Porträt

Das Mädchen kauert auf dem metergroßen Kissen, hinter einem Regal versteckt, und zieht die Knie ans Kinn. Die „Schnauze-Voll-Ecke“ in der Braunschweiger „Grundschule Comeniusstraße“ ist ein stiller Ort. Anja* atmet tief durch. Gerade wollte es einfach nicht klappen, zwei plus drei, was macht das nur? Nach einem langen Moment streckt sich ihr eine Hand entgegen. „Komm, wir setzen uns gemeinsam dran“, sagt ihre Lehrerin Petra Weymann und lächelt. Anja verlässt die Ecke, sie setzt sich an den Tisch. Vertieft sich in die Additionsrechnung.

Anja ist Zweitklässlerin, zwei plus drei sollte leicht zu lösen sein. Sollte. Doch steht sie vor einer Rechnung wie vor einer Wand, ist wie blockiert; Panik kommt dann hoch. Förderlehrerin Petra Weymann von der Comenius-Schule nimmt sie ihr. Sie sitzt mit Anja in ihrem Büro. Liegt eine Rechenschwäche vor? „Anjas Eltern sind mit ihrem eigenen Leben überfordert“, wird sie später sagen. Vater und Mutter haben psychische Probleme, ihrer Tochter geben sie zwar viel Liebe, aber wenig klare Alltagsstrukturen. „Wir versuchen jetzt erstmal, Ruhe und Orientierung in Teile von Anjas Leben zu kriegen.“

Die „Schnauze-Voll-Ecke“ dient Schülern zum Luftholen. Der Blick von dort durchs Fenster verliert sich im Nirgendwo des Himmels. Kinderköpfe ragen zum Glas nicht herauf; so hoch ist es angebracht im wuchtigen Zentralbau aus dem Jahr 1904. Die Deckenhöhe liegt bei mehreren Metern. Die Pädagogik aber hier ist auf Augenhöhe. Ein konsequentes Unterstützungssystem prägt das Schulleben: morgens durch individuellen Unterricht, nachmittags durch 80 Arbeitsgemeinschaften für die 387 Schüler der Offenen Ganztagsschule und abends durch die vielen Gespräche mit Eltern, Sozialarbeitern und Amtsvertretern – wie Zahnräder, die ineinander greifen. Aus den Schülern das Beste herausholen, sie fit machen fürs Leben, das gelingt hier gut. Die Lehrer hospitieren regelmäßig in den fünf Kitas der Umgebung, um ihre künftigen Schüler kennen zu lernen.

Es ist Punkt neun. Die Klassen 1b, 2b, 3b und 4b haben zwei Stunden lang Lernzeit. In den Jahrgängen, die eine Flurgemeinschaft bilden, suchen sich die Schüler ihren Lernstoff selbst. Auch die Flure bevölkern sie, Tische stehen an den von der Zeit gebräunten Holzpaneelen. Aus dem Computerraum dringt Gelächter. Detlev Eicke hat seine Schüler hereingelegt. „Von einer Laterne zur anderen braucht man sieben Hüpfer“, sagt der 72-jährige ehemalige Gymnasiallehrer. „Aber bei neun Laternen muss man achtmal sieben Sprünge machen, nicht neunmal sieben.“ Detlev Eicke gehört zu 15 ehrenamtlichen Kräften. Er fördert mathematisch besonders Begabte. „Die können mit meinen Vorschlägen oft wenig anfangen, kommen aber trotzdem zur richtigen Lösung“, sagt er und grinst. „Meistens.“ Im Erdgeschoss treffen sich Schüler zum freien Tanz, Gefühle sollen kreativ ausgedrückt werden. „Eure Arme haben die Hauptrolle“, ruft Choreographin Sylvia Heyden, und dann: „Shape!“ Die Schüler vereinen sich zu Dreierfiguren und halten inne. „Kreativtanz macht die Kinder zufriedener mit sich selbst, selbstbewusster“, sagt die Tanzlehrerin.

Manche Eltern mögen über diese Schule erstmal die Stirn runzeln. Hausaufgaben wurden abgeschafft. Ziffernnoten auf Druck der Landesregierung nur mit Murren wieder eingeführt. Und dennoch lag die Schule in den bundesweiten Vergleichsarbeiten bei Lesefähigkeit von 2008 bis 2012 sieben bis 20 Prozent über dem Landesdurchschnitt; bei Mathematik waren es bis 2010 fünf bis 15 Prozent über dem Landesdurchschnitt. Um die 60 Prozent der Schüler erhalten eine Gymnasialempfehlung, 30 bis 35 Prozent eine Realschulempfehlung. Was macht den Erfolg aus?

Vor allem die Bereitschaft zu Diskussionen. Als Brigitte Rössing vor 23 Jahren als junge Rektorin an die Schule kam, hatte sie kein festes Konzept im Kopf, aber einen Plan: Wohlfühlen sollte sich jeder, ob Schüler oder Lehrer. Mehr Verantwortung übernehmen. Mit starker Motivationskraft trieb sie Debatten voran: Jede Änderung, sei es die Abschaffung der Schulklingel oder die Öffnung für Inklusion, war ein gemeinsamer Schritt, nach intensiven Debatten, wenn klar war: die Mehrheit ist überzeugt. Übergestülpt wurde nichts. Die positiven Erfahrungen mit der einen oder anderen Reform nahmen zu – und damit vergrößerte sich auch die Schar der mutigen Lehrkräfte, offen für weitere Neuerungen. „Derzeit überlegen wir, jahrgangsübergreifende Klassen einzuführen“, sagt Brigitte Rössing. „Aber wir wollen nichts überstürzen.“ Das Kollegium ist dafür, aber aus der Elternschaft kommen Bedenken, wegen der Neuaufteilung bewährter Klassen. Heißt für Rössing: Diskutieren, Ängste nehmen.

An der Garderobe der 2a im Erdgeschoss wartet Brigitte Jürgensen, sie holt ihren Sohn ab. „Ich habe das dänische Bildungssystem als Schülerin durchlaufen“, sagt die Zahnärztin. „Anfangs war ich in Deutschland geschockt, wegen des Schwerpunkts der Schulen auf reine Leistung.“ Diese Schule aber, sagt sie, erinnere sie an die Heimat. „Hier ist mehr Menschwerdung als Leistung. Die Schule sucht Antworten für alle Schüler.“

Die findet man zum Beispiel in den Lerntagebüchern. Gegen Ende der fünften Stunde notieren die Schüler der 4c, was sie heute gelernt haben. „Habe mein Plakat zum Mount Everest vorgestellt“, schreibt Hayat. „Mir ist alles gut gelungen (glaube ich).“ Still ist es in der Klasse. Lehrerin Nina Butenhoff hat heute ihren Hund Bolle mitgebracht. Ein Plakat im Treppenflur wirbt mit dem „Schulhund“ – und bittet um Ruhe, wegen seiner empfindlichen Ohren.

Still ist es auch am Nachmittag im Keller. Schüler zielen mit Pfeil und Bogen auf eine Kunststoffscheibe, im mit Kerzen erleuchteten Nebenraum hocken sie beim Yoga. 250 Schüler verteilen sich auf 80 Arbeitsgemeinschaften, üben Stepptanz oder Fechten, Kochen, Rappen oder trainieren Hunde. Das Nachmittagsangebot ist nicht einfach angehängt: Seit den Neunziger Jahren arbeitet die Schule eng mit dem Kinderhaus Brunsviga und seinen Erziehern zusammen. Jeder Schulklasse sind Brunsviga-Erzieher zugeordnet, die regelmäßig mit in den Unterricht gehen und die Lehrer dort unterstützen. „Die Vielfalt wurde langsam zum Selbstläufer“, sagt Ute Wasserbauer, die langjährige Leiterin des Kinderhauses. „Das zieht auch immer mehr Ideen an.“ Gerade erhielt sie einen Anruf: Ein Feuerwehrmann will eine AG anbieten.

Gegen vier Uhr leert sich der dreistöckige Bau. Doch für Anjas Förderlehrerin Petra Weymann ist noch lange nicht Feierabend. „Ich muss ein paar Mails schreiben“, sagt sie. Rund 30 der 387 Schüler hat sie unter ihren Fittichen. „Ich bin eine Penetrante, das weiß ich.“ Für die Eltern von Anja will sie einen Erziehungsbeistand durchs Jugendamt organisieren, „der kann der Familie helfen, besser durch den Alltag zu kommen und Strukturen aufzubauen“.

Das Sozialsystem in Deutschland gilt als gut – auf dem Papier. Oft aber hapert es an der praktischen Umsetzung. Lehrer wie Petra Weymann sorgen dafür, dass Kinder und Eltern ihre Rechte auch bekommen, sie ruft bei Ämtern und Ärzten an, begleitet sie auch zu Behördengängen. Die Kooperation mit dem Jugendamt? Ihre Mundwinkel zucken. „Jeder Sozialarbeiter muss immer mehr Fälle übernehmen.“

Am frühen Abend gähnt Petra Weymann zufrieden. Das Jugendamt hat sofort geantwortet, Hilfe für Anjas Familie in Aussicht gestellt. Die Schule sucht nach Antworten – für alle Schüler. So lange, bis sie welche findet.

*Name geändert