Porträt
Es ist so ruhig in dieser Schule. Kein Stimmengewirr auf den Fluren, kein Getrappel, kein Geschrei. Die Grundschule St. Nicolai in Westerland, direkt neben dem Bahnhof gelegen, hat einen besonderen Grundton. Wer durch die Flure geht, muss schon die Ohren spitzen, um etwas zu hören, obwohl alle Türen zu den Klassenzimmern weit offen stehen. Drinnen wird geschäftig und konzentriert gearbeitet. Kein Kind lässt sich stören. Auch Janna nicht, die gerade Lesestunde in der Montessori-Klasse hat. Mit dem Rücken zur übrigen Klasse sitzt die Erstklässlerin in einer Ecke des Raumes vor dem PC, die blonden, leicht zerzausten Zöpfchen umwickelt mit Haarband, rot und pink, vor sich ein Buch: "Das verwunschene Einhorn". Janna reagiert nicht, als ihr der Schulleiter über die Schulter hinweg eine Frage stellt, sie überhört auch das Kichern und Tuscheln von Maciej und seinen Kumpels, die es sich unter den Tischen gemütlich machen, in der Lesestunde ist das erlaubt.
Janna ist ein "plietsches" Kind, wie man an der Küste sagt, sie ist besonders aufgeweckt, braucht viel "Futter". Ähnlich wie ihr Mitschüler Felix, der schon Aufgaben für Zweitklässler löst und demnächst eine Klasse überspringen wird.
Die kleine Schule St. Nicolai - 180 Kinder, 22 Lehrerinnen und Lehrer - schafft, was vielen Schulen kaum lösbar erscheint: komplett unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Zur Inklusion behinderter Schüler kommt nun die mindestens ebenso anspruchsvolle Integration von Flüchtlingskindern - und als wäre das nicht genug, fördert die Schule auch noch Begabte wie Janna und Felix. Jannas Mutter hatte anfangs Zweifel, ob dieser Dreiklang funktionieren kann. Als sie ihre älteste Tochter Nommi, inzwischen in der Vierten, einschulte, "war ich noch eine Gegnerin der Inklusion", bekennt Susanne Rohde, auch aus persönlicher Erfahrung. Sie hat einen behinderten Bruder. Susanne Rohde sorgte sich, dass bei diesem Modell alle zu kurz kommen, behinderte und nicht behinderte Kinder. Nach Nommis erstem Jahr in der Schule St. Nicolai sagt sie: "Diese Sorge ist weg."
Jannas Förderung begann schon, als sie noch den Kindergarten besuchte. Weil sie im letzten Jahr dort unterfordert war - Gleichaltrige, mit denen sie Schach spielte, fehlten -, durfte sie einmal pro Woche in die Grundschule. Die Fünfeinhalbjährige blühte auf, lernte fast nebenbei lesen.
Inzwischen besucht Janna die Montessori- Klasse. Die besteht aus vier Klassenstufen mit Kindern zwischen sechs und zehn Jahren. Erstklässlerin Janna bekommt von ihrer Lehrerin eine andere Aufgabe als ihr Tischnachbar Maciej, dessen Familie aus Polen stammt, oder Zweitklässler Ole, der schon Matheaufgaben der dritten Klasse erledigt und nebenbei noch ganz locker einen Witz zum Besten gibt. Klassenlehrerin Maren Kusber-Albertsen leitet ihre Klasse wie ein Dirigent sein Orchester. Über weite Strecken wissen die Kinder, was zu tun ist, nur hier und dort brauchen sie einen Einsatz.
"Einmaleins-Kinder arbeiten im Arbeitsheft Flex und Flo, Seite 30", sagt sie. "Wer fertig ist, holt sich den Arbeitsplan. Ole und Malte machen ihren Arbeitsplan weiter. Klasse eins guckt zu mir." An der Tafel klebt ein Schild: "Ich arbeite zielstrebig." Hausaufgaben gibt es in mindestens acht Variationen. Einmal die Woche darf Janna ins "Geistreich", eine Kammer unterm Dach mit Blick auf die benachbarte Kirche St. Nicolai. Den Namen haben Kinder erfunden, weil bei geöffnetem Fenster der Wind so schön geisterhaft durch den Raum weht. Dort probiert Janna neue Spiele aus. Britta Frank, eine von vier Lehrerinnen mit einer Zusatzausbildung als Begabungsberaterin, gibt Tipps. Janna bekomme genügend Anregung, sagt ihre Mutter, "sonst würde sie anfangen zu quatschen." Und sie lerne an dieser Schule noch etwas: "Rücksichtnahme und Miteinander." Schließlich sitzen hinter den offenen Türen der Klassen dunkel- und hellhäutige Kinder, Kinder mit Kopftuch, Kinder im Rollstuhl, Kinder mit Down-Syndrom, Kinder, die gerade in Afghanistan ihren Vater verloren haben. Kinder mit vielen Talenten. Die Unterschiede beeindruckten auch die Jury des Deutschen Schulpreises: Heterogenität werde hier "bewusst aufgenommen, nicht bekämpft".
Auf der Insel mit ihren teils exorbitanten Grundstückspreisen leben immer weniger Familien mit Schulkindern. Drei Grundschulen existieren noch, in Kampen schlossen sie sogar den Kindergarten. Doch inzwischen gibt es neben alteingesessenen Familien eine wachsende Zahl von Migranten, die sich um die Häuser der Reichen kümmert, in Hotels und Gastronomie arbeitet und in Sozialwohnungen wohnt. Und seit kurzem auch Flüchtlingskinder.
Noch vor wenigen Jahren hatte die Grundschule St. Nicolai einen schlechten Ruf, sie galt "als Problemschule für die unteren sozialen Schichten". Im Jahr 2011 übernahm Horst-Peter Feldt, der bis dahin Konrektor der benachbarten Förderschule war. Er sollte beide Schulen fusionieren.
Feldt ist Sonderpädagoge, aber er hat auch Schulmanagement und Qualitätsentwicklung studiert. Er habe sich und dem neuen Kollegium damals drei Fragen gestellt: Welche Stärken haben wir? Was wollen wir erreichen? Welche außerschulischen Partner haben wir? Andere Schulen auf Sylt lockten den Nachwuchs mit Arbeitsgemeinschaften für Reiten und Golfen. Die Schule St. Nicolai lockte mit Vielfalt. "Ich sagte mir, wir müssen offensiv damit umgehen, wen wir bei uns haben - Rothaarige, Schwarzhaarige und Blauhaarige", sagt er und lacht. "Und klarmachen: Das ist gut so."
In einem Raum am Ende des sonnengelb gestrichenen Flurs sitzen Asma mit buntem Kopftuch, Sara und Rayana auf dem Teppich, jede mit einer knallbunten Fliegenklatsche in der Hand. Ihre Lehrerin legt Spielkarten mit verschiedenen Motiven aus. Zirkus, Kühlschrank, Bügeleisen, Apfel, Kartoffel. "Klatsche hoch!", befiehlt Sara. Gleich wird Ricarda Thiesen den Begriff auf Deutsch nennen. Wer zuerst auf die Karte haut, bekommt sie. Die Mädchen, die erst seit wenigen Wochen in Deutschland sind, lieben das Spiel, auch die siebenjährige Rayana aus Russland, die bei jedem Wort entschlossen auf die Kartoffel haut - Asma und Sara sind einfach fixer. Bald wird Rayana die Wörter kennen. "Nach einem halben Jahr explodiert der Wortschatz", sagt die Lehrerin.
Das System "Kinder helfen Kindern" ist überall sichtbar. Und manchmal ist gar nicht erkennbar, wer wem mehr hilft. Beispielsweise in der dritten Klasse, die heute im Labor arbeitet. Dort setzt sich Nieke neben Louisa, die sehgestört, körperlich und geistig behindert ist und nur Laute von sich geben kann. Als Nieke versucht, eine Spielkarte unter einer Münze wegzuziehen, die dann ins Glas fällt, schaut Louisa neugierig zu. Manchmal hält Nieke einfach nur die Hand von Louisa. Nieke hilft Louisa, aber Louisa auch ein bisschen der schüchternen Nieke. "Es macht mir Spaß, mit Kindern zu arbeiten", sagt die Neunjährige mit ernsthaftem Blick. Das habe sie erst durch die Schule und durch Louisa entdeckt. Louisa hat eine Heilpädagogin zur Seite, die sich nicht nur um das behinderte Kind, sondern um die ganze Klasse kümmert. Zu den multiprofessionellen Teams der Schule gehören Lehrer, Erzieher, Betreuer, Begabtenlehrer und Sozialpädagogen. Inklusion heiße "vorbereitet sein", definiert der Schulleiter. Selbst auf den Fall, dass in der nächsten Stunde ein Dutzend Flüchtlingskinder vor ihm stünde. "Dann", sagt er, "machen wir eben eine neue Klasse auf."