Porträt

Die Türen des Humboldt-Gymnasiums in Potsdam erinnern an die Zaubererschule des Harry Potter. Wie in den Romanen von Joanne K. Rowling lauern dahinter Geheimnisse und Überraschungen. Da ist die Eingangstür zum alten Zentralbau, majestätisch von Klinkerornamenten gerahmt, aber zugemauert - Stufen davor fehlen, deshalb liegt die Schwelle unerreichbar in 1,60 Meter Höhe. Rechts davon eine metallene Tür mit der Aufschrift "Bitte nicht betreten"; dahinter weht eine Plastikplane. Wenigstens in der Baracke, einen Steinwurf entfernt, öffnet sich eine klapprige Holztür zum "Sockenraum" mit einem dicken Teppich. "Scena incipit, die Szene beginnt", ruft Lehrerin Anett Kettner und schwingt die Hand, als halte sie einen Zauberstab. Drei Schüler, in römische Togen gehüllt, inszenieren ein Theaterstück auf Latein. "Hic, Lydia", rufen sie, und: "Salve!"

Die Schule ist eine Baustelle. Seit Jahren. Und hat inmitten von wachsenden Neubauten und Betonmischern ein Leben entwickelt - eine leistungsfördernde Atmosphäre, bei der Lernen allgegenwärtig ist. "Leistung und Zufriedenheit sind siamesische Zwillinge", sagt Schulleiterin Carola Gnadt. Ihr Büro hat sie in der Baracke bezogen, die dünnen Wände erinnern an Container. "Daher haben wir im Lauf der Jahre am Schulklima gearbeitet, die offenen Ganztagsangebote erweitert." Und an der Qualität des Lernens gefeilt, besonders Begabte gezielt gefördert. "Den Schlüssel zum Erfolg", sagt Gnadt, "haben wir in der Gemeinsamkeit gefunden."

Im "Sockenraum" gleich gegenüber beispielsweise besprechen Jungs und Mädchen der 8 l die Spielszene ihrer Mitschüler. "Ihr habt den Text schön und sicher vorgetragen", findet Uwe*, 13. "Ein bisschen mehr Requisite hätte gut getan", schlägt Lea, 12, vor. Draußen lärmt ein Bagger. Leistung nicht für die Lehrerin oder den Lehrer bringen, sondern für sich selbst und mit den anderen Schulkindern - dieses Lernprinzip zieht sich durch den Schulalltag. Ob eigenständig, in Kleingruppen oder als Klassengemeinschaft: Jedem Schritt folgt ein Feedback.

Seit Jahren ist das Humboldt-Gymnasium eine begehrte Adresse, nicht nur beim Bildungsbürgertum. Ein Drittel der 710 Schulkinder kommt aus Arbeiterfamilien. Die Attraktivität gründet auf dem Erfolg der Schule: Bei Vergleichsarbeiten der Jahrgangsstufe 8, bei Abschlussprüfungen am Ende der Jahrgangsstufe 10 und in den Abitursnoten liegen die Humboldt-Schülerinnen und -Schüler über dem Landesschnitt. Als die Schule Leistungs- und Begabungsklassen ab dem fünften Jahrgang einrichtete, wurde es eng in den Räumen. Einen ersten Anbau gab es 1996, einen weiteren zum September 2015, und Ende dieses Jahres soll auch der alte Zentralbau, derzeit gesperrte Baustelle, in neuem Glanz dastehen.

Lernen braucht Abwechslung. Daher schließen sich an die 90 Minuten langen Unterrichtsblöcke immer wieder andere Lernsituationen an, wie Arbeitsgemeinschaften, "Aktivteams" oder individuelle Treffen, heute beispielsweise zwischen den Schülern Henok aus der 10 b und Achtklässler Peer im ersten Stock des Neubaus namens "Wilhelm". "Waren die Aufgaben in der letzten Mathearbeit ein Schock?", fragt Henok. "Neenee, hab sogar eine Drei plus geschafft", antwortet Peer.

Das Humboldt-Gymnasium versteht sich als ein Ort, der "Stärken stärkt und Schwächen schwächt", so Schulleiterin Carola Gnadt. Im "Huckepack"-Projekt helfen leistungsstarke Schülerinnen und Schüler den schwächeren. Die freiwillige Nachhilfe soll eigentlich mit fünf Euro pro Stunde vergolten werden, Henok will aber kein Geld nehmen, "nur helfen. In Mathe geht es ums Verständnis. Wenn das fehlt, hilft auch Pauken nicht", sagt er. Und Peer ergänzt: "Mit Henok verstehe ich mehr, bei ihm geht’s ruhiger, leiser und komprimierter zu." Und wendet sich einer Schnittpunktberechnung zu, die ihm der zwei Jahre ältere Henok aufgegeben hat.

Manche Schülerinnen und Schüler stimmen sich mit den Lehrkräften über individuelle Förderpläne ab. Im Beratungsraum nebenan treffen sich Bea, Nadine und Helene von der 9 l mit Englischlehrerin Beate Czech. "Wir würden gern ›Will Grayson, Will Grayson‹ lesen", sagt Nadine. "Dazu könnt ihr auch Essays schreiben, etwa zu Stereotypen über schwule Teenager", schlägt die Lehrerin vor. Die drei zeigen seit Jahren sehr gute Leistungen in Englisch. Nun schließen sie mit Czech einen Vertrag über "besonders anspruchsvolle Lernleistungen"; im Gegenzug sind die Schülerinnen vom Unterricht befreit. "Aber wir schauen ab und zu rein", sagt Bea. "Sonst verpassen wir zu viel."

Unterricht - der soll konzentriert und entspannt zugleich funktionieren. Im Physikraum sitzen die Schülerinnen und Schüler der 9 a in Kleingruppen zusammen und brüten über verschiedenen Aufgaben. Aus einem Ghettoblaster dringt "Dancing Queen" von ABBA. Georg und Raik haben sich Wilhelm Busch vorgenommen: die drei Hennen und den Hahn aus "Max und Moritz", die miteinander verknotet in verschiedene Richtungen eilen. Mit der Software "Geogebra" errechnen beide die Kräfteverhältnisse. "Also, wenn Henne 3 fehlt", murmelt Raik, "dann ändert sich für die anderen Viecher nichts." Und experimentiert eifrig mit anderen Hennen, die er am Bildschirm losrennen lässt.

Ambitioniert zeigen sich die Arbeitsgemeinschaften der Schule: Da reiht sich "Offene Physik" an die "Chemie-Akademie", "Chinesisch" an "Altgriechisch" und "Kräuter" an "Anti-Rassismus". Zwischen Mittagspause und dem nächsten Unterrichtsblock um 12:30 Uhr treffen sich ein paar "Aktivteams" - es gibt einiges zu bereden.

Im Erdgeschoss des "Wilhelm"-Trakts eilen Schülerinnen und Schüler in einen leeren Klassenraum. "Wir müssen jetzt mit den Vorbereitungen beginnen, sonst läuft uns die Zeit davon", sagt Anja, 15. Aktivteams sind eine Mischung aus AGs und projektförmigen Vorhaben - hier im Raum W0.14 besetzen 20 Teammitglieder drei Tische, jeder an einer Seite mit Rollen an den Tischbeinen versehen, stellen sie schnell zu einem Dreieck zusammen und scharen sich um Anja; es tagt das Aktivteam "Flüchtlinge". Vor kurzem hat sich eine Erstaufnahmestelle neben der Schule angesiedelt: Anja stellt einen Stadtplan auf Arabisch vor, den das Team entworfen hat. "Das Sponsoring für den Druck steht", sagt sie. "Haben wir dann noch Geld für ein Sommerfest mit den Flüchtlingen?" Kassenwart Meik, 17, nickt. "Aber nur, wenn wir improvisieren. Also viele kostengünstige Sportspiele und so."

Nebenan beim Aktivteam "Politik" geht es weniger hektisch zu. Man plant ein Forum, auf dem Schülerinnen und Schüler kontroverse Themen diskutieren können, "für den schnellen Gedankenaustausch", sagt Eva, 16. "Auf jeden Fall brauchen wir eine Art Chatroom, verlinkt mit der Schul-Website." Henri, 13, wirft ein: "Warum nicht einfach eine Pinnwand in der Aula? Da ist Platz." Die Aula leert sich, man eilt zum Unterricht. Vom Kiosk am Ende weht Zimtduft frisch gebackener Franzbrötchen herüber. Plötzlich ist es ruhig. Nur von fern ein Presslufthämmern. Bald, gegen Ende des Jahres, soll jeder Baulärm enden. Schon jetzt wirkt der Krach gedämpft. Als könnte nichts dieses gute Schulklima erschüttern.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert.