Porträt

Gedämpftes Murmeln, Englischunterricht in der Klasse 8e. Jan*, 14, wischt über den Bildschirm seines Tablets, öffnet ein Video über Filmprojektoren. Prüfend betrachtet er noch einmal den Beitrag für den Schulwettbewerb "Technikentdecker". Die halbe Klasse hat daran mitgewirkt. Dennis* hat die Animationen gemacht und moderiert: Routiniert erklärt er die Technik, blickt dabei fest in die Kamera. Doch mit dem Ergebnis ist er noch nicht zufrieden. "Das Bild wackelt zu stark", urteilt er.

Während Jan* mit seinem Sitznachbarn im Schnittprogramm am Feinschliff arbeitet, entwickeln seine Mitschüler auf ihren Tablets eigene Lern-Apps: Knobelspiele und Quizfragen zum Thema New England, Karten, auf denen die Schülerinnen und Schüler Staaten zuordnen müssen. Die Einheiten laden sie auf ein Onlineportal hoch, ihr "digitales Klassenzimmer". Jeder löst die Aufgaben des anderen. Jeder in seinem Lerntempo. Die 8e ist eine von zwei Tablet-Klassen am Gymnasium Kirchheim bei München. »Individuelles und eigenverantwortliches Arbeiten in verschiedenen Schwierigkeitsstufen ist auf diese Art leichter umsetzbar«, sagt Bernd Lemanczyk, Englischlehrer und Klassenleiter. Er kann auf mehr Unterrichtsmaterial in allen Schwierigkeitsgraden zugreifen. Und die Schultaschen sind leichter.

"Am Anfang war es komisch, während des Projekts alles auf Englisch zu diskutieren"

Die Schülerinnen und Schüler der Parallelklasse wischen derweil nicht über Monitore, sondern sitzen in Grüppchen zusammen und würfeln. Max* und Tim*, beide 14, haben ein Brettspiel erfunden. "Am Anfang war es komisch, während des Projekts alles auf Englisch zu diskutieren", sagt Max* und erklärt die Regeln: "Ein Schmuggler hat Gold gestohlen - und muss das Ende von Cornwall erreichen." Auf farbigen Feldern mit Aktionskarten üben sie die Grammatik und Vokabeln, passend zu den Lektionen im Englischbuch.

In der Pause drängen sich 1.200 Schülerinnen und Schüler auf den Gängen, sitzen an der Fensterfront und packen Brote aus. Das Schulgebäude, gut 30 Jahre alt, liegt im Grünen, doch nur nach außen ist es ein Idyll. Die Heizung ist kaputt, das Haus für die steigenden Schülerzahlen zu klein. Demnächst soll neu gebaut werden. Auf den ersten Blick ist das GyKi, ein typisch bayrisches Gymnasium, leistungs- und erfolgsorientiert. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich das besondere Konzept: Die Türen zu Lehrerzimmer und Rektorat stehen immer offen. Die Schule kümmert sich um alle Schülerinnen und Schüler, gemäß dem Motto, das auf Plakaten mit Regenbogenherzen im Schulhaus hängt: "Vielfalt leben. Vielfalt lieben."

Kirchheim bei München liegt im Speckgürtel der Landeshauptstadt, rund 13.000 Einwohner, ländlich geprägt. "Veränderte Familienstrukturen, Arbeitslosigkeit, das alles macht vor uns nicht Halt", sagt Lilly Nürnberger, stellvertretende Schulleiterin. Am Morgen, vor Unterrichtsbeginn, hatte sie ein intensives Gespräch mit einem Schüler und seinen Eltern. Die stecken gerade in der Trennungsphase – die Konflikte zu Hause machen sich bei seinen Leistungen bemerkbar.

Im Chemiesaal mit Laugen und Säuren experimentieren

Ein Fall für das "soziale Netzwerk": Jeden Mittwoch setzt sich Nürnberger mit den Jugendsozialarbeitern, Beratungs- und Verbindungslehrern und den zwei Schulpsychologinnen zusammen. Welche Schülerin, welcher Schüler fiel auf? Wie entwickeln sich unsere Inklusionskinder? "Über Lars* haben wir schon seit Wochen nicht mehr gesprochen ", stellen sie fest. Ein gutes Zeichen.

Der Schüler mit Asperger-Syndrom geht mittlerweile in die 9. Klasse. Im Chemiesaal experimentiert er mit Laugen und Säuren. Lars* hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und spült am Waschbecken sein Reagenzglas. "Früher ist er manchmal ausgetickt. Das hat sich total gebessert", sagt eine Mitschülerin. Mit einer Pipette träufelt sie Klarreiniger zum Geschirrspülpulver, prüft dann den pH-Wert. Nebenan rechnet die andere Hälfte der Klasse. Geteilte Übung heißt das Konzept. Nach einer Stunde tauschen sie die Räume. Barbara Wolf unterrichtet Chemie, Kollege Franz Huber Physik. Eine Doppelstunde, zwei Lehrer: ein Luxus, der sich lohnt. Beide können so besser auf schwächere Schülerinnen und Schüler eingehen.

In der 9. Klasse erleben viele der Schülerinnen und Schüler eine kleine Tiefphase, beobachten Lehrer oft. Auch Lia*. Sie hat das Jahr wiederholt, stand erneut auf der Kippe. "Ich hatte Probleme in Chemie, in Französisch und Mathe. Das liegt auch an meiner Faulheit." Sie grinst. "Anfangs war ich motiviert. Dann hat es wieder nicht geklappt." Ihre Klassenleiter schlugen ihr vor, sich mit einem Motivationsschreiben beim Lerncoaching "2gether" zu bewerben. 30 Mentoren betreuen dabei je eine Schülerin oder einen Schüler. Ein Jahr lang trafen sich Lehrerin Verena Pecho und Lia* jede Woche in der Pause, um Zeitpläne zu entwerfen und kleine Ziele zu setzen. Pecho ermutigte sie immer wieder zum Lernen. So hat die 17-Jährige den "Quali", den Mittelschulabschluss, mit einer glatten Zwei bestanden und die Versetzung geschafft. "Ich war total glücklich und habe gemerkt: Es geht doch." Dass sich ihre Lehrerin so intensiv um sie gekümmert hat, hat sie bestärkt, sagt Lia* heute. Jetzt, in der 10. Klasse, sind ihre Noten besser, in zwei Jahren will sie das Abi machen. Falls Lia* wieder Hilfe braucht, kann sie sich jederzeit bei ihrer Mentorin melden. Und auch Verena Pecho hat dazugelernt: "Ich kann nun besser einschätzen, woran es bei manchen hakt: etwa an der Selbstorganisation."

Angst vor schulischem Misserfolg, das ist eines der Kernprobleme, mit dem die Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler nicht alleinlassen wollen. Alle mitnehmen, das heißt auch gemeinsam Konzepte zu entwickeln, sagt Lilly Nürnberger. Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte, die "GyKi-Schulfamilie", erarbeiten in Konferenzen gemeinsam Lösungen: Beispielsweise lernen schon Fünftklässler mit Hilfe von Entspannungsübungen, ihren Stress zu verringern. Es gibt Intensivierungsstunden, freiwillige Extraeinheiten vor Prüfungen. Und Lernkontrollbögen, auf denen die Schülerinnen und Schüler sich selbst einschätzen und abhaken: Was kann ich schon vom Stoff, wo hapert es?

Jedem soll ein Angebot gemacht werden

Jeder Einzelne soll glänzen - in mindestens einem Bereich. Allen Schülerinnen und Schülern ein Angebot zu machen, damit sie auch außerhalb des Unterrichts Stärken entdecken, wünscht sich Lilly Nürnberger. Im Computerzimmer basteln Schülerinnen und Schüler an Robotern, eine Tür weiter treffen sich die Redaktion der Schülerzeitung und die Schach-AG. "Bei so einer großen Schule ist es wichtig, den Einzelnen mitzunehmen - und vor allem zu sehen. Für die Schwächeren machen wir seit langem schon sehr viel. Bei der Förderung der Stärkeren", glaubt sie, "ist noch Luft nach oben. Da arbeiten wir an weiteren Konzepten."

Beispielsweise für Schüler wie André* und Torben*. Am Wahlkurs-Nachmittag tüfteln sie an Ideen für "Jugend forscht". Für ihr letztes Projekt, "Magnetschuhe - Anziehung im All(-tag)", gab es einen Sonderpreis. Stolz zeigen sie ihr Plakat, das nun im Flur hängt. Im Unterricht fühlen sich die beiden Jungs manchmal zu wenig gefordert. "Vor allem in Bio." Seit diesem Schuljahr besuchen die beiden die Universität in München. Mit ihren 14 Jahren sind sie die jüngsten Studenten, als Teilnehmer eines Schülerprogramms für Begabte. Im Biounterricht sind sie den Klassenkameraden nun oft einen Schritt voraus. Dafür können sie andere unterstützen. Auch das gehört am GyKi dazu: jeder lernt von jedem.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert