Porträt

Drei Lehrerinnen sitzen im leeren Klassenzimmer der 7a. Sie haben auf einem der Tische ihre Unterlagen ausgebreitet. Ein Schüler steckt den Kopf herein, sagt „Oh, Entschuldigung“, und schließt die Tür leise. Kaum bemerkt von den Lehrerinnen. „Was ist mit Juri*?“, fragt Anja Lindner und schaut gespannt zu ihrer Kollegin. „Er überschätzt sich leicht“, antwortet Barbara Maag-Treß, die Klassenlehrerin der 7a. Die beiden anderen Frauen nicken wissend. „Er spricht kaum mit seinen Mitschülern“, ergänzt Maag-Treß. „Aber er ist wahnsinnig intelligent“, wendet Melanie Meyer ein, „in Mathe ist er super.“

Jede Woche setzen sich die drei Lehrerinnen der Grund- und Werkrealschule in der Taus im baden-württembergischen Backnang zusammen und besprechen, wie es „ihrer“ 7a geht. Sie tauschen ihre Beobachtungen aus, sie wollen sicher sein, dass kein Problem und erst recht keine Begabung übersehen wird: „Wir müssen wissen, wie es den Kindern geht und darauf reagieren“, erklärt Barbara Maag-Treß. „Die Kinder brauchen hier Orientierung und Sicherheit, wenn es Zuhause drunter und drüber geht“, sagt Barbara Maag-Treß.

Nur sechs Kinder der Klasse 7a leben in klassischen Vater-Mutter-Kind-Familien. Die Tausschule ist eine Brennpunktschule. Von 600 Schülern stammt mehr als die Hälfte aus Migrantenfamilien, manche haben keinen gesicherten Aufenthaltsstatus, viele Eltern sprechen kaum Deutsch. Der Anteil alleinerziehender Mütter ist hoch. Viele Kinder kommen aus Familien, in denen Frauen nichts zu sagen haben.

Auch Siebtklässler Juri. Einmal sagte er zu seiner Klassenlehrerin: „Das mache ich nicht, das machen Frauen“, als sie ihn zum Aufräumen aufforderte. Bis vor kurzem war Juri in einer Sprachförderklasse. Es brauchte genaues Beobachten und intensive Zusammenarbeit der Lehrer, um seine Persönlichkeit besser zu verstehen. „In einer anderen Schule wäre Juris Intelligenz vielleicht unbemerkt geblieben. Ein Schüler, der sich nicht gut ausdrücken kann und die Lehrerinnen nicht ernst nimmt, geht schnell unter. „Jeder Schüler hat das Recht, gesehen zu werden“, sagt Schulleiter Jochen Nossek. Deshalb gehören die wöchentlichen Besprechungen zum Schulprofil. Die Lehrer reden nicht erst dann über Schüler, wenn es Probleme gibt. So entstehen viele Probleme erst gar nicht.

Klasse 4b sitzt im Stuhlkreis. In der Mitte liegt ein Zettel. In ungelenker Schrift steht darauf „Auseinandersetzung“. Zwanzig Minuten hat Klassenlehrerin Anja Lindner am Ende der Schulstunde reserviert, um über aktuelle Probleme in der Klasse zu reden. Die Kinder schreiben sie zunächst auf. „Wer hat den Zettel geschrieben?“, fragt Anja Lindner. Mohammed* windet sich auf seinem Platz. „Ich“, sagt er leise, „ich werde so schnell wütend.“ Ein Mädchen mit blonden Zöpfen meldet sich: „Nichts gegen Mohammed, aber man muss nicht gleich rumschreien, wenn man angerempelt wird.“ „Was kann man tun, wenn man sich sehr ärgert?“, fragt die Lehrerin die Runde. Die Kinder haben viele Ideen: Auf ein Wutkissen schlagen, fünf Mal durchatmen, rausgehen und schreien, sich hinterher entschuldigen. „Hilft dir das?“, fragt Anja Lindner ihren Schüler. „Hmm, ja, ich versuche es“, antwortet er.

Probleme werden an der Tausschule sofort besprochen. Wenn ein Kind Sorgen hat, kann es auch während des Unterrichts zu den Schulsozialarbeiterinnen gehen. Sie sind die Vertrauten der Schüler, denn sie geben keine Noten und erzählen nichts weiter, wenn es die Kinder nicht wollen. Sie vermitteln und sorgen dafür, dass die Probleme der Kinder gehört werden. Das danken die Schüler ihrer Schule: „Viele wollen gar keine Ferien“, hat Verbindungslehrerin Friederike Bretträger beobachtet, „sie genießen es, hier zu sein und ihre Freunde zu treffen.“ Als in den Ferien eine Putzaktion anstand, kamen viele Schüler ganz ohne Aufforderung. Die Schule ist ihnen Heimat geworden. Auch an ihren freien Nachmittagen bleiben viele in der Schule und spielen im Freizeitraum.

Auch Lehrer sind länger an der Schule, als sie müssen. Sie kommen beispielsweise schon eine Stunde vor Unterrichtsbeginn, beobachtet Martina Mayer, die Konrektorin: „Das Kollegium fühlt sich mit der Schule verbunden.“ Weniger als 0,1 Prozent des Unterrichts fällt aus – nur wenige Schulen weisen einen so niedrigen Wert auf.

Das war nicht immer so. Der Grundstein für diese Teamarbeit wurde vor zwanzig Jahren gelegt: Viele Lehrer fühlten sich damals allein gelassen, wenn sie einen kranken Kollegen vertreten mussten. Die Lehrer taten sich darauf zusammen, jeder bereitete Materialien für Vertretungsstunden vor.

Als Martina Mayer vor zwölf Jahren an die Schule kam, staunte sie über diese konstruktive Arbeitsgemeinschaft: „Wir haben regelmäßig zusammen Sport und Ausflüge gemacht, uns abends privat getroffen“, erinnert sie sich. Nicht alle Aktivitäten haben sich gehalten. „Seit wir Ganztagsschule sind, ist nicht mehr viel Zeit dafür“, sagt Mayer. Aber das Bewusstsein ist geblieben: Teamwork statt Konkurrenz. „Wir spüren das auch in der Zusammenarbeit mit Eltern und Schülern“, sagt Martina Mayer: „Wenn die Schüler merken, dass wir an einem Strang ziehen, dann nehmen sie uns ernst.“

Am Ende der Besprechung im Klassenraum der 7a haben die drei Lehrerinnen einen Zettel voller Aufgaben. Juri soll sich mehr mit seinen Klassenkameraden unterhalten – auch mit den Mädchen.

Juris Klassenkamerad Marvin*, 13, kam erst in der sechsten Klasse von der Förderschule nach Backnang. Anfangs war er unsicher und still. Er hat das Asperger-Syndrom. Bei einem Sporttag griff der autistische Junge einen Schiedsrichter an und einige Klassenkameraden, die ihn beruhigen wollten. „Er hatte Probleme, die Emotionen anderer einzuschätzen“, erinnert sich Barbara Maag-Treeß.

Der Vorfall blieb der einzige seiner Art. Obwohl die Lehrer der Förderschule vom Wechsel abrieten, konnten Barbara Maag-Treeß und ihre Kollegen den Jungen gut integrieren. Gemeinsam haben sich die Lehrer über Autismus fortgebildet. „Wir wissen jetzt, wie wir mit ihm umgehen müssen.“ Grundlage waren intensive Gespräche der Lehrer untereinander, mit den Sozialpädagogen und mit Marvins Eltern.

Marvin ist heute in den meisten Fächern gleichauf mit dem Durchschnitt seiner Mitschüler. Nur das Lösen komplexer Aufgaben bereitet ihm noch Probleme. „Haben wir nicht eine Aufgabe für ihn, wo er etwas von Anfang bis Ende planen und umsetzen kann?“, fragte die Klassenlehrerin beim jüngsten Elterngespräch. „Na klar, er kann sein neues Zimmer einrichten“, schlug seine Mutter vor. Marvin bekam das als ungewöhnliche Hausaufgabe. „Das wird seine Problemlösefähigkeit verbessern“, sagt Klassenlehrerin Barbara Maag-Treeß. Seither misst er sein Zimmer und die Möbel aus, zeichnet Pläne und bespricht diese begeistert mit Eltern und Lehrern. Marvins Mutter sagt: „Er geht jetzt gern zur Schule.“

Als Marvin vor einiger Zeit seine Medikamente reduzieren wollte, beschlossen Eltern und Lehrer in Absprache mit dem Kinderarzt: „Probieren wir es“. Der Arzt war skeptisch und bat um regelmäßige Berichte. Alle warteten gespannt. Würde es gut gehen? Was würde passieren? Nichts geschah. Beinahe nichts: Kürzlich haben die Lehrerinnen Marvin erstmals lachen sehen.

* Namen geändert