Manuel Neuer gibt die nominierten Schulen für den Deutschen Schulpreis 2019 bekannt

Der Schirmherr des Deutschen Schulpreises Manuel Neuer verkündete die nominierten Schulen im Interview mit Lennert Brinkhoff am 14. März 2019 live auf Facebook. Die Preisverleihung findet am 5. Juni in Berlin statt. Der mit 100.000 Euro dotierte Hauptpreis wird von Bundeskanzlerin Angela Merkel überreicht.

Porträt

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Caro ist eine, die immer alles ganz genau wissen will, die im naturwissenschaftlichen Unterricht nicht bloß eine Frage als schriftliche Hausaufgabe beantwortet, sondern gleich ein Referat zum Thema „Plastikmüll im Meer“ ausarbeitet und dies dann spontan vor der Klasse hält.

Am Gymnasium galt sie als Streberin. Aber gelernt hat die 14-Jährige mit der Zahnspange dort nicht viel. „Wir mussten viel auswendig lernen, in drei Tagen 120 Vokabeln pauken. „Die hatte sie nach den Tests schnell wieder vergessen. Für Caro war das nichts. Sie will, wie sie sagt, „den Dingen auf den Grund gehen.“ Deshalb wollte Caro auch auf eine andere Schule wechseln, aber das war gar nicht so einfach. Ihre Noten waren zu gut.
Also verweigerte Caro konsequent Leistung, versuchte Fünfen zu kassieren. „Ich war so froh, als ich endlich auf die Anne-Frank-Schule gehen konnte.“

Die Anne-Frank-Schule in Bargteheide ist eine „Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe“. So heißen in Schleswig-Holstein die Gesamtschulen seit der Schulreform 2007. Bargteheide ist eine beschauliche Kleinstadt im Speckgürtel von Hamburg. Die Anne-Frank-Schule mit 862 Schülern und 67 Lehrern genießt einen guten Ruf weit über ihr Einzugsgebiet hinaus und in diesem Jahr erhält sie den Deutschen Schulpreis. Eine echte Entdeckung – auch für die Jury. „Wir sind nicht nach Schleswig-Holstein gereist mit der Erwartung: Hier ist ein heißer Kandidat für den Preis“, sagt Professor Michael Schratz von der Universität Innsbruck, der Sprecher der Jury.

In der schriftlichen Bewerbung waren den Experten die Besonderheiten der Anne-Frank-Schule noch gar nicht so aufgefallen. Sicher, die Lehrer arbeiten in Teams, es gibt Doppelstunden und fächerübergreifenden Unterricht wie „Weltkunde“ (Geschichte, Erd- und Sozialkunde) oder „Nawi“ (Physik, Chemie und Biologie) und die Schüler führen Logbücher. Aber das machen sie inzwischen auch an vielen anderen Schulen.

Auch von außen fällt die AFS nicht weiter auf, die flachen Rotklinker-Gebäude passen sich dem Ortsbild an. Es ist, als konzentriere sich an der AFS alles auf das Innenleben – auf die Schüler. „Die veranstalten da kein großes Spektakel“, sagt Professor Schratz, und meint das durchaus anerkennend. Denn nachdem er zwei Tage lang den Unterricht beobachtet hat, mit Pädagogen, Eltern, Kindern und Jugendlichen diskutiert hat, waren er und die übrigen Jury-Mitglieder von einer Facette wirklich beeindruckt: dem Umgang der Lehrer mit ihren Schülern. „Die Kollegen machen kein Methoden-Geklimper. Sie sind nah dran an ihren Schülern. Alles trägt dazu bei die Kinder und Jugendlichen zu stärken.“

In der siebten Klasse nehmen alle Schüler an dem „Stärken-Seminar“ teil: Einen Tag lang bearbeiten die Mädchen und Jungen Übungen und werden dabei beobachtet. Allerdings nicht von ihren Lehrern, sondern von Persönlichkeiten des Ortes: Mitglieder des Rotary Clubs sind ebenso dabei wie Handwerker oder der Bürgermeister. Am Ende des Tages geben sie den Schülern Feedback – dabei werden ihnen ausschließlich ihre Stärken gespiegelt. „Nach dem Tag sind alle Jugendlichen zehn Zentimeter größer, so stolz sind sie über das Lob.“, sagt Michael Schratz.

An der Anne-Frank-Schule unterrichten die Lehrer offenbar bereits so, wie es der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie fordert, der mit seiner Mega-Studie „Lernen sichtbar machen“ gerade die deutsche Pädagogen-Szene aufrüttelt. Denn laut Hattie ist für den Lernerfolg nicht die Klassengröße entscheidend, auch Hausaufgaben oder gar Sitzenbleiben bringen nicht viel. Sondern allein auf den Lehrer und seinen Unterricht kommt es an. Die Pädagogen in Bargteheide beherzigen ihr Schulprogramm in dem steht: „Die wichtigsten Vorgaben für jede Schule sind die ihr anvertrauten Kinder – so wie sie sind und nicht so, wie wir sie uns wünschen mögen.“ Sie sind im Dialog mit ihren Schülern, geben ihnen Rückmeldungen und machen so das Lernen sichtbar. Und vor allem trauen sie ihren Schülern viel zu. Positive Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus – das steht ganz oben auf Hatties Liste der 138 Erfolgsfaktoren, die er aus den abertausenden Studien extrahiert hat. Durch diese Ermutigung wachsen die Mädchen und Jungen buchstäblich über sich selbst hinaus.

Nach ihrem Wechsel auf die AFS kam Caro in die so genannte „Rückläuferklasse“: Eine siebte Klasse, eigens eingerichtet für die Schüler, die es am Gymnasium nicht schaffen und deshalb „abgeschult“ werden. Eine Kränkung, die die Kinder erst einmal überwinden müssen. Unter all den ehemaligen Gymnasiasten rutschte Caro schnell wieder in eine Sonderrolle. „Ich war ja die Einzige, die sich freute auf der AFS zu sein.“ Caro übersprang die achte Klasse und heute sitzt das zierliche, nur 1,51 Meter große Mädchen, das gern schwarze Strümpfe und Mini-Rock trägt, zwischen lauter 15-Jährigen in der 9b.

Klar reagiert auch mal einer von Caros neuen Klassenkameraden genervt – es sind schließlich Teenager. So wie Sebastian: „Wo hat sie das bloß alles her?“, stöhnt er im Nawi-Unterricht, als Caro in ihrem spontanen Vortrag ausholt und erklärt, dass es 450 Jahre dauert, bis Plastikrückstände im Wasser abgebaut werden. Sein Banknachbar Richard zuckt mit den Achseln. „Caro ist halt sehr engagiert.“ Anschließend gibt’s Applaus von der Klasse und dann beginnt eine angeregte Debatte, geschickt gelenkt von Klassenlehrer Tom Nickel.

Jule will zum Beispiel wissen, was man gegen verseuchte Fische tun kann. Etwa Vegetarier werden? Jule ist ein aufgewecktes, hübsches Mädchen mit dunklem Pferdeschwanz und bunten Armbändern. Aber auch Jule ist keine gewöhnliche Schülerin, sie ist sehbehindert. Üblicherweise landen Schüler wie sie auf einer Förder- oder Blindenschule. Doch an der AFS lernen Hochbegabte gemeinsam mit Schülern mit besonderem Förderbedarf. „Ich habe Glück, dass diese Schule auch Sonderkinder aufnimmt“, erzählt die 15-Jährige. „Die anderen gehen gut mit mir um. Am Anfang in der fünften Klasse war es ein Thema, dass ich nicht gut sehen kann. Wir haben darüber gesprochen und jetzt ist es kein Problem mehr.“

Seit 2011 ist die Anne-Frank-Schule eines von elf so genannten Kompetenzzentren für Begabtenförderung in Schleswig-Holstein. Hier kann eine Schülerin wie Caro, die zusätzliches Lernfutter braucht, zu den „Spürnasen“ in einen Extra-Raum gehen und über den Unterricht hinaus an eigenen Projekten arbeiten. Caro ist außerdem Schülerpatin für andere Begabte.

Hochbegabung beginnt ab einem IQ von 130. Aber die Anne-Frank-Schule misst Begabung nicht allein am Intelligenzquotienten, sondern fasst sie weiter und nimmt alle in den Fokus. Im fünften und sechsten Jahrgang bekommen sämtliche Mädchen und Jungen pro Woche vier Stunden Zeit, in „Forschen und Üben“ Inhalt und Methode ihrer Arbeit weitgehend selbst zu bestimmen. Dann tragen im Klassenzimmer einige Kinder Kopfhörer, damit kein Geräusch sie ablenkt; bei sonnigem Wetter suchen sich manche auch draußen auf dem Schulgelände einen ruhigen Platz, um selbständig zu arbeiten.

Bereits zum dritten Mal wird beim Deutschen Schulpreis eine Gesamtschule mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Wie die beiden anderen Gesamtschulen vor ihr, die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim (Preisträger 2007) und die Georg-Christoph-Lichtenberg Gesamtschule in Göttingen (Preisträger 2011), hat die Anne-Frank-Schule sich vom Außenseiter zum Vorbild hochgearbeitet.

Als die AFS 1989 gegründet wurde, war sie zunächst mehr geduldet als gewünscht: Sieben Lehrer unterrichteten die ersten Schüler in einem Einfamilienhaus mit morschen Fenstern. Jahrelang wurden Klassen in benachbarten Schulen einquartiert, weil Platz fehlte. „Von den umliegenden Schulen wurden wir misstrauisch beäugt. Eltern mussten sich rechtfertigen, wenn sie ihre Kinder zu uns schickten“, erinnert sich Angelika Knies, 60. Die Schulleiterin hat die Schule gegründet und mit aufgebaut. Und sie wurden beschimpft: „Macht die Fenster zu, hier stinkt es nach Gesamtschule“, rief ein Lehrer vom benachbarten Gymnasium, als Schüler der AFS vorbeigingen. Mädchen und Jungen wurde von Lehrern gedroht: „Wenn du nicht brav bist, dann kommst du auf die Gesamtschule, zu dem Abschaum.“ Und Schulleiterin Knies, die zuvor elf Jahre Biologie und Chemie an einem Gymnasium unterrichtet hatte, wurde bei Veranstaltungen von ehemaligen Kollegen geschnitten. Sie galt offenbar als Verräterin. So heftig waren die Vorbehalte gegen Gesamtschulen in Bargteheide.

Heute genießt die Schule einen ausgezeichneten Ruf, das Vertrauen der Eltern und Schüler ist nahezu grenzenlos: Jedes Jahr ist die Nachfrage nach den 104 Plätzen in den fünften Klassen doppelt so hoch wie das Angebot. Wer hier einen Platz bekommt, wird von den Nachbarn beglückwünscht und von so manchem insgeheim beneidet. „Hier lernt mein Sohn selbständig“, sagt der Vorsitzende des Elternrats Henrik Bustorf, 45. Sein jüngster Sohn Malte geht in die neunte Klasse. Der Große geht aufs Gymnasium. „Jeder, der hier von der Schule geht, kann sich vor die Klasse stellen und einen Vortrag frei halten. Das können nicht viele“, sagt der Direktor der Sparkasse Holstein. Seit Malte auf die AFS geht, arbeitet Bustorf im Elternrat mit. „Hier wollte ich mich sofort engagieren, denn Hilfe und Unterstützung sind erwünscht. Ich kann etwas bewegen.“

Schulleiterin Angelika Knies nickt. Sie glaubt nicht, dass ihre Schule nach 23 Jahren Aufbauarbeit alles kann. „Eine Schule, die sich nicht selbst als lernendes System versteht, die meint, fertig zu sein und nur Bewährtes weitertragen zu müssen, ist tot“, heißt es in der Bewerbung für den Schulpreis. Systematisch schauen die Lehrer: Wo können wir besser werden? Und wer kann uns dabei helfen? Seit 2004 sind sie Mitglied beim Netzwerk „Blick über den Zaun“. Mehrfach haben sie sich beim Deutschen Schulpreis beworben, stets kam die AFS unter die besten 50 Schulen. Das hat ihr die Teilnahme an der Akademie des Deutschen Schulpreises ermöglicht. Deren Anregungen halfen ihr, sich systematisch zu verändern.

Und noch immer sind sie nicht zufrieden: Die Logbücher sollen überarbeitet werden. „Wir können noch besser werden in der Tischgruppenarbeit“, sagt Jürgen Nowottny, 64 – ebenfalls von Anfang an dabei. Für ihn ist die Nominierung für den Schulpreis die Krönung seiner Berufslaufbahn. „Ich bin stolz auf die Schule“, sagt er. „Sie ist das, was ich immer wollte.“ Als Realschullehrer sah er keine pädagogische Zukunft mehr. Zu sehr hat es ihn belastet, wenn Schüler scheiterten. An der AFS hat seit neun Jahren keiner mehr die Schule ohne Abschluss verlassen. Sitzenbleiben, „Schrägversetzungen“ oder andere Aussortierungen kennt man hier nicht.

In der fünften Klasse startet ein Drittel der Schüler mit einer Gymnasialempfehlung, ein Drittel hat eine Empfehlung für die Hauptschule und ein weiteres Drittel für die Realschule. Gemeinsam lernen sie bis zur zehnten Klasse. Die Schüler strafen diese Prognosen Lügen: Nach fünf gemeinsamen Jahren schaffen mehr als die Hälfte der Mädchen und Jungen (53 Prozent) einen höheren Abschluss als von der Grundschule prognostiziert.

So wie Lars Frederic Rexa. Lars Grundschullehrerin sagte zu ihm: „Du gehörst auf die Hauptschule.“ Aber seine Mutter meldete ihn auf der AFS an. Gerade hat der 19-Jährige seine Abiturprüfungen in WiPo, Englisch und Deutsch geschrieben. Jetzt kommt noch die mündliche Prüfung in Biologie, dann hat er es geschafft. „Im letzten Jahr hatten wir ein Treffen mit der Grundschule“, erzählt der junge Mann mit der modischen Hornbrille. Seine frühere Lehrerin wollte wissen: „Na, Lars, wie geht es dir so?“ Sie hatte wohl erwartet, dass ihr ehemaliger Schüler bereits arbeitet. „Ich habe ihr geantwortet: Ich gehe auf die Oberstufe und lerne fürs Abi. Das war für mich echt eine Genugtuung. Und ihr war es, glaube ich, ein bisschen peinlich. Sie hat mir das ja nicht zugetraut.“ Zu verdanken hat Lars seine Leistungen sich selbst und seiner im letzten Jahr verstorbenen Lehrerin Alexa Basner. „Sie hat mir in der zehnten Klasse nach der Realschulprüfung gesagt: ‚Lars, Du kannst das. Jetzt beweis es!’ Und dann habe ich mich reingehängt.“

Bis zu zehn Prozent der Abiturienten hatten so wie Lars die Prognose bekommen, sie würden nur den Hauptschulabschluss schaffen. Auch bei den landesweiten Lernstandserhebungen VERA schneiden die Schüler überdurchschnittlich gut ab. Dafür erhält die Anne-Frank-Schule von der Schulpreis-Jury beim Kriterium Leistung eine glatte Eins.

Die Wertschätzung ihrer Lehrer bestärkt die Schüler und überträgt sich, sie gehen respektvoll miteinander um. „Hier sind alle viel höflicher als an meinem alten Gymnasium“, sagt Caro. Gewalt ist kein Thema, der Nadelfilz auf dem Boden ist gepflegt und sauber, an den Wänden oder auf den Toiletten finden sich keine Spuren von Schmierereien. Während der Pausen dürfen die Schüler – auch schon die Kleinen aus der Fünften – im Gebäude und in ihrem Klassenzimmer bleiben. Auch ohne ständige Aufsicht.

Die Schule wächst rund um das ehemalige Einfamilienhaus, in dem heute noch die fünften Klassen untergebracht sind. Im neuen Oberstufentrakt hängt ein riesiges Gemälde. Ein Werk des Kunstprofils: Eine gewaltige, lilafarbene Krake greift mit ihren Tentakeln nach drei Menschen, die im Wasser zu schweben scheinen. Sind es Schüler, Lehrer oder Eltern? Von den Personen sind nur die Umrisse zu erkennen. Egal. Die AFS, so die Botschaft, umarmt einfach alle und lässt keinen mehr los.

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Drei Lehrerinnen sitzen im leeren Klassenzimmer der 7a. Sie haben auf einem der Tische ihre Unterlagen ausgebreitet. Ein Schüler steckt den Kopf herein, sagt „Oh, Entschuldigung“, und schließt die Tür leise. Kaum bemerkt von den Lehrerinnen. „Was ist mit Juri*?“, fragt Anja Lindner und schaut gespannt zu ihrer Kollegin. „Er überschätzt sich leicht“, antwortet Barbara Maag-Treß, die Klassenlehrerin der 7a. Die beiden anderen Frauen nicken wissend. „Er spricht kaum mit seinen Mitschülern“, ergänzt Maag-Treß. „Aber er ist wahnsinnig intelligent“, wendet Melanie Meyer ein, „in Mathe ist er super.“

Jede Woche setzen sich die drei Lehrerinnen der Grund- und Werkrealschule in der Taus im baden-württembergischen Backnang zusammen und besprechen, wie es „ihrer“ 7a geht. Sie tauschen ihre Beobachtungen aus, sie wollen sicher sein, dass kein Problem und erst recht keine Begabung übersehen wird: „Wir müssen wissen, wie es den Kindern geht und darauf reagieren“, erklärt Barbara Maag-Treß. „Die Kinder brauchen hier Orientierung und Sicherheit, wenn es Zuhause drunter und drüber geht“, sagt Barbara Maag-Treß.

Nur sechs Kinder der Klasse 7a leben in klassischen Vater-Mutter-Kind-Familien. Die Tausschule ist eine Brennpunktschule. Von 600 Schülern stammt mehr als die Hälfte aus Migrantenfamilien, manche haben keinen gesicherten Aufenthaltsstatus, viele Eltern sprechen kaum Deutsch. Der Anteil alleinerziehender Mütter ist hoch. Viele Kinder kommen aus Familien, in denen Frauen nichts zu sagen haben.

Auch Siebtklässler Juri. Einmal sagte er zu seiner Klassenlehrerin: „Das mache ich nicht, das machen Frauen“, als sie ihn zum Aufräumen aufforderte. Bis vor kurzem war Juri in einer Sprachförderklasse. Es brauchte genaues Beobachten und intensive Zusammenarbeit der Lehrer, um seine Persönlichkeit besser zu verstehen. „In einer anderen Schule wäre Juris Intelligenz vielleicht unbemerkt geblieben. Ein Schüler, der sich nicht gut ausdrücken kann und die Lehrerinnen nicht ernst nimmt, geht schnell unter. „Jeder Schüler hat das Recht, gesehen zu werden“, sagt Schulleiter Jochen Nossek. Deshalb gehören die wöchentlichen Besprechungen zum Schulprofil. Die Lehrer reden nicht erst dann über Schüler, wenn es Probleme gibt. So entstehen viele Probleme erst gar nicht.

Klasse 4b sitzt im Stuhlkreis. In der Mitte liegt ein Zettel. In ungelenker Schrift steht darauf „Auseinandersetzung“. Zwanzig Minuten hat Klassenlehrerin Anja Lindner am Ende der Schulstunde reserviert, um über aktuelle Probleme in der Klasse zu reden. Die Kinder schreiben sie zunächst auf. „Wer hat den Zettel geschrieben?“, fragt Anja Lindner. Mohammed* windet sich auf seinem Platz. „Ich“, sagt er leise, „ich werde so schnell wütend.“ Ein Mädchen mit blonden Zöpfen meldet sich: „Nichts gegen Mohammed, aber man muss nicht gleich rumschreien, wenn man angerempelt wird.“ „Was kann man tun, wenn man sich sehr ärgert?“, fragt die Lehrerin die Runde. Die Kinder haben viele Ideen: Auf ein Wutkissen schlagen, fünf Mal durchatmen, rausgehen und schreien, sich hinterher entschuldigen. „Hilft dir das?“, fragt Anja Lindner ihren Schüler. „Hmm, ja, ich versuche es“, antwortet er.

Probleme werden an der Tausschule sofort besprochen. Wenn ein Kind Sorgen hat, kann es auch während des Unterrichts zu den Schulsozialarbeiterinnen gehen. Sie sind die Vertrauten der Schüler, denn sie geben keine Noten und erzählen nichts weiter, wenn es die Kinder nicht wollen. Sie vermitteln und sorgen dafür, dass die Probleme der Kinder gehört werden. Das danken die Schüler ihrer Schule: „Viele wollen gar keine Ferien“, hat Verbindungslehrerin Friederike Bretträger beobachtet, „sie genießen es, hier zu sein und ihre Freunde zu treffen.“ Als in den Ferien eine Putzaktion anstand, kamen viele Schüler ganz ohne Aufforderung. Die Schule ist ihnen Heimat geworden. Auch an ihren freien Nachmittagen bleiben viele in der Schule und spielen im Freizeitraum.

Auch Lehrer sind länger an der Schule, als sie müssen. Sie kommen beispielsweise schon eine Stunde vor Unterrichtsbeginn, beobachtet Martina Mayer, die Konrektorin: „Das Kollegium fühlt sich mit der Schule verbunden.“ Weniger als 0,1 Prozent des Unterrichts fällt aus – nur wenige Schulen weisen einen so niedrigen Wert auf.

Das war nicht immer so. Der Grundstein für diese Teamarbeit wurde vor zwanzig Jahren gelegt: Viele Lehrer fühlten sich damals allein gelassen, wenn sie einen kranken Kollegen vertreten mussten. Die Lehrer taten sich darauf zusammen, jeder bereitete Materialien für Vertretungsstunden vor.

Als Martina Mayer vor zwölf Jahren an die Schule kam, staunte sie über diese konstruktive Arbeitsgemeinschaft: „Wir haben regelmäßig zusammen Sport und Ausflüge gemacht, uns abends privat getroffen“, erinnert sie sich. Nicht alle Aktivitäten haben sich gehalten. „Seit wir Ganztagsschule sind, ist nicht mehr viel Zeit dafür“, sagt Mayer. Aber das Bewusstsein ist geblieben: Teamwork statt Konkurrenz. „Wir spüren das auch in der Zusammenarbeit mit Eltern und Schülern“, sagt Martina Mayer: „Wenn die Schüler merken, dass wir an einem Strang ziehen, dann nehmen sie uns ernst.“

Am Ende der Besprechung im Klassenraum der 7a haben die drei Lehrerinnen einen Zettel voller Aufgaben. Juri soll sich mehr mit seinen Klassenkameraden unterhalten – auch mit den Mädchen.

Juris Klassenkamerad Marvin*, 13, kam erst in der sechsten Klasse von der Förderschule nach Backnang. Anfangs war er unsicher und still. Er hat das Asperger-Syndrom. Bei einem Sporttag griff der autistische Junge einen Schiedsrichter an und einige Klassenkameraden, die ihn beruhigen wollten. „Er hatte Probleme, die Emotionen anderer einzuschätzen“, erinnert sich Barbara Maag-Treeß.

Der Vorfall blieb der einzige seiner Art. Obwohl die Lehrer der Förderschule vom Wechsel abrieten, konnten Barbara Maag-Treeß und ihre Kollegen den Jungen gut integrieren. Gemeinsam haben sich die Lehrer über Autismus fortgebildet. „Wir wissen jetzt, wie wir mit ihm umgehen müssen.“ Grundlage waren intensive Gespräche der Lehrer untereinander, mit den Sozialpädagogen und mit Marvins Eltern.

Marvin ist heute in den meisten Fächern gleichauf mit dem Durchschnitt seiner Mitschüler. Nur das Lösen komplexer Aufgaben bereitet ihm noch Probleme. „Haben wir nicht eine Aufgabe für ihn, wo er etwas von Anfang bis Ende planen und umsetzen kann?“, fragte die Klassenlehrerin beim jüngsten Elterngespräch. „Na klar, er kann sein neues Zimmer einrichten“, schlug seine Mutter vor. Marvin bekam das als ungewöhnliche Hausaufgabe. „Das wird seine Problemlösefähigkeit verbessern“, sagt Klassenlehrerin Barbara Maag-Treeß. Seither misst er sein Zimmer und die Möbel aus, zeichnet Pläne und bespricht diese begeistert mit Eltern und Lehrern. Marvins Mutter sagt: „Er geht jetzt gern zur Schule.“

Als Marvin vor einiger Zeit seine Medikamente reduzieren wollte, beschlossen Eltern und Lehrer in Absprache mit dem Kinderarzt: „Probieren wir es“. Der Arzt war skeptisch und bat um regelmäßige Berichte. Alle warteten gespannt. Würde es gut gehen? Was würde passieren? Nichts geschah. Beinahe nichts: Kürzlich haben die Lehrerinnen Marvin erstmals lachen sehen.

* Namen geändert

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Seit heute morgen hat Susanne Hiltl 14 Stellen angerufen, um einen Zuschuss für eine Schülerin zu einer Klassenfahrt zu bekommen. Noch immer keine Zusage! Die Stirn der Schulleiterin kräuselt sich, der Metallgehalt ihrer Stimme nimmt zu. Sie wird diese 93 Euro beschaffen, koste es, was es wolle!

Dabei ist die Schülerin, für die sie solchen Aufwand betreibt, schon längst erwachsen: Nadja*, Anfang zwanzig, bekommt monatlich 495 Euro BAföG vom Staat. 95 Euro für eine Klassenfahrt sind da nicht drin. Ihre Eltern will sie nicht fragen, Behörden erst recht nicht. Lieber bleibt die schüchterne junge Frau zu Hause. Doch die Klassenfahrt ist wichtig für Nadja. Susanne Hiltl wählt die nächste Nummer.

Die Private Fachschule für Wirtschaft und Soziales gibt es seit fast zwanzig Jahren, inzwischen nicht nur in Gera, sondern auch in Sondershausen, Suhl, Jena und Erfurt. Viele der 1.300 Schüler, die jüngsten sind 16, die ältesten 50 Jahre alt, können Beistand gut gebrauchen. „Sie tun sich schwer damit, für ihre Interessen einzutreten, weil sie das Zuhause nicht vorgelebt bekamen“, sagt Susanne Hiltl. Manche haben die Schule abgebrochen und wollen über eine Ausbildung erst noch den Realschulabschluss nachholen, andere sind verschuldet, müssen nebenher im Supermarkt jobben, einige haben psychische Probleme. Drei von zehn Schülern sind schon Eltern, so wie Isabella*.

Isabella, die an diesem Vormittag im Büro ihrer Schulleiterin sitzt, ist Mutter einer kleinen Tochter. Sie ist blass, hat Flecken im Gesicht und Schatten unter den Augen. Ein Häufchen Elend, dabei hatte sie sich am Wochenende noch gut gefühlt. „Ich hab Dummheiten gemacht“, sagt sie. Und ihre Tabletten gegen Depressionen einfach weggelassen. „Ich dachte, es geht ohne.“ Plötzlich fühlte sie sich wieder wie gelähmt. Dabei bedrückt sie nicht nur die Krankheit, sondern auch die Trennung von ihrem Kind, das bei ihrem Ex-Freund lebt. Mit ihrer Mutter ist sie zerstritten, den Vater habe sie zwanzig Jahre nicht gesehen. „Ich hab so viele Dinge im Kopf. Wie soll ich da Mathe lernen?“

Als sie am Montag nicht zum Unterricht erschien, rief ihre Klassenlehrerin an. Isabella hatte sich Zuhause verkrochen. Sie und die Schulleiterin in Gera nehmen ihr an solchen Tagen den Druck, sie stärken ihr außerdem den Rücken, wenn beispielsweise Gespräche mit dem Jugendamt wegen ihres Kindes anstehen. Aber sie muss sich an die Vereinbarung halten und Punkt 18 Uhr ihre Lehrerin anrufen. „Was ist das Wichtigste?“, fragt Susanne Hiltl die bedrückte junge Frau. „Dass es mir gut geht“, antwortet Isabella leise. „Und dass wir wissen, wo Sie sind“, ergänzt Susanne Hiltl.

Solch mütterliche Fürsorge ist nicht nur eine menschliche Geste von Lehrern, die ihre Schüler für soziale Berufe ausbilden: zu Erziehern, Heilpädagogen, Sozialbetreuern und Sozialassistenten. Für Schüler wie Isabella, die Heilerziehungspflegerin werden will, ist sie Voraussetzung, um überhaupt lernen zu können. Die Gefahr, dass sie die Schule abbricht und statt im Sozialberuf im sozialen Netz landet, wäre sonst groß. Gera hat eine Arbeitslosenquote von zwölf Prozent. „Die Schule ist die größte Hilfe, die ich hab'“, sagt Isabella.

Im Klassenzimmer der Erzieherklasse 12.2 in Erfurt hängt am Fenster ein Plakat. Es geht darum, was kleine Kinder stark macht fürs Leben: „Glaub an mich, ermutige mich. Mute mir etwas zu und lass mich Fehler machen“, steht darauf. Man kann es auch als Schulprogramm lesen. „Wir sehen jeden mit seinem Entwicklungspotenzial, egal, welche Auffälligkeit er mitbringt“, sagt Schulleiterin Kerstin Strubl, die für alle fünf Standorte verantwortlich ist.

Dennoch verlangt die Privatschule gute Leistungen. Hier wird passgenau ausgebildet was dem Staat besonders fehlt, vor allem Erzieher für Kitas und Schulen sowie Heilerziehungspfleger für die Inklusion von Behinderten. Das Schulgeld liegt zwischen 36 und 59 Euro monatlich, Lernmaterial inklusive. Schulleiterin Kerstin Strubl kann sich die Schüler aussuchen, dennoch nehme sie eben nicht nur die pflegeleichten Bewerber. Sondern auch solche, die Geduld, Kraft und Nerven kosten.

Solche wie Angelika, die im Jahr 2009 an die Teilschule in Erfurt kam. Sie hatte das Gymnasium abgebrochen. „Ich trug mehr Metall als Haut im Gesicht“, erinnert sie sich. Dazu Glatze. Ihre Lehrer hätten anfangs zwar „ein bisschen komisch geguckt“, aber sie ließen sich nicht provozieren. Im Gegenteil. Wenn sich Angelika mit ihren Lehrern stritt, konnte sie sich drauf verlassen, dass die nachfragten und nicht locker ließen: „Was war da los, Angelika?“

Anderswo kümmert sich der Schulsozialarbeiter um persönliche Probleme der Schüler. Hier sind es die Lehrer, die auch mal anrufen oder vorbeischauen, wenn Schüler nicht zum Unterricht erscheinen. „Mit viel Geduld kriegt man raus, was dahinter steckt, wenn ein Schüler öfter krank ist“, sagt Monika Ritschl, 56.

Monika Ritschl war schon zu DDR-Zeiten Lehrerin, nach der Wende war sie eine Zeit lang arbeitslos. Sie montierte Leuchten, verkaufte Gardinen, schob Nachtschicht in einem Jugendwohnheim. Dort fand sie heraus, dass es selbst harte Jungs und Mädchen mochten, wenn sie ihnen vor dem Einschlafen Märchen vorlas. Inzwischen lehrt sie wieder Mathematik, wie früher, und gibt ihren Schülern zudem kostenlos Nachhilfe. „Es ist eben schon ein Unterschied, ob man links liegen gelassen wird oder der Lehrer will, dass man etwas erreicht“, sagt ihr Schüler Daniel. „Das spornt an.“ Sie drängt sich nicht auf, aber wenn jemand eine geduldige Zuhörerin braucht, darf er anrufen, auch abends. „Sie kümmert sich um uns wie eine Mutti.“

Isabella wird noch eine Zeitlang solch intensive Unterstützung ihrer Lehrer brauchen. Angelika dagegen, die ehemalige Punkerin, kommt inzwischen gut alleine klar. Sie ließ sich zur Sozialassistentin ausbilden und lernt jetzt Erzieherin. Mit besten Aussichten: Auf sie und ihre Mitschüler warten sogar Angebote von Kindergärten aus München. „Aber vielleicht studiere ich oder gehe erst eine Weile nach London“, sagt sie selbstbewusst. Nadja kann auf Klassenfahrt gehen. Susanne Hiltl führte noch weitere Telefonate, allerdings vergebens. Die 93 Euro kamen schließlich aus dem eigenen Haus, aus Spenden von Lehrern und aus dem „Sozialsparschwein“, in dem Trinkgelder der Mensa gesammelt werden. Auf die eigenen Kräfte ist nun mal am meisten Verlass.

* Namen geändert

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Freitagvormittag. Die Schüler im Unterrichtsraum von Englischlehrer Dieter Handke machen, was sie wollen. Der zwölfjährige Mikail lernt Französischvokabeln. Aylin, 15, arbeitet einen Text von David Hume für den Philosophieunterricht durch. André, 13, übt Kommaregeln und die elfjährige Julia Vergangenheitsformen auf Englisch. Und Dieter Handke? Der 63-jährige dreht seine Runden.

Zwei Mal am Tag geben die Schulstunden am Gymnasium Alsdorf ein eigentümliches Bild ab: Die Schüler entscheiden selbst, wo sie arbeiten, also mischen sich alle Jahrgangsstufen – vom Fünftklässler bis zum Abiturienten – in den Unterrichtsräumen. Damit nicht genug: Die Schüler wählen auch selbst, woran sie arbeiten. Das Schüler-Potpourri ist auch möglich, weil es keine „Klassenzimmer“ mehr gibt. Die Räume sind grundsätzlich Lehrern zugeordnet. In normale Unterrichtsstunden pilgern die Schüler als Klassen- und Kursverbände zu ihnen. In den sogenannten „Daltonstunden“ sind die Stufen- und Fächertrennung aufgehoben. Es trudelt ein, wer will.

Mikail, der bald einen Französischtest schreibt, muss Vokabeln büffeln. Er hatte noch nie Unterricht bei Dieter Handke, doch am Freitagvormittag kann man in dessen Raum gut lernen. „Hier wird wenig geredet“, weiß er aus Erfahrung. Aylin hat sich mit ihren Freundinnen Kyra und Mara in Dieter Handkes Raum verabredet. Der Englischlehrer kann ihnen zwar nur bedingt Fragen über Hume beantworten, aber „wenn etwas unklar ist, helfen wir uns gegenseitig.“ Julia gehört zu denen, die in dieser Daltonstunde keine Wahl hatten. In ihrem „Daltonplaner“, einem DIN A4-Heft, in dem die Aufgaben der laufenden Woche vermerkt sind, steht: „Past Tenses!“. Der Eintrag stammt von Dieter Handke. Wenn in einem Fach Nachholbedarf besteht, können die Lehrer die Daltonstunden reservieren. Bei Bedarf kann die Freiheit also auch eingeschränkt werden. „Schüler lernen in unterschiedlichem Tempo“, so Handke. „Das ist das größte Problem von starren Stundenplänen.“

„Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass sich Lernen dem Stundenplan anpassen muss“, sagt Wilfried Bock. „Es ist genau umgekehrt." Der 53-jährige Schulleiter war die treibende Kraft hinter der Einführung des „Daltonplans“ am Gymnasium Alsdorf. Das Konzept, entwickelt von der amerikanischen Lehrerin Helen Parkhurst, wurde erstmals 1920 in Dalton/Massachusetts umgesetzt – daher der Name. Es räumt Schülern so viel Freiheit wie möglich ein, um ihre Verantwortung und Selbständigkeit zu schulen. Doch was, wenn die Schüler ihre Freiheit nutzen, um „Käsekästchen“ zu spielen? Das komme schon mal vor, gibt Wilfried Bock zu. Tagesformen variierten eben. Unterm Strich sei Unterricht, der darauf Rücksicht nehmen kann, aber viel effektiver. „Ein Schüler, dem in der 5. Stunde die Augen zufallen, wird die Binomischen Formeln wohl kaum lernen. Da hilft auch kein Frontalunterricht.“

Als Wilfried Bock 2002 seine Stelle als Rektor in Alsdorf antrat, war die ganze Region im Formtief. „Anna“, die größte Kokerei Europas, hatte 1994 dichtgemacht und neben einer Landschaft aus Kratern und Halden ein riesiges Loch im Arbeitsmarkt hinterlassen. Soziale Probleme nahmen zu – und spalteten die Gemeinde: Wer seine Kinder fördern wollte, schickte sie auf ein Gymnasium im Nachbarort. Die Folge: Am Gymnasium in Alsdorf war das Niveau ohne starke Schüler nicht zu halten. Schnell war der Ruf ruiniert, die Zahl der Anmeldungen rückläufig, das Kollegium frustriert.

„Ich hab’ direkt gesagt: Hier läuft vieles nicht richtig.“ Wilfried Bock ist eigentlich ein geeigneter Überbringer schlechter Nachrichten: Sein rheinischer Zungenschlag verpackt selbst Schelte in ein Schmunzeln. Als er seinem Kollegium wenig später eröffnete, dass Lehrer in Nordrhein-Westfalen künftig für weniger Geld mehr arbeiten müssten, verging den meisten das Lachen. Günstige Bedingungen für einen Wandel sehen anders aus. Aber Wilfried Bock ist keiner, der so einfach aufgibt. Der Sohn eines Schumachers besuchte zunächst die Realschule, das Abitur auf einem Internat sparten sich die Eltern vom Mund ab. „Vielleicht kann ich es deshalb nicht leiden, wenn nachlässig mit Bildung umgegangen wird.“

Bock traf Experten und wurde auf das Daltonkonzept aufmerksam. Er fuhr, erst allein, dann mit Lehrern, Schülern und Eltern zu verschiedenen Dalton-Schulen in Holland. Von Alsdorf bei Aachen ist es ja nur ein Sprung über die Grenze. „Einmal kamen wir in einen Klassenraum, in dem die Schüler trommelten wie die Wilden.“ Bock sprach den Schulleiter darauf an. „Wissen Sie“, sagte der, „wenn sie jetzt nicht trommeln, dann trommeln sie gleich im Unterricht.“ In einem anderen Raum sah Bock dann was gemeint war: Eine ganze Klasse saß still und konzentriert über ihren Aufgaben. Das war genau das, wonach er gesucht hatte, sagt Wilfried Bock. „Freiheit auf der einen Seite, Verantwortung auf der anderen.“

Bock entwickelte mit einem Team von Lehrern ein erstes Modell des Unterrichts nach dem Daltonplan und fragte Lehrer, Schüler und Eltern sowie die Schulverwaltung, ob sie sich auf das Experiment „Dalton“ einlassen wollten. Dalton gibt ein Ziel vor, den Weg muss eine Schule selbst gehen. Die Kernfrage war: Woher nimmt man die Zeit fürs selbständige Arbeiten? „Erst wollten wir fünf Minuten von jeder Stunde abzwacken“, erinnert sich Bock. Schnell war klar, dass das nicht reicht, um Unterricht zu verändern. Kein schaler Kompromiss, sondern mutige, pragmatische Entscheidungen waren gefragt.

Die regulären Stunden wurden von 45 auf 60 Minuten verlängert, denn weniger und dafür längere Schulstunden bedeuten jeweils weniger Zeitverlust im Vor- und Nachlauf. Das spart wertvolle Minuten. Im zweiten Schritt wurde „Epochenunterricht“ eingeführt: Pro Halbjahr werden weniger Fächer unterrichtet, dafür aber mit erhöhter Stundenzahl. So lernen die Schüler beispielsweise im ersten Halbjahr den Stoff eines ganzen Jahres Physik. Im zweiten Halbjahr ist Physik abgehakt und zum Beispiel Geschichte an der Reihe. „Das senkt die Belastung, weil für weniger Fächer parallel gelernt werden muss“, sagt Wilfried Bock. Dazwischen liegen die Daltonstunden, in denen Schüler allein oder in Gruppen Übungs- oder Hausaufgaben machen. Ein Konzept, das zwischen 2005 und 2008 sukzessive eingeführt wurde: erst in der Ober-, dann in der Unter- und schließlich in der Mittelstufe. Sowohl die Ergebnisse bei Lernstandserhebungen als auch die Anmeldezahlen weisen seither nach oben.

Freitagnachmittag, „Tutorstunde“. In den letzten 60 Minuten vor dem Wochenende finden Schüler und Tutoren, wie die Klassenlehrer heißen, Zeit für Organisatorisches oder individuelle Gespräche. In der 8. Klasse von Ruth Dahmen, 33, gibt es derzeit nicht viel zu planen. Also sind die meisten in Einzel- oder Gruppenarbeiten vertieft, während Ruth Dahmen, die Deutsch, Biologie und Religion unterrichtet, die Daltonplaner durchblättert. Stempel, Unterschriften und Notizen der Kollegen machen ersichtlich, ob jeder das vorgegebene Pensum abgearbeitet hat und wo es Probleme gibt. „Mindestens 3x pro Stunde melden“, steht im Heft einer Schülerin. „Das Mädchen steuert auf eine 5 in Mathe zu“, sagt Ruth Dahmen. „Also steuern wir mit ganz konkreten Leitlinien dagegen.“ Freiheit im Unterricht ist eine Medizin, die ihre heilsame Wirkung entfaltet, wenn die Dosis stimmt.

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Ein Blick durch die angelehnte Tür lässt zuerst zweifeln, ob hier eine Schule ist. Keine Tische, keine Bänke, die Tafel fehlt – und wo ist der Lehrer? In der einen Ecke lesen drei Schüler, ein Mädchen schreibt daneben still in ein Heft, zwei Jungs zählen Spielzeugautos, einige Kinder liegen auf dem Boden und zeigen sich gegenseitig bunte Kärtchen.

An der Grundschule Gau-Odernheim sieht Unterricht immer so aus: selbständig, kreativ, offen. In der Klasse der „Haie“ lernen Erst- bis Viertklässler zusammen und jeder das, was er gerade möchte – oder das, was er noch nicht so gut beherrscht. Vier Lehrkräfte sind heute da, eine von ihnen, Susan Kayser, sitzt an einem großen runden Tisch neben Leon und übt mit ihm neue Verben. „Veeeer...“, fängt die Lehrerin an. „Veeer...suchen!“, ergänzt Leon. Links daneben sitzt Freya. Ihr zeigt sie parallel, wie man im Zehnerraum addiert. Sieben plus zwei, da stimmt doch was nicht. Freya schmunzelt, radiert, Susan Kayser zeigt auf einen Strang Holzperlen. „Zähl nochmal! Zehn ist nicht richtig.“ Da schaut ihr von hinten Lilly über die Schulter. Sie möchte wissen, ob ihr Zahlenstrahl korrekt ist. Individueller Unterricht bedeutet für Lehrer einen erheblichen Mehraufwand, jedes Kind braucht Aufmerksamkeit. „Aber inzwischen kann ich mir ein anderes Arbeiten nicht mehr vorstellen“, sagt Susan Kayser.

Das Konzept der Schule in Rheinhessen ist noch jung. Als Erzieherin Silvia Lamby vor zehn Jahren an die Schule kam, gab es noch klassischen Unterricht bis mittags. Vor sieben Jahren begann dann die Umstellung auf den offenen Ganztagsunterricht. Für die Umstellung bekam jeder Lehrer seine Zeit: „Die Veränderungen wurden nicht erzwungen, die Schulleitung ermöglichte uns eigene Wege zu finden“, sagt Silvia Lamby. Jeder gestalte das individuelle Fördern so, wie es zu ihm passe. „Einige Kollegen arbeiten völlig frei mit den Kindern, bei anderen sind mehr klassische Unterrichtselemente enthalten.“ So ist die Grundschule Gau-Odernheim keine reine Walddorfschule, keine offizielle Montessori-Pädagogik oder Freinet, sondern von allem etwas. Vielfalt, ein Leitwort an der Schule, betrifft nicht nur Schüler, sondern setzt sich im Kollegium fort.

Vielfalt kann auch eine Herausforderung sein. Die Schule macht daraus eine Stärke: Sie setzt gezielt auf Inklusion, darum lernen in Gau-Odernheim Kinder mit und ohne Behinderung zusammen. Gemischt sind die Jahrgänge auch im Alter. Kinder von sechs bis zehn Jahren lernen zusammen, voneinander, übereinander. „Begabungsgerechten Unterricht“, nennt Susan Kayser das. „Und Begabung richtet sich nun mal nicht nach dem Alter.“ Einige Schüler bräuchten eben mehr Unterstützung, andere weniger. Die Lehrer müssen den Leistungsstand des Einzelnen daher sehr genau beobachten.

Die Kinder lernen auch, sich selbst einzuschätzen. Jeder muss sich einen eigenen Tagesplan erstellen. Luisa hat dafür ihr orangefarbenes Logbuch. Jeden Morgen notiert sie, was sie sich für den Tag vorgenommen hat; heute stehen ein Aufsatz und das Multiplizieren der Zahlen bis Zwanzig an. Am Nachmittag wird sie im Logbuch bilanzieren, ob sie alles gemeistert hat. „Bisher komme ich gut voran“, sagt sie schon mal ganz stolz. Kein Grund zum Faulenzen, da ist Luisa streng mit sich. „Wenn ich merke, ich kann noch mehr, dann mache ich noch eine neue Aufgabe.“

Das selbständige Arbeiten funktioniert vor allem, weil die Schüler Spaß am Lernen haben. Noch bevor um acht Uhr der Unterricht losgeht, üben einige Dritt- und Viertklässler zusammen ein selbst geschriebenes Theaterstück auf Englisch. „Alle Kinder sind von sich aus wissbegierig“, sagt Susanne Rammenzweig-Fendel. „Es sind leider oft die Schulen, die ihnen die Freude am Lernen nehmen.“ Die Schulleiterin der 280 Kinder versucht daher, die Motivation der Kinder dezent zu lenken. Schließlich sollen die Kinder nicht nur ihren Neigungen nachgehen. Auch das Mathe-Ass muss schreiben lernen und die Leseratte den Mathetest schaffen. „Offener Unterricht heißt nicht, dass es hier nur Freiräume gibt“, betont Susanne Rammenzweig-Fendel. Es sei eine Mischung aus Anspannung und Entspannung nötig, um die Kinder zu fördern ohne zu überfordern. Das klappt in Gau-Odernheim so gut, dass einige Schüler nach Schulschluss gar nicht nach Hause wollen, sondern lieber noch etwas weiterbasteln, forschen oder lesen.

Individuell ist auch die Beurteilung. Bis zum vierten Jahrgang stehen im Zeugnis keine blanken Zahlen sondern kurze Texte, die das Lernniveau des Schülers beschreiben. Vieles, was die Grundschule Gau-Odernheim ausmacht, kennen die Eltern aus ihrer eigenen Schulzeit nicht, das führt manchmal zu Vorbehalten. Daher beziehen die Lehrer die Eltern so gut es geht in ihre Arbeit ein. Alle zwei Wochen schreiben sie ihnen eine Rückmeldung über den Wissensstand ihres Kindes. Elternsprecher Andreas Gallhuber schickt inzwischen sein zweites Kind auf die Schule. Auch er war am Anfang skeptisch, sich auf das pädagogische Neuland einzulassen. Sechs Monate dauerte es, bis er den Lehrern vertraute – und seiner Tochter. „Das hier ist eine Schule für jedes Kind“, sagt er. „Aber nicht für jedes Elternteil.“ Viele Eltern befürchten, das eigene Kind sei unterfordert, wenn die Leistungsunterschiede groß sind. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Die Kinder setzen sich gegenseitig Lernanreize. Das zeigen die Schüler im täglichen Abschlusskreis: Heute rechnet Luca dort eine Aufgabe vor, die er sich ausgedacht hat. Etwas Schwieriges hat er sich überlegt, 261 geteilt durch 17. Die Zweitklässler staunen: „Das geht doch gar nicht auf?“ Luca erklärt ihnen seinen Rechenweg. „Nur was du anderen erklären kannst, hast du auch selbst verstanden“, erläutert Lehrerin Susan Kayser das Prinzip.

Das innovative Schulkonzept hat sich herumgesprochen, denn bundesweite Vergleichstests zeigen, dass diese Pädagogik erfolgreich ist: In der Jahrgangsstufe 3 schnitt die Grundschule Gau-Odernheim sehr gut ab, im Fach Deutsch überdurchschnittlich. Vertreter anderer Schulen kommen vorbei, um sich zu informieren. „Man muss nicht gleich sein eigenes Konzept komplett umwälzen“, sagt Susanne Rammenzweig-Fendel. „Aber wer einmal mit seinen Drittklässlern ein Projekt mit den Schulanfängern seiner Kollegin gemacht hat, der merkt schnell, wie gut offener Unterricht für die Kinder ist.“

Lernen lernen lautet das Credo. Und die Lehrer folgen diesem Leitsatz genauso wie die Schüler. Ihre moderne Pädagogik stecke noch immer in der Entwicklung, scheut sich Schulleiterin Rammenzweig-Fendel nicht zu sagen. „Wir sind ein lernendes System und betrachten uns immer wieder kritisch.“ Es gibt wöchentliche Teamsitzungen, Evaluationen und ein schuleigenes Curriculum, das stetig optimiert wird. Lernen heißt auch, dass nicht alles gleich funktioniert. „Wir haben auch manches versucht, was sich als Einbahnstraße entpuppt hat, aber nur so können wir uns verbessern.“ Es ist wie in Freyas Rechenheft: Da wird viel radiert, verbessert – aber am Ende stimmt das Ergebnis.

Porträt

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Das Mädchen kauert auf dem metergroßen Kissen, hinter einem Regal versteckt, und zieht die Knie ans Kinn. Die „Schnauze-Voll-Ecke“ in der Braunschweiger „Grundschule Comeniusstraße“ ist ein stiller Ort. Anja* atmet tief durch. Gerade wollte es einfach nicht klappen, zwei plus drei, was macht das nur? Nach einem langen Moment streckt sich ihr eine Hand entgegen. „Komm, wir setzen uns gemeinsam dran“, sagt ihre Lehrerin Petra Weymann und lächelt. Anja verlässt die Ecke, sie setzt sich an den Tisch. Vertieft sich in die Additionsrechnung.

Anja ist Zweitklässlerin, zwei plus drei sollte leicht zu lösen sein. Sollte. Doch steht sie vor einer Rechnung wie vor einer Wand, ist wie blockiert; Panik kommt dann hoch. Förderlehrerin Petra Weymann von der Comenius-Schule nimmt sie ihr. Sie sitzt mit Anja in ihrem Büro. Liegt eine Rechenschwäche vor? „Anjas Eltern sind mit ihrem eigenen Leben überfordert“, wird sie später sagen. Vater und Mutter haben psychische Probleme, ihrer Tochter geben sie zwar viel Liebe, aber wenig klare Alltagsstrukturen. „Wir versuchen jetzt erstmal, Ruhe und Orientierung in Teile von Anjas Leben zu kriegen.“

Die „Schnauze-Voll-Ecke“ dient Schülern zum Luftholen. Der Blick von dort durchs Fenster verliert sich im Nirgendwo des Himmels. Kinderköpfe ragen zum Glas nicht herauf; so hoch ist es angebracht im wuchtigen Zentralbau aus dem Jahr 1904. Die Deckenhöhe liegt bei mehreren Metern. Die Pädagogik aber hier ist auf Augenhöhe. Ein konsequentes Unterstützungssystem prägt das Schulleben: morgens durch individuellen Unterricht, nachmittags durch 80 Arbeitsgemeinschaften für die 387 Schüler der Offenen Ganztagsschule und abends durch die vielen Gespräche mit Eltern, Sozialarbeitern und Amtsvertretern – wie Zahnräder, die ineinander greifen. Aus den Schülern das Beste herausholen, sie fit machen fürs Leben, das gelingt hier gut. Die Lehrer hospitieren regelmäßig in den fünf Kitas der Umgebung, um ihre künftigen Schüler kennen zu lernen.

Es ist Punkt neun. Die Klassen 1b, 2b, 3b und 4b haben zwei Stunden lang Lernzeit. In den Jahrgängen, die eine Flurgemeinschaft bilden, suchen sich die Schüler ihren Lernstoff selbst. Auch die Flure bevölkern sie, Tische stehen an den von der Zeit gebräunten Holzpaneelen. Aus dem Computerraum dringt Gelächter. Detlev Eicke hat seine Schüler hereingelegt. „Von einer Laterne zur anderen braucht man sieben Hüpfer“, sagt der 72-jährige ehemalige Gymnasiallehrer. „Aber bei neun Laternen muss man achtmal sieben Sprünge machen, nicht neunmal sieben.“ Detlev Eicke gehört zu 15 ehrenamtlichen Kräften. Er fördert mathematisch besonders Begabte. „Die können mit meinen Vorschlägen oft wenig anfangen, kommen aber trotzdem zur richtigen Lösung“, sagt er und grinst. „Meistens.“ Im Erdgeschoss treffen sich Schüler zum freien Tanz, Gefühle sollen kreativ ausgedrückt werden. „Eure Arme haben die Hauptrolle“, ruft Choreographin Sylvia Heyden, und dann: „Shape!“ Die Schüler vereinen sich zu Dreierfiguren und halten inne. „Kreativtanz macht die Kinder zufriedener mit sich selbst, selbstbewusster“, sagt die Tanzlehrerin.

Manche Eltern mögen über diese Schule erstmal die Stirn runzeln. Hausaufgaben wurden abgeschafft. Ziffernnoten auf Druck der Landesregierung nur mit Murren wieder eingeführt. Und dennoch lag die Schule in den bundesweiten Vergleichsarbeiten bei Lesefähigkeit von 2008 bis 2012 sieben bis 20 Prozent über dem Landesdurchschnitt; bei Mathematik waren es bis 2010 fünf bis 15 Prozent über dem Landesdurchschnitt. Um die 60 Prozent der Schüler erhalten eine Gymnasialempfehlung, 30 bis 35 Prozent eine Realschulempfehlung. Was macht den Erfolg aus?

Vor allem die Bereitschaft zu Diskussionen. Als Brigitte Rössing vor 23 Jahren als junge Rektorin an die Schule kam, hatte sie kein festes Konzept im Kopf, aber einen Plan: Wohlfühlen sollte sich jeder, ob Schüler oder Lehrer. Mehr Verantwortung übernehmen. Mit starker Motivationskraft trieb sie Debatten voran: Jede Änderung, sei es die Abschaffung der Schulklingel oder die Öffnung für Inklusion, war ein gemeinsamer Schritt, nach intensiven Debatten, wenn klar war: die Mehrheit ist überzeugt. Übergestülpt wurde nichts. Die positiven Erfahrungen mit der einen oder anderen Reform nahmen zu – und damit vergrößerte sich auch die Schar der mutigen Lehrkräfte, offen für weitere Neuerungen. „Derzeit überlegen wir, jahrgangsübergreifende Klassen einzuführen“, sagt Brigitte Rössing. „Aber wir wollen nichts überstürzen.“ Das Kollegium ist dafür, aber aus der Elternschaft kommen Bedenken, wegen der Neuaufteilung bewährter Klassen. Heißt für Rössing: Diskutieren, Ängste nehmen.

An der Garderobe der 2a im Erdgeschoss wartet Brigitte Jürgensen, sie holt ihren Sohn ab. „Ich habe das dänische Bildungssystem als Schülerin durchlaufen“, sagt die Zahnärztin. „Anfangs war ich in Deutschland geschockt, wegen des Schwerpunkts der Schulen auf reine Leistung.“ Diese Schule aber, sagt sie, erinnere sie an die Heimat. „Hier ist mehr Menschwerdung als Leistung. Die Schule sucht Antworten für alle Schüler.“

Die findet man zum Beispiel in den Lerntagebüchern. Gegen Ende der fünften Stunde notieren die Schüler der 4c, was sie heute gelernt haben. „Habe mein Plakat zum Mount Everest vorgestellt“, schreibt Hayat. „Mir ist alles gut gelungen (glaube ich).“ Still ist es in der Klasse. Lehrerin Nina Butenhoff hat heute ihren Hund Bolle mitgebracht. Ein Plakat im Treppenflur wirbt mit dem „Schulhund“ – und bittet um Ruhe, wegen seiner empfindlichen Ohren.

Still ist es auch am Nachmittag im Keller. Schüler zielen mit Pfeil und Bogen auf eine Kunststoffscheibe, im mit Kerzen erleuchteten Nebenraum hocken sie beim Yoga. 250 Schüler verteilen sich auf 80 Arbeitsgemeinschaften, üben Stepptanz oder Fechten, Kochen, Rappen oder trainieren Hunde. Das Nachmittagsangebot ist nicht einfach angehängt: Seit den Neunziger Jahren arbeitet die Schule eng mit dem Kinderhaus Brunsviga und seinen Erziehern zusammen. Jeder Schulklasse sind Brunsviga-Erzieher zugeordnet, die regelmäßig mit in den Unterricht gehen und die Lehrer dort unterstützen. „Die Vielfalt wurde langsam zum Selbstläufer“, sagt Ute Wasserbauer, die langjährige Leiterin des Kinderhauses. „Das zieht auch immer mehr Ideen an.“ Gerade erhielt sie einen Anruf: Ein Feuerwehrmann will eine AG anbieten.

Gegen vier Uhr leert sich der dreistöckige Bau. Doch für Anjas Förderlehrerin Petra Weymann ist noch lange nicht Feierabend. „Ich muss ein paar Mails schreiben“, sagt sie. Rund 30 der 387 Schüler hat sie unter ihren Fittichen. „Ich bin eine Penetrante, das weiß ich.“ Für die Eltern von Anja will sie einen Erziehungsbeistand durchs Jugendamt organisieren, „der kann der Familie helfen, besser durch den Alltag zu kommen und Strukturen aufzubauen“.

Das Sozialsystem in Deutschland gilt als gut – auf dem Papier. Oft aber hapert es an der praktischen Umsetzung. Lehrer wie Petra Weymann sorgen dafür, dass Kinder und Eltern ihre Rechte auch bekommen, sie ruft bei Ämtern und Ärzten an, begleitet sie auch zu Behördengängen. Die Kooperation mit dem Jugendamt? Ihre Mundwinkel zucken. „Jeder Sozialarbeiter muss immer mehr Fälle übernehmen.“

Am frühen Abend gähnt Petra Weymann zufrieden. Das Jugendamt hat sofort geantwortet, Hilfe für Anjas Familie in Aussicht gestellt. Die Schule sucht nach Antworten – für alle Schüler. So lange, bis sie welche findet.

*Name geändert

"Für mehr gute Schulen" - Das Deutsche Schulportal stellt sich vor

„Für mehr gute Schulen“ – das ist der Leitspruch des Deutschen Schulportals: Die Online­platt­form ist ein Fach­medium für alle, die sich für Schul- und Unterrichts­entwicklung interessieren. In diesem Video erfahren Sie, was die Ziele des Schulportals sind und warum Robert Bosch Stiftung, Heidehof Stiftung und Deutsche Schulakademie es ins Leben gerufen haben.

Es gibt viele gute Gründe, sich für den Deutschen Schulpreis zu bewerben: Interview mit Prof. Dr. Hermann Veith

Prof. Dr. Hermann Veith im Interview.

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Mehdi*, der in der ersten Reihe sitzt, will Popstar werden, und wenn das nicht klappt, Elektriker. Nach zwei Jahren in Deutschland konjugiert der 18-Jährige deutsche Verben locker rauf und runter, und doch verstehe er oft kein Wort auf der Straße, sagt er und grinst. „Wenn die Leute bayrisch reden.“ Im Sommer will er seinen Mittelschulabschluss machen, doch wenn es schlecht läuft, wird er vorher nach Afghanistan abgeschoben.

Naima, die neben ihm sitzt, ist vor drei Jahren aus Mogadischu geflohen und träumt jetzt von einer Ausbildung zur Arzthelferin. Aber wer gibt einer 19-Jährigen, die vielleicht schon in drei Jahren zurück nach Somalia muss, eine Lehrstelle? Sie wird besser sein müssen als die anderen Bewerber, und manchmal, wenn Mehdi im Unterricht wieder nur Witze reißt, zischt sie ihn an: „Kannst du nicht mal fünf Minuten still sein?“

In der Klasse von Deborah Holleitner, die alle nur „Debbie“ nennen, sitzen 15 junge Männer und Frauen, die sich auf den Weg vom äußeren Rand der Gesellschaft in Richtung Mitte gemacht haben. Vor nicht einmal drei Jahren konnten Mehdi, Naima und die anderen kaum ein Wort Deutsch. Jetzt rückt der Abschluss näher, und mit einem Mal scheinen eine Lehre und ein Beruf, scheint eine Zukunft in Deutschland zum Greifen nah, obwohl sich die meisten von einer Aufenthaltsfrist zur nächsten hangeln.

Die „SchlaU-Schule“, Deutschlands einzige anerkannte Schule, in der ausschließlich junge Flüchtlinge lernen, liegt versteckt zwischen Schnell-Restaurants und Nagelstudios im Münchner Bahnhofsviertel. Neben der Shisha-Bar „Babylon“ führt ein unauffälliger Eingang in ein enges Treppenhaus. Drei Stockwerke darüber öffnet sich eine Glastür in ein knallbunt gestrichenes Foyer, in dem sich Lehrer und Schüler mit Handschlag begrüßen wie alte Freunde und über alles plaudern, was so ansteht, von Champions League bis Liebeskummer. „Der vertraute Umgang mag ungewöhnlich wirken“, gibt Melanie Weber zu. „Aber“, so die stellvertretende Schulleiterin, „wir sind eben keine gewöhnliche Schule.“ Viele Schüler mussten ihre Familie in der Heimat zurücklassen, nicht wenige sind traumatisiert. Hinzu komme die ständige Angst, abgeschoben zu werden. Zwar arbeite die Schule eng mit Beratungsstellen und Jugendhilfe zusammen, aber oft kämen die Jugendlichen mit ihren Sorgen eben zu ihren Lehrern, sagt Melanie Weber. Ein Vertrauen, das möglich wird, weil sie hier, auf zwei Büroetagen im Bahnhofsviertel, nicht nur als Flüchtlinge gesehen werden, sondern auch als junge Menschen, die Dreisatz oder Präteritum lernen wollen.

Jungen Flüchtlingen eine Chance auf Teilhabe geben – das war der Grundgedanke von Michael Stenger, der die SchlaU-Schule im Jahr 2000 gründete. Stenger, damals Lehrer für Deutsch als Fremdsprache, war aufgefallen, dass immer mehr Teenies in seinen Sprachkursen saßen. Der Grund: Nach ihrem 16. Geburtstag hatten sie kein Recht mehr auf den Besuch einer Regelschule in Deutschland – eine Lücke im System. Er entwickelte ein Konzept namens „Schulanaloger Unterricht für junge Flüchtlinge“, kurz: „SchlaU“, und stellte die ersten Klassen zusammen. Mit Erfolg. 2004 erkannte das bayerische Kultusministerium die SchlaU-Schule als Berufsförderungseinrichtung an, seither können Schüler, die Grund-, Mittel- und Abschlussstufe der SchlaU-Schule erfolgreich absolviert haben, die Mittelschulprüfung ablegen. Von der ersten Unterrichtsstunde bis zur Prüfung können, je nach Vorbildung und Lerntempo, zwei bis vier Jahre vergehen. Ein weiter Weg, den nicht jeder bis zu Ende geht, doch wer sich, wie Mehdi, Naima und die anderen aus Deborah Holleitners Abschlussklasse, der Prüfung stellt, besteht sie in der Regel auch.

Es war ein Lernprozess für alle Beteiligten. Für den Gründer Michael Stenger, der heute nicht mehr in der Schulleitung tätig ist, sondern politische Arbeit für Flüchtlinge macht. Und für das Kollegium sowieso, schließlich wusste zunächst niemand, welche Art von Unterricht junge Flüchtlinge brauchen. Passende Lehrmittel? Auch Fehlanzeige. Heute gehört Schulentwicklung fest zum Alltag an der SchlaU-Schule. Vor allem im Fach „Deutsch als Fremdsprache“, das Dreh- und Angelpunkt des Fächerkanons ist. „Die meisten Lehrbücher, die es auf dem Markt gibt, wurden für eine Zielgruppe entwickelt, die eine zweite oder dritte Fremdsprache lernt“, sagt Anja Kittlitz. Die Bildungsforscherin begleitet den Entwicklungsprozess an der SchlaU-Schule wissenschaftlich. Das Tempo sei zu hoch, die Themen oft unpassend. „In den Arbeitsbüchern geht es zum Beispiel um Themen wie die Familie oder den letzten Italienurlaub“, so Kittlitz. Was in einem Fall bedrückende Erinnerungen bei Flüchtlingen wecken könne, im anderen wie Hohn wirke. „Es ist wichtig, dass der Unterricht auf die jeweiligen psychischen Belastungssituationen Rücksicht nimmt“, so Kittlitz. An der SchlaUSchule wird deshalb oft mit hausgemachten Materialien gearbeitet.

Zudem wurde den Lehrern schnell klar, dass das eigentliche Lernen nur gelingen kann, wenn die Schule zugleich die Persönlichkeitsentwicklung und das Selbstwertgefühl ihrer Schülerinnen und Schüler im Auge hat. Ergänzend zum Unterricht gibt es beispielsweise eine Schach-AG, eine Schulband, Nähkurse und eine Theatergruppe – ein Angebot, das ohne Ehrenamtliche nicht möglich wäre. Auch scheinbar nebensächliche Dinge, wie möglichst wenige Lehrerwechsel, haben sich als stabilisierend für Schullaufbahnen erwiesen. „Der Erfolg des Unterrichts hängt entscheidend von einer guten Lehrer-Schüler-Beziehung ab“, sagt Forscherin Kittlitz. Mittlerweile teilt die Schule ihre Erfahrungen mit Berufsschulen in Bayern, die eigene Klassen für Flüchtlinge eingerichtet haben. Fortbildungen in „Deutsch als Fremdsprache“ oder „Trauma-Pädagogik“ schulen Lehrer im Land für eine Aufgabe, die kein Uni-Seminar lehrt – noch nicht. Und so sind die Kollegen an den Regelschulen oft überfordert mit der Situation und die Flüchtlinge bleiben Außenseiter. Inklusion bleibt Illusion.

„Natürlich lernen wir selbst auch ständig dazu“, sagt Vize-Schulleiterin Melanie Weber, auf deren Konferenztisch an diesem Vormittag eine große Tüte voller Kondome liegt: Die Projektwoche zum Thema Sexualkunde beginnt, den Auftakt machen Mitarbeiter einer Frauenberatungsstelle mit einem Workshop zum Thema „Freiheit und Partnerwahl“. „Nicht ganz einfach“, weiß Melanie Weber. „Für manche ist es selbstverständlich, dass die Eltern den Partner mit aussuchen, für andere nicht.“ Auch was die Rolle der Frau angehe, gebe es unterschiedliche Standpunkte der Schüler. „Wir wollen die Meinungen nicht werten, aber auf Basis der Menschenrechte diskutieren“, so Weber. Ein Kollegium, das zu 80 Prozent aus Frauen besteht, sei natürlich für sich ein Standpunkt, der sich schwer ignorieren lasse.

Auch wenn es in den Zeitungen manchmal so klingt: Die SchlaU-Schule macht nicht jeden Analphabeten zum Hochschulaspiranten. Aber sie hilft jungen Menschen dabei, ihren eigenen Weg zu gehen – in eine Ausbildung, an eine weiterführende Schule oder gar an die Universität. Wege, die nicht nur von Fleiß und Ehrgeiz abhängen, sondern auch von einer Gesellschaft, die bereit ist, junge Menschen aus dem Ausland aufzunehmen: Der 19-jährige Victor aus Nigeria, der in der letzten Reihe in Deborah Holleitners Unterricht sitzt, hebt den Finger, weil er etwas erzählen möchte. Manchmal, wenn er mit der S-Bahn zur Schule fahre, kämen Kontrolleure in den Wagen, sagt er. Sie gingen auf und ab und wollten am Ende nur ein einziges Ticket sehen: seins.

*alle Schülernamen geändert