Porträt

Vier Krähen begrüßen den Tag an der "Schule für Erwachsenenbildung" (SFE). Die Beine angewinkelt, das Körpergewicht auf den Händen, blicken Benni *, Jens, Anne und Henri auf ihren Lehrer. Es ist kurz nach halb acht. In einer Stunde wird der Unterricht beginnen. Die vier nutzen die Ruhe für Yoga in Position der Rabenvögel - hier in der Aula im dritten Stock eines ehemaligen Fabrikgebäudes in Berlin-Kreuzberg. "Gleich fliegt ihr los", murmelt Gian und schließt die Augen. Auch der 22-jährige Gian ist Schüler an der SFE, er bietet Yoga-Übungen ehrenamtlich an. Da knallt von hinten eine Tür. Theo hastet herein. "Hatte mein Sportzeug vergessen", sagt er und lächelt. "Wie früher."

Theo ist 22. Früher - dieses Wort ist an diesem Frühlingstag in den betongrauen Fluren oft zu hören. Früher besuchten die Schülerinnen und Schüler andere Schulen. Früher klappte etwas nicht, knirschte und blockte es. Die SFE ist eine zweite Chance - für junge Menschen, die ihre Schule abbrachen, nicht klarkamen oder gleich ins Erwachsenenleben starten wollten und einige Jahre später ihren Bildungshunger entdeckten. Die Geschichte der SFE ist die eines kleinen Wunders.

Zum Biologieunterricht der Klasse K4 geht es durch den Flur am Schwarzen Brett vorbei, auf dem Arbeitsgemeinschaften für "Hacking", "Kampfkunst" und "Türkisch" werben. Mit "Bio-Ute", wie alle die Lehrerin Ute Richter nennen, will die K4 heute Stammesgeschichte durchnehmen; doch erst einmal muss Geld her. "Wir brauchen noch sechs Euro zum Kopieren der Unterlagen", sagt Skip, 27. Die sechs Schülerinnen und Schüler legen zusammen. Die SFE ist die einzige Schule im deutschsprachigen Raum, die sich selbst verwaltet. Lernende und Lehrende agieren nicht nur auf Augenhöhe, sondern organisieren ihr gesamtes Schulleben basisdemokratisch. Wichtigstes Strukturmerkmal ist, dass es keine Strukturen gibt.

Die sechs von der K4 sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Alle haben irgendwann den Realschulabschluss absolviert. Skip und Ede sind Köche geworden, Anja hat in der Altenpflege gearbeitet. Die anderen drei möchten nicht verraten, was sie gemacht haben. Nun beziehen alle sechs BAföG. Und büffeln fürs Abitur. Einige jobben noch nach Ende des Unterrichts um halb zwei. Ebenso einige Lehrkräfte: Ihr Gehalt berechnet sich nach einem Stundenlohn von 12,50 Euro, mehr als 1.300 Euro netto werden es im Monat selten. Alles begann 1973 mit einem Streik. Schülerinnen und Schüler einer kommerziellen Privatschule protestierten gegen einen autoritären Rektor und forderten mehr Rechte. Es kam zu Streik und Polizeieinsatz, Schüler organisierten wegen der nahenden Abiprüfungen einen Gegenunterricht und fanden Gefallen daran. Sie verließen die Schule und gründeten ihre eigene. Der Monatsetat von 32.000 Euro wird ausschließlich von ihrem monatlichen Schulgeld bestritten. Eine Förderung hat die SFE nie erhalten und wollte dies auch nie, um der Unabhängigkeit willen. Seitdem drohte der Schule mehrfach die Insolvenz, auf die sie mit dem Einfrieren der Lehrergehälter reagierte.

Lehrerin Ute Richter, 60, wartet, bis jeder ein Arbeitspapier gelesen hat. "Was erzählen uns Embryonen über die Stammesgeschichte?", fragt sie. Skip murmelt: "Sie tragen die Merkmale ihrer Vorfahren." Rasch entfaltet sich eine Diskussion. "Plattfische wie Schollen zum Beispiel", sagt Ute Richter, "ähneln zwar Rochen, sind aber nicht mit ihnen verwandt, sondern mit Heringen." Ede unterbricht. "Ute, kannst du mir noch eine Klausur zum Üben mitgeben?"

Der Unterricht an der SFE ist nur schwer anhand von Kategorien zu beschreiben. Mal ist er klassisch frontal, mal reine Kleingruppenarbeit, mal offene Diskussion - alles gemäß dem Motto, das auf einem an die Wand genagelten blauen Schulshirt prangt: "Bildet Banden, bildet euch!" Der Unterricht ist jedenfalls anders. Die Schülerinnen und Schüler entscheiden, was sie wann wie lernen. Sie sind verantwortlich für ihr Lernen. Prinzipiell können sie sogar ihre Lehrkräfte abwählen. Das spornt an. Noten gibt es keine, es sei denn, die Schüler wollen eine, Klausuren werden nur zum Selbstcheck geschrieben; zur Vorbereitung aufs Abitur, das extern abgelegt wird. Die Lehrerinnen und Lehrer richten sich nach den Wünschen der Schülerinnen und Schüler. Die üben in der Regel zielgerichtet auf die Prüfungen hin, verlangen zahlreiche Klausuren und ausführliches Feedback - welches Ute Richter mit einem Bleistift an den Klausurenrand schreibt; mitunter mehr Text als jener der Schüler. Oft treffen sie sich am Wochenende in Kleingruppen, um weiterzuüben. Wer hier landet, geht ein Arbeitsbündnis ein. In der K4 wird konzentriert gelernt. Dennoch wirkt alles lässig.

Anja schreibt eine SMS, während Ute Richter über das menschliche Steißbein referiert. Unter dem Tisch von Skip kaut eine große Hündin auf einem Holzstock. Zehn Minuten vor Unterrichtsschluss kommt Jasmin rein, mit ihrer Bullterrierin, die einen Maulkorb trägt. "Hatte noch zu tun", sagt sie. Als der Bio-Unterricht endet, regt sich in der Ecke ein dritter Hund.

In der Pause schnappt sich Anja in der offenen Küche in der Aula eine Brotscheibe mit Tofupaste und setzt sich auf die dreistufige Holzbühne. "Mit 15 schmiss ich die Schule", sagt sie. "Die Selektion und die Noten schreckten mich ab." Sie arbeitete, wurde zweifache Mutter. Und will nun mit 30 Lehrerin werden. "Lehrer sollten Schüler nehmen, wie sie sind - ohne Vorstellung davon, wie sie sein sollten." Neben ihr springt Wolf aufs Podium, der 21-Jährige ist gekommen, um mit den anderen für die Abiprüfung in der kommenden Woche zu üben. Die wichtigste Frage, die ein Schüler sich hier anfangs zu stellen habe, sei: "Woher kommt die Disziplin? Hier wird niemand gezogen. Man muss selbst machen." Die Abbrecherquote in der SFE ist hoch. Da ist zum einen die Last der Freiheit. Zum anderen treten hin und wieder finanzielle Engpässe auf, biographische Einschnitte wie Familiengründungen. Oder ein interessanter Job ergibt sich, der den Schulabschluss nicht verlangt.

Die SFE lebt ein selten in Schulen umgesetztes Credo: das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Ein Vorbild für andere Schulen in Sachen Demokratie: Verwaltung, Stundenplan und -inhalte regeln die Schülerinnen und Schüler in Versammlungen. Selbst die Schule putzen sie allein. In vielem war die SFE Vorreiterin, sie praktizierte zum Beispiel selbständiges Lernen zu Zeiten, in denen Pädagogen dies für eine Quadratur des Kreises hielten. So viel Pioniergeist macht zu schaffen.

Denn früher besuchten 800 Schülerinnen und Schüler die SFE - heute nur noch 200. Die Gesellschaft hat hinzugelernt. Es gibt eben nicht mehr nur einen Weg zur Universität. Auch die SFE hat im Lauf der Jahrzehnte viel gelernt. So wird seit einigen Jahren auch mal ein Bauauftrag nach außen vergeben und nicht mehr alles selbst repariert. Und die Schule führte vor zwei Jahren ein fest in den Stundenplan integriertes Tutorenmodell ein: Zwei Lehrkräfte begleiten eine Klasse zusätzlich von Beginn an und betreuen die Schülerinnen und Schüler; geben Hilfestellung, wenn die Selbständigkeit Probleme bereitet. Früher, als die Klasse als "Zelle" verstanden wurde, wäre dieser "Eingriff" der Lehrer in die Autonomie der Klasse undenkbar gewesen. Heute überzeugt die Erkenntnis, dass absolute Unabhängigkeit auch einsam machen kann.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert.