Porträt
Von außen sieht die Martinschule in Greifswald aus wie eine gewöhnliche Schule, wie sie noch zu Hunderten in den neuen Bundesländern steht. Fast ausnahmslos alle der weit mehr als 2.000 Schulneubauten in der DDR sind nach einer genormten Bauweise entstanden; die Gebäudetypen heißen Erfurt, Chemnitz, Leipzig oder Halle, benannt nach den ehemaligen Bezirken der DDR. Die Martinschule gehört zum Typ Rostock: ein langer viergeschossiger Block mit drei Treppenhäusern, die nur im Erdgeschoss miteinander verbunden sind; an der Hinterseite verstecken sich zwei Fachraumgebäude, die mit Verbindungsbauten an das Haupthaus angeschlossen sind. Im früheren Bezirk Rostock, der sich nahezu über die gesamte mecklenburg-vorpommerische Ostseeküste erstreckte, ist ein Großteil der Schulen nach genau diesem Modell gebaut worden.
Heute unterrichtet Anne Wende in der zweiten Etage – sie ist Lehrerin am Evangelischen Schulzentrum Martinschule, unter dessen Dach alle Kinder und Jugendlichen willkommen sind – ganz gleich ob mit oder ohne Handicap, Förderbedarf, Religionszugehörigkeit oder besonderer Begabung. Anne Wende ist zuständig für eine Stammgruppe in der fünften Klasse. Das heißt: Bis zur siebten Klasse lernen maximal zwölf Kinder in einer Stammgruppe – ganz gleich ob hochbegabt, gehandicapt oder "Regelschüler". Statt wechselnder Lehrkräfte für unterschiedliche Fächer haben die Schülerinnen und Schüler einer Stammgruppe möglichst eine Lehrerin oder einen Lehrer für alle Fächer. "So können wir die Kinder viel besser kennenlernen, ihren Bedürfnissen gerecht werden und sie intensiv begleiten, als von Klasse zu Klasse und von Raum zu Raum springen zu müssen. Wie soll man da jedes Kind kennen?", erklärt Wolfram Otto, Koordinator der Stufen fünf bis sieben.
Auf dem Stundenplan von Anne Wendes Stammgruppe steht Kunst, aber nicht nur für ein oder zwei Stunden, wie an den meisten Schulen üblich, sondern den ganzen Tag, eine ganze Woche lang. Ziel dieses ungewöhnlichen Ansatzes ist es, den Kindern zu ermöglichen, sich mit einer Aufgabenstellung in Ruhe und ausführlich auseinandersetzen zu können und nicht nach 45 Minuten den Tuschekasten und die Pinsel bis zur nächsten Woche wegräumen zu müssen. Diese Kunstwochen haben die Martinschülerinnen und -schüler mehrmals im Jahr. Das aktuelle Thema heißt "Die Kunst der Zeichnung". Mit leiser, ruhiger Stimme erklärt Anne Wende den Kindern, was eine Parallel-, was eine Kreuzschraffur ist. Liam* und Jolina sind lauter als die Lehrerin, sie kippeln mit dem Stuhl, stehen auf, setzen sich wieder hin, spielen mit dem Lineal, triezen sich gegenseitig. Anne Wende ist gelassen und lässt das Duo gewähren. Nur Schimpfwörter sind nicht erlaubt.
Neben der Lehrerin sind noch zwei weitere Erwachsene im Klassenraum: zwei Integrationshelferinnen, die zwei Kindern mit geistiger Beeinträchtigung zur Seite stehen. Eines von ihnen ist Marlene. An der Martinschule hat jedes Kind seinen eigenen Lernplan, mit dem es die Aufgaben für die Woche plant und umsetzt. Marlene helfen kleine Bilder im Lernplan bei der Orientierung, richtig lesen kann sie noch nicht.
Ihr Wochenziel: Buchstaben erkennen und Mengen erfassen. Die Fünftklässlerin malt mit Filzstiften das Deckblatt ihres Arbeitsheftes aus, während die anderen Kinder mit Bleistift und Kohle selbst unterschiedliche Schraffuren ausprobieren.
Als Marlene fertig ist, steht sie auf und unterbricht ihre Klassenkameradinnen beim Zeichnen: "Guckt mal", sagt sie und zeigt ihr buntes Bild. "Oh, cool, schön hast du das gemacht", sagt ein Mädchen, und die anderen am Tisch lächeln zustimmend. Marlene freut sich über die Wertschätzung und setzt sich zurück zu ihrer Integrationshelferin, von denen insgesamt 60 an der Martinschule arbeiten, und malt weiter. Die Mädchen vertiefen sich wieder in ihre Zeichnungen. Währenddessen setzt sich Anne Wende zu Jolina und Liam und erklärt ihnen auf Augenhöhe, was zu tun ist. Die beiden arbeiten kurz mit, stehen auf und sagen: "Wir brauchen jetzt eine kurze Pause." Sie rennen über den Flur, bis Jolina sagt: "Komm, wir müssen zurück, sonst gibt es Ärger."
Die beiden Kinder benötigen Förderung im emotionalen und sozialen Bereich. Fast die Hälfte der 550 Schülerinnen und Schüler an der Martinschule hat sonderpädagogischen Förderbedarf – ein Wert, der weit über dem mecklenburgvorpommerischen Landesdurchschnitt von 10,8 Prozent für das Schuljahr 2015/16 liegt. Parallel sind an der Martinschule die Ergebnisse der VERA-Vergleicharbeiten, der – zentralen Abiturklausuren und die Abschlussergebnisse der mittleren Reife seit Jahren besser als der Landesdurchschnitt. Jede Schülerin und jeder Schüler verlässt die Martinschule mit einem "Abschluss" – auch Marlene wird später ein schulinternes "Abschlusszeugnis" bekommen.
Doch zuvor profitiert sie von dem jahrgangsübergreifenden, neu entwickelten Lernkonzept, das auf drei Säulen basiert: In der Schülerfirma "Häppchen & Co" bereiten die älteren Schülerinnen und Schüler für die Kinder der Grundschule täglich ein Frühstück zu und lernen dabei den Umgang mit Geld, den Erwerb und die Zubereitung von Lebensmitteln. Beim Projekt "Wohnungstraining" erfahren und trainieren die Jugendlichen Selbstwirksamkeit und Teilhabe für den Alltag. In einer extra angemieteten Vierraumwohnung waschen sie Wäsche, decken den Tisch, gestalten die Zimmer und halten sie sauber. Außerdem hat die Martinschule einen Teil einer alten Kaufhalle in ein Abschlussstufenzentrum umbauen lassen, damit die Jugendlichen auf ihr Leben nach der Schule vorbereitet werden.
Der Blick hinter die Türen der Martinschule zeigt: Was hier passiert, ist alles andere als typisch, gewöhnlich oder gar erwartbar. Wer besser verstehen will, dass diese Schule Außergewöhnliches leistet, muss auch ihr Umfeld und ihre Geschichte anschauen. Die Martinschule steht im Greifswalder Stadtteil Schönwalde I. Doch der Name trügt. Hier ist kein Wald zu sehen und die Schönheit des Viertels erschließt sich auch nicht auf den ersten Blick. Nur die Möwen am Himmel verraten mit ihrem Kreischen, dass die Ostsee nicht fern ist.
Schönwalde I ist eine klassische Plattenbausiedlung, wie sie zu DDRZeiten in fast allen ostdeutschen Städten entstanden ist. Als 1973 im nur wenige Kilometer entfernten Kernkraftwerk Lubmin der erste Reaktor in Betrieb ging, brauchte Greifswald dringend Wohnraum für die Mitarbeiter und deren Familien. Mehr als vier Jahrzehnte später ist das einst größte Atomkraftwerk der DDR stillgelegt, nur die Straßen in Schönwalde I erinnern noch an die Vergangenheit: Ihre Namen sind Lomonossowallee oder Kurtschatowweg, benannt nach Physikern und Chemikern. Auch das Grau der Stahlbetonplatten ist längst übermalt, die Wohnhäuser sind saniert und nur vereinzelt erzählen überlebensgroße Wandgemälde von der sozialistischen Vergangenheit. Der Wohnraum ist günstig, rund 5,40 Euro kostet hier der Quadratmeter für eine Mietwohnung. In Schönwalde I wohnen Rentner, Studenten, Geringverdiener und Menschen mit Migrationshintergrund.
Während der DDR-Zeit galten geistig behinderte Kinder als "schulbildungsunfähig". Staatliche Schulen, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt waren, gab es schlichtweg nicht. Deshalb übernahm in Greifswald diese Aufgabe die Johanna-Odebrecht-Stiftung und eröffnete 1976 eine Fördertagesstätte für Kinder mit Beeinträchtigungen in der geistigen Entwicklung.
Mit der Wende bekamen diese Kinder und Jugendlichen ein gesetzlich verankertes Recht auf Bildung – und die Odebrecht-Stiftung erhielt 1992 die Genehmigung, eine "Schule zur individuellen Lebensbewältigung", eine Schule für geistig Behinderte, zu gründen. "Eine Finanzierung für einen Schulneubau wäre damals möglich gewesen", sagt Schulleiter Benjamin Skladny, der von Anfang an bis heute die Martinschule maßgeblich geprägt hat. Doch die Entscheidung fiel bewusst gegen einen Neubau irgendwo am Rande der Stadt: Die neue Schule, die erst 1994 ihren Namen Martinschule erhielt, zog in die Räume einer ehemaligen Kindertagesstätte mitten in Schönwalde I, dorthin, "wo alle uns sehen können", sagt Skladny.
Seit damals ist viel passiert. Das Gebäude der Kita wurde von Grund auf saniert und auf dem Außengelände wichen die Betonplatten einem großzügigen Spielplatz, der für Skladny ganz selbstverständlich, für alle Kinder des Stadtteils zugänglich ist, nicht nur für die Schülerinnen und Schüler der Martinschule. Zehn Jahre nach der Gründung wurden die Räume zu klein und die Martinschule bezog 2002 das nächste Gebäude in unmittelbarer Nachbarschaft – das Schulhaus Typ Rostock. Mit dem Einzug folgte die Erweiterung des schulischen Angebots: Neben der bereits bestehenden Schule zur individuellen Lebensbewältigung wurden im selben Haus eine Grundschule und ein Schulhort gegründet – die Geburtsstunde des Evangelischen Schulzentrums Martinschule. Vier Schuljahre später folgte der nächste große Schritt: Ab sofort war, dank der Ergänzung um den Bildungsgang einer Integrierten Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe, auch das Abitur an der Martinschule möglich.
Während manche Bildungspolitiker die Inklusion für gescheitert halten, beweist die Martinschule, dass ihr außergewöhnliches Inklusionsmodell funktioniert: Jahre bevor die UN-Behindertenrechtskonvention 2008 in Kraft trat und sich die Unterzeichnerstaaten auf einen gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung verständigten, ging die Martinschule den Weg der Inklusion – und zwar umgekehrt. Die ursprünglich ausschließlich für Kinder mit geistiger Behinderung gedachte Schule öffnete sich nach außen und holte Regelschülerinnen und -schüler zu sich. Mit diesem Ansatz verfolgen Skladny und sein Team ein hehres Ziel: Sie wollen zwei Schulen – eine Regelschule und eine für Kinder und Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen – zu einer guten Schule für alle verschmelzen. Ein Ziel, das sich nicht einfach eines Tages als erledigt abhaken lässt, sondern konsequente Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität erfordert. Ein Ziel, das die Schule selbstbewusst auch in ihrem Leitbild verankert hat: "Wir machen Schule – evangelisch, weltoffen, inklusiv, reformpädagogisch, ganztägig".
Ein Ziel, das nicht unumstritten ist im Kollegium. Stufenkoordinator Wolfram Otto weiß das nur zu gut. Er hat das Konzept der Stammgruppen mitkonzipiert und umgesetzt. Seine Pläne, dieses Konzept zukünftig auf die Stufen acht und vielleicht neun zu übertragen, stößt auch auf Widerstand. Skeptiker gab es bereits bei der Umsetzung der Idee in den Stufen fünf bis sieben, doch der Erfolg ließ viele Kritiker verstummen. Die Martinschule schafft Raum und Zeit für regelmäßige Teamgespräche – dann können die Lehrerinnen und Lehrer Sorgen loswerden, Kritik ansprechen, und Wolfram Otto hat Gelegenheit, seine Kolleginnen und Kollegen zu beraten, zu unterstützen und von seinen Ideen zu überzeugen. Otto brennt für das Konzept des gemeinsamen Unterrichts in kleinen Gruppen und steckt mit seinem Elan und seiner Begeisterung auch die Kolleginnen und Kollegen an. Ottos Idee war es auch, die vier Etagen des Schulgebäudes Typ Rostock den einzelnen Klassenstufen zuzuordnen.
Ganz oben arbeiten die Kinder der Klassenstufe sieben, die dritte Etage gehört der Stufe sechs, die zweite Etage ist der Bereich für den fünften Jahrgang und im Erdgeschoss sind Lehrerzimmer, Sekretariat und Fachräume untergebracht.
Benjamin Skladnys Büro ist immer noch in der ehemaligen Kindertagesstätte, die heute den Grundschulteil der Martinschule beherbergt und wo vor mehr als einem Vierteljahrhundert alles angefangen hat. Zeit zum Unterrichten hat er nicht mehr, die Leitung der Martinschule nimmt Benjamin Skladny ganz in Anspruch. Er sitzt schon an den nächsten großen Plänen für die Schule. Er träumt von der Gründung einer Kindertagesstätte, von einem eigenen Schullandheim und von einer eigenen Turnhalle. Die Martinschule ist zwar über drei Gebäude in Schönwalde I verteilt, eine eigene Halle für den Sportunterricht hat sie bislang aber nicht. Noch lange bevor der erste Spatenstich gemacht ist, fragen schon die ersten Vereine an, ob sie die Halle auch nutzen dürfen. Klar, sagt Benjamin Skladny. Die Martinschule ist eine Schule für alle – dort, wo alle sie sehen können.
* alle Schülernamen von der Redaktion geändert