiere aus. Anschließend sammelt Naturwissenschaftslehrer Benjamin Rode noch einmal das Gelernte. Fast alle Finger gehen hoch, die Kinder haben Spaß an der Übung. Marie jedenfalls ist zufrieden, sie trägt am Ende der Stunde "+++" in ihren Lernplaner ein. In dem spiralgebundenen A5-Heft – alle Kinder an der Integrierte Gesamtschule Hannover-List (IGS List) haben so eins – notiert sie nach jeder Stunde das Thema und bewertet ihre eigene Leistung.

Rode war nicht ganz zufrieden. Nach der Stunde hält er mit Alexandra Kielgas Rücksprache. Die Sonderpädagogin war in der Stunde dabei, sie unterstützt drei Kinder mit Förderbedarf. Schließlich notiert sich Rode, beim nächsten Mal schon zwischendurch und nicht erst am Schluss das Gelernte zu sichern. Von der Erfahrung profitieren auch seine Kolleginnen und Kollegen. Unterrichtsvorbereitung ist an der IGS List Gemeinschaftsarbeit: Die Fachlehrerinnen und -lehrer entwickeln zusammen Arbeitsblätter und Stundenabläufe für ihre jeweiligen Fächer. Dabei entstehen über die Zeit Vorschläge für komplette Unterrichtsgänge, mitsamt Materialien für verschiedene Niveaus. "Das kommt vor allem den Kindern zugute, weil es viel Material und Hilfestellung gibt. Allein könnte man das gar nicht so umfangreich für jede Unterrichtsstunde leisten", sagt Rode. Gleichzeitig entlaste es die Lehrkräfte: "Man kann viel tiefgehender den Unterricht planen, als wenn man jede Stunde neu entwickeln müsste." Und vor allem sei die Unterrichtsqualität auf diese Weise konstant hoch, "anstatt dass nur manchmal ein Kollege ein Feuerwerk abbrennt".

Feuerwerke – oder besser: Highlights – gibt es natürlich trotzdem an der IGS List. Etwa 2013, da besuchte der Dalai Lama die Schule. Jannik zeigt stolz auf das große, farbenfrohe Mandala auf dem Fußboden im ZENtro, einem Besprechungsraum mit viel dunklem Holz und gemütlichen Sofas: "Ein Geschenk des Dalai Lamas." Im Flur neben dem ZENtro hängen Fotos der Begegnung. Eins davon zeigt eine kleine Person in Imkerkleidung, die dem Dalai Lama ein Glas Honig überreicht. "Das ist Paula", erklärt Jannik. "Der Honig kommt aus der Schülerfirma ‚Imkerei‘."

Inzwischen besucht Paula die neunte Klasse, und weil sie noch immer in der Imkerei mitarbeitet, war sie letztes Jahr sogar in Malawi: Antrittsbesuch an der neuen Partnerschule, zusammen mit Jannik und mehreren Lehrkräften. "Sie wollen dort auch eine Imkerei aufbauen und damit zum Lebensunterhalt der Kinder beitragen", erzählt Paula. Außerdem sollten Jannik und Paula herausfinden, was bei zukünftigen Besuchen in Malawi besser laufen könnte. "Wir waren zum Beispiel mit den Impfungen spät dran. Und die Eltern könnte man auch noch mehr einbinden", meint Jannik. "Das wird nächstes Mal besser laufen!"

Verantwortung zu übernehmen ist für Paula und Jannik keine große Sache. Schließlich kommt das in ihrem Schulalltag laufend vor. In den gemischten Lerngruppen etwa, wenn stärkere Kinder schwächeren helfen, und beim Schülercoaching. Oder auch im Schulzoo: Sieben Hühner teilen sich an der IGS List ein Außengehege, daneben wohnen Meerschweinchen und Kaninchen. Die Echsen – genauer: Agamen – und Nattern bewohnen große Terrarien in einem eigenen Flur des Schulgebäudes. Um die Ecke leben weitere Nagetiere: Degus und Springmäuse. Mehrere AGs kümmern sich während des Schuljahres um die Tiere und organisieren sich auch in den Ferien, damit immer jemand Fütterung und Pflege übernimmt. Allerdings sei die Verantwortung nur einer der Vorteile des Schulzoos, meint Jannik: "Naturwissenschaften machen viel mehr Spaß, wenn man zum Beispiel das Verhalten von Reptilien selbst beobachten kann."

Sonnenstrahlen fallen durch das Fenster auf den hellen Holztisch im Büro von Schulleiter Oswald Nachtwey. Am Garderobenhaken: sportliche Jacke und Fahrradhelm. Man sieht es dem drahtigen Herrn am Tisch – blaue Cordhose, Sakko, gepflegter Bart – nicht an, aber Nachtwey ist vor kurzem 63 Jahre alt geworden. Die letzten 26 davon war er hier Schulleiter, die IGS ist auch ein Teil seiner persönlichen Geschichte, er hat sie sogar mitgegründet.

Seitdem arbeitet er daran, die IGS List zu einem Ort zu machen, an dem sich alle wohlfühlen, gut miteinander umgehen und dabei noch viel lernen. "Ich begeistere mich sehr für Pädagogik", sagt Nachtwey, hinter den randlosen Brillengläsern leuchten seine Augen. Seine Statistik kann sich sehen lassen: Rund zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler erreichen den erweiterten Sekundarabschluss I, der den Übergang in die gymnasiale Oberstufe erlaubt. "Mindestens die Hälfte davon kommt ohne Gymnasialempfehlung", betont Nachtwey. Und die soziale Durchmischung der 670 Schülerinnen und Schüler sei deutlich höher als im bürgerlichen Stadtteil List, in dem die Schule liegt.

Was Nachtwey wichtig ist: dass der Erfolg nicht das Ergebnis einzelner pädagogischer Maß- nahmen ist. Davon gibt es zwar viele an der IGS List – etwa die Profilklassen, den 80-Minutenrhythmus, die tägliche Vertiefungsstunde PerLe ("Persönliches Lernen"), die Netbooks, mit denen ab Klasse sieben alle Schülerinnen und Schüler arbeiten –, den Erfolg führt Nachtwey aber darauf zurück, dass sich die vielen Mosaikteilchen zu einem Gesamtbild zusammenfügen, in dem Lernen, Feedback, Verantwortung und Kooperation genau aufeinander abgestimmt sind.

Auf einem Stuhl in Nachtweys Büro liegen Schülerarbeiten: dreidimensionale Pappgebilde, ein vielzackiger gelber Stern, eine graue Insel mit Turm. Schülerinnen und Schüler der zehnten Klasse haben sie in Nachtweys Mathematikunterricht gebastelt, die Aufgabe lautete: Baue ein dreidimensionales Objekt, das ein Kilogramm Reis fassen kann. Nachtwey nimmt die graue Insel, dreht sie langsam hin und her. Die dreiköpfige Schülerinnengruppe hat mit 105 sogar mehr als die 100 möglichen Punkte dafür bekommen, so steht es auf dem Bewertungsblatt. Nicht nur für das kreative Werk, sondern vor allem für die sorgfältigen Skizzen und Berechnungen.

Ein Foto der Arbeit wird auch in ihrem LEO abgelegt. LEO steht für "Lernentwicklungsordner"– eins der neueren Mosaikstücke im Schulkonzept. Seit dem vergangenen Schuljahr dokumentieren die Schülerinnen und Schüler im LEO ihre Arbeitsergebnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen. Er soll ihren Lernweg sichtbar machen und ist auch im "Lerndialog" zwischen Lernenden, Eltern und Lehrkräften wichtig. "Wir wissen aber noch nicht, wo wir damit in fünf Jahren stehen", sagt Nachtwey vorsichtig. "Erstmal müssen wir Erfahrungen sammeln."

Das Kollegium mitnehmen, behutsam ausprobieren – so funktioniert es an der IGS List am besten, hat er gelernt. "Man braucht zunächst eine Vision", sagt Nachtwey. "Und dann muss man langsam, Schritt vor Schritt vorgehen und immer wieder fragen: ‚Was geht gemeinsam?‘"

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert