Porträt
Seit heute morgen hat Susanne Hiltl 14 Stellen angerufen, um einen Zuschuss für eine Schülerin zu einer Klassenfahrt zu bekommen. Noch immer keine Zusage! Die Stirn der Schulleiterin kräuselt sich, der Metallgehalt ihrer Stimme nimmt zu. Sie wird diese 93 Euro beschaffen, koste es, was es wolle!
Dabei ist die Schülerin, für die sie solchen Aufwand betreibt, schon längst erwachsen: Nadja*, Anfang zwanzig, bekommt monatlich 495 Euro BAföG vom Staat. 95 Euro für eine Klassenfahrt sind da nicht drin. Ihre Eltern will sie nicht fragen, Behörden erst recht nicht. Lieber bleibt die schüchterne junge Frau zu Hause. Doch die Klassenfahrt ist wichtig für Nadja. Susanne Hiltl wählt die nächste Nummer.
Die Private Fachschule für Wirtschaft und Soziales gibt es seit fast zwanzig Jahren, inzwischen nicht nur in Gera, sondern auch in Sondershausen, Suhl, Jena und Erfurt. Viele der 1.300 Schüler, die jüngsten sind 16, die ältesten 50 Jahre alt, können Beistand gut gebrauchen. „Sie tun sich schwer damit, für ihre Interessen einzutreten, weil sie das Zuhause nicht vorgelebt bekamen“, sagt Susanne Hiltl. Manche haben die Schule abgebrochen und wollen über eine Ausbildung erst noch den Realschulabschluss nachholen, andere sind verschuldet, müssen nebenher im Supermarkt jobben, einige haben psychische Probleme. Drei von zehn Schülern sind schon Eltern, so wie Isabella*.
Isabella, die an diesem Vormittag im Büro ihrer Schulleiterin sitzt, ist Mutter einer kleinen Tochter. Sie ist blass, hat Flecken im Gesicht und Schatten unter den Augen. Ein Häufchen Elend, dabei hatte sie sich am Wochenende noch gut gefühlt. „Ich hab Dummheiten gemacht“, sagt sie. Und ihre Tabletten gegen Depressionen einfach weggelassen. „Ich dachte, es geht ohne.“ Plötzlich fühlte sie sich wieder wie gelähmt. Dabei bedrückt sie nicht nur die Krankheit, sondern auch die Trennung von ihrem Kind, das bei ihrem Ex-Freund lebt. Mit ihrer Mutter ist sie zerstritten, den Vater habe sie zwanzig Jahre nicht gesehen. „Ich hab so viele Dinge im Kopf. Wie soll ich da Mathe lernen?“
Als sie am Montag nicht zum Unterricht erschien, rief ihre Klassenlehrerin an. Isabella hatte sich Zuhause verkrochen. Sie und die Schulleiterin in Gera nehmen ihr an solchen Tagen den Druck, sie stärken ihr außerdem den Rücken, wenn beispielsweise Gespräche mit dem Jugendamt wegen ihres Kindes anstehen. Aber sie muss sich an die Vereinbarung halten und Punkt 18 Uhr ihre Lehrerin anrufen. „Was ist das Wichtigste?“, fragt Susanne Hiltl die bedrückte junge Frau. „Dass es mir gut geht“, antwortet Isabella leise. „Und dass wir wissen, wo Sie sind“, ergänzt Susanne Hiltl.
Solch mütterliche Fürsorge ist nicht nur eine menschliche Geste von Lehrern, die ihre Schüler für soziale Berufe ausbilden: zu Erziehern, Heilpädagogen, Sozialbetreuern und Sozialassistenten. Für Schüler wie Isabella, die Heilerziehungspflegerin werden will, ist sie Voraussetzung, um überhaupt lernen zu können. Die Gefahr, dass sie die Schule abbricht und statt im Sozialberuf im sozialen Netz landet, wäre sonst groß. Gera hat eine Arbeitslosenquote von zwölf Prozent. „Die Schule ist die größte Hilfe, die ich hab'“, sagt Isabella.
Im Klassenzimmer der Erzieherklasse 12.2 in Erfurt hängt am Fenster ein Plakat. Es geht darum, was kleine Kinder stark macht fürs Leben: „Glaub an mich, ermutige mich. Mute mir etwas zu und lass mich Fehler machen“, steht darauf. Man kann es auch als Schulprogramm lesen. „Wir sehen jeden mit seinem Entwicklungspotenzial, egal, welche Auffälligkeit er mitbringt“, sagt Schulleiterin Kerstin Strubl, die für alle fünf Standorte verantwortlich ist.
Dennoch verlangt die Privatschule gute Leistungen. Hier wird passgenau ausgebildet was dem Staat besonders fehlt, vor allem Erzieher für Kitas und Schulen sowie Heilerziehungspfleger für die Inklusion von Behinderten. Das Schulgeld liegt zwischen 36 und 59 Euro monatlich, Lernmaterial inklusive. Schulleiterin Kerstin Strubl kann sich die Schüler aussuchen, dennoch nehme sie eben nicht nur die pflegeleichten Bewerber. Sondern auch solche, die Geduld, Kraft und Nerven kosten.
Solche wie Angelika, die im Jahr 2009 an die Teilschule in Erfurt kam. Sie hatte das Gymnasium abgebrochen. „Ich trug mehr Metall als Haut im Gesicht“, erinnert sie sich. Dazu Glatze. Ihre Lehrer hätten anfangs zwar „ein bisschen komisch geguckt“, aber sie ließen sich nicht provozieren. Im Gegenteil. Wenn sich Angelika mit ihren Lehrern stritt, konnte sie sich drauf verlassen, dass die nachfragten und nicht locker ließen: „Was war da los, Angelika?“
Anderswo kümmert sich der Schulsozialarbeiter um persönliche Probleme der Schüler. Hier sind es die Lehrer, die auch mal anrufen oder vorbeischauen, wenn Schüler nicht zum Unterricht erscheinen. „Mit viel Geduld kriegt man raus, was dahinter steckt, wenn ein Schüler öfter krank ist“, sagt Monika Ritschl, 56.
Monika Ritschl war schon zu DDR-Zeiten Lehrerin, nach der Wende war sie eine Zeit lang arbeitslos. Sie montierte Leuchten, verkaufte Gardinen, schob Nachtschicht in einem Jugendwohnheim. Dort fand sie heraus, dass es selbst harte Jungs und Mädchen mochten, wenn sie ihnen vor dem Einschlafen Märchen vorlas. Inzwischen lehrt sie wieder Mathematik, wie früher, und gibt ihren Schülern zudem kostenlos Nachhilfe. „Es ist eben schon ein Unterschied, ob man links liegen gelassen wird oder der Lehrer will, dass man etwas erreicht“, sagt ihr Schüler Daniel. „Das spornt an.“ Sie drängt sich nicht auf, aber wenn jemand eine geduldige Zuhörerin braucht, darf er anrufen, auch abends. „Sie kümmert sich um uns wie eine Mutti.“
Isabella wird noch eine Zeitlang solch intensive Unterstützung ihrer Lehrer brauchen. Angelika dagegen, die ehemalige Punkerin, kommt inzwischen gut alleine klar. Sie ließ sich zur Sozialassistentin ausbilden und lernt jetzt Erzieherin. Mit besten Aussichten: Auf sie und ihre Mitschüler warten sogar Angebote von Kindergärten aus München. „Aber vielleicht studiere ich oder gehe erst eine Weile nach London“, sagt sie selbstbewusst. Nadja kann auf Klassenfahrt gehen. Susanne Hiltl führte noch weitere Telefonate, allerdings vergebens. Die 93 Euro kamen schließlich aus dem eigenen Haus, aus Spenden von Lehrern und aus dem „Sozialsparschwein“, in dem Trinkgelder der Mensa gesammelt werden. Auf die eigenen Kräfte ist nun mal am meisten Verlass.
* Namen geändert