Porträt

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Neben der Tür des Rektors hängt ein Schild. „Herzlich willkommen" steht darauf, handgeschrieben. Von diesem Schild berichtet Tobias aus Klasse 11, als er die Veränderung in seiner Schule auf den Punkt bringen soll. Kleine Dinge sagen manchmal mehr als große Worte.

„Willkommen – das ist wirklich so gemeint", betont Tobias. Man sollte meinen, das wäre eine Selbstverständlichkeit. Doch offenbar fühlten sich die Schüler am Firstwald-Gymnasium in Mössingen, am Fuß der Schwäbischen Alb gelegen, nicht immer so herzlich empfangen. Noch vor sechs Jahren steckte das Evangelische Gymnasium noch in einer tiefen Krise. Das Lehrerkollegium war vor allem mit sich selbst beschäftigt. Berichtet wird von einer gestörten Kommunikation zwischen dem damaligen Rektor und seinem Kollegium, von mangelnder Führung.

„Am Ende war das Tischtuch zwischen Schulleitung und Kollegen zerschnitten, das Kollegium gelähmt," erinnert sich Lehrer Roland Gschwind, 59, der diese Phase miterlebt hat. Die Schüler sollten davon nichts mitbekommen - hofften die Erwachsenen. Doch die spürten die Dauerkrise an der Verunsicherung der Lehrer, die sich nichts mehr getrauten. 2004 tauschte die Kirchenleitung den Schulleiter aus. Mit dem neuen Rektor sollte die Schule noch einmal ganz neu anfangen. Helmut Dreher, Pfarrerssohn aus einer Gemeinde bei Tübingen, ist eher ein väterlicher Typ. Dreher war früher selbst Schüler am Firstwald-Gymnasium, hat danach Theologie mit Schwerpunkt Pädagogik studiert und wollte ursprünglich Stadtpfarrer werden. Er arbeitete zunächst als Schuldekan, dann im Oberschulamt, bis er herausfand, dass ihm das quirlige Leben an einer Schule mehr liegt als das in Behörden.

„The Boss" steht auf einer Tasse in seinem Regal. Dreher sagt selbstbewusst: „Ich muss auch sagen, wo es langgeht." Aber den Boss hängt er nicht heraus. Im Gegenteil: „Ich bin ein absoluter Teamarbeiter", so beschreibt er sich, und schwärmt vom „Geist des Miteinanders" in der Schule. Der Geist des Miteinanders schwebte nicht von oben ein, er musste wachsen.

Zunächst ging das Kollegium in Klausur, zwei Tage lang sollten die Probleme auf den Tisch gepackt werden, ein Coach moderierte die Diskussionen der Lehrer. „Da wurde ausgesprochen, was man schon lange sagen wollte", sagt Dreher. „Danach haben wir überlegt: Wie gehen wir künftig miteinander um?" Zwischen dem Büro des Rektors und dem Lehrerzimmer gibt es eine Verbindungstür. „Die steht fast immer offen," sagt Helmut Dreher. Dem neuen Rektor, der unbelastet war von den alten Konflikten, kam eine Schlüsselrolle zu: „Meine Strategie war, auf die Leute zuzugehen und Konflikte nicht liegen zu lassen, sondern sofort zu lösen." Lehrer Roland Gschwind vergleicht die Schulentwicklung mit einem Marsch durch die Wüste. „Es reicht nicht, wenn der Schulleiter Ideen hat. Er muss sich um seine Leute kümmern und sie ermutigen, weiterzugehen."

Nach der Klausur „ist die Energie plötzlich explodiert", erinnert sich Gschwind. „Die Gräben waren blitzschnell zu, so, als ob wir auf ein Zeichen gewartet hätten." Die Lehrer wollten nicht nur Streicheleinheiten, sie wollten auch die Schule erneuern. Es begann, was die Jury des Deutschen Schulpreises so formulierte: „Hier wird Schule noch einmal ganz neu gedacht." Dazu gehört, Verantwortung neu zu verteilen, an die Lehrer, aber auch an die Schüler. Der Mann an der Spitze wollte eben kein einsamer Rufer in der Wüste sein. „Verantwortung abzugeben entlastet mich und macht andere stark", sagt der Schulleiter.

Es ist April, ein sonniger Spätnachmittag, die Abiturienten haben ihre Prüfungen hinter sich und feiern ausgelassen auf dem Schulhof. Drinnen, im Medienraum, tagt eines der wichtigsten Schulgremien hinter herunter gelassenen Jalousien. Im Konvent sitzen genauso viele Schüler wie Lehrer. Der Jüngste, Moritz aus Klasse 7, hat eine Stimme und damit in dieser Runde genauso viel Gewicht wie der Schulleiter. Der Konvent gibt seine Entscheidungen an den Lehrerrat weiter, der sich dieser Empfehlung selten verschließt. Sergio aus Klasse 12 liest einen Antrag der Schüler vor. „Die SMV beantragt, unter dem Dach vor dem Kickerraum das Telefonieren zu erlauben." Nur dort gebe es Handyempfang, erklärt Sergio. Stirnrunzeln auf Seiten der Erwachsenen. Sozialpädagogin Ute Kraft bekennt, dass sie sich mit dem Anliegen schwer tut. „Das können wir in unserem Alter nicht nachvollziehen, dass man jemanden jederzeit erreichen muss." Auch Lehrer Friedemann Stöffler ist skeptisch. „Der Schwerpunkt dieser Schule ist Medienkompetenz, wir wollen nicht, dass Handys unseren Alltag bestimmen." Schule müsse „ein geschützter Raum" bleiben, deshalb gebe es das Telefonierverbot, mit Ausnahmen in Notfällen.

Der Notfall sei zu eng gefasst, findet Elftklässler Timon. „Es gibt Situationen, da muss man dringend anrufen, ohne dass es gleich ein Notfall ist." Wenn eine Stunde ausfällt, beispielsweise, wenn man später nach Hause kommt oder einfach der Freundin draußen etwas Dringendes sagen muss. Sergio musste jedes Mal das Schulgelände verlassen, wenn er mit seinem Fahrlehrer Termine vereinbaren wollte. Schule sei heute anders als noch vor zwanzig Jahren: „Wir verbringen 70 Prozent unserer Zeit in der Schule, da will ich mich nicht isolieren von den anderen," argumentiert er.

Helmut Dreher hört zu. Dann sagt er: „Alle Argumente liegen jetzt auf dem Tisch." Jetzt soll entschieden werden. Der Rektor schlägt einen Probelauf bis zu den Sommerferien vor. Sollten Schüler die Freiheit missbrauchen, werde sie „sofort" kassiert. Läuft es gut, wird nach erneuter Abstimmung verlängert, unbefristet. Alle Schüler sind dafür. Und sechs der acht Lehrer. Sergio lächelt, hochzufrieden. Schulentwicklung bedeute, „für Probleme Lösungen zu finden" definiert Schülerin Sinje. Sie, die Schüler, sollen nicht einfach „entwickelt" werden, sondern ihre Schule mitgestalten.

Der neue Geist im Firstwald sorgt in Mössingen aber auch für Skepsis. Schließlich ist er ein ausgesprochener Unruhegeist. „Manche sagten, der Dreher baut da draußen eine Bildungsfabrik", berichtet der Schulleiter amüsiert. Doch „der Dreher" plant nicht allein. Keinesfalls habe man den Eindruck, dass hier nur einer „den ganzen Karren zieht", bilanzierte das Besuchsteam des Deutschen Schulpreises. Im Gegenteil: Die „Innovationskraft" habe sich weitgehend vom Rektor auf die Lehrerschaft übertragen.

Mit großem Elan eröffnete die Schule das zur Schule gehörende Internat neu und führte in der Grundschule eine ganz neue Pädagogik, das Jenaplan-Konzept, ein. Zu integrieren galt schon immer als Stärke der evangelischen Schule, die als Privatschule nicht elitär sein will. An der Firstwaldschule können Realschüler Abitur machen, lernen Hochbegabte neben Schülern mit Lernschwächen, Rollstuhlfahrer neben jungen Leistungssportlern. Wohin das alles führen soll? Auch das soll nicht dem Zufall überlassen werden. Das Steuerungsteam der Schule, ein Team von fünf bis zehn Lehrern, plant bis ins Jahr 2018. Zur Zeit denkt das Schulentwicklungsteam über die Angliederung einer Förderschule nach. Manchmal hat der Schulleiter das Gefühl, er sollte seine Kollegen ein bisschen bremsen, damit sie sich nicht übernehmen. Die wichtigste Grundlage jeder Schulentwicklung hat ohnehin schon längst stattgefunden. Jedenfalls hört es sich so an, wenn die Schüler die Veränderung an ihrer Schule beschreiben: „Unsere Lehrer", sagt Tobias, „sehen nicht mehr nur eine Klasse vor sich, sondern Menschen."

Ingrid Eissele

Kurzportrait des Evangelischen Firstwald-Gymnasiums in Mössingen, Preisträger des Deutschen Schulpreises 2010.

Porträt

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Die Waldhofschule in Templin lebt echte Integration vor: Behinderte und Regelschüler lernen gemeinsam – mit herausragenden Leistungen.

Eine Glassäule mit blubberndem Nass wechselt langsam ihre Farbe und wirft den Raum in warmes Korngelb. Aus dem Wasserbett säuseln sanfte Harfenklänge: Der snoozle-Raum gehört zu den beliebtesten Zimmern der Waldhofschule in Templin. Hier findet definitiv kein Matheunterricht statt, hier sollen die Schüler und Schülerinnen entspannen, „runter kommen" nennt das Schulleiter Wilfried Steinert. Braucht so was eine Schule, in der bis zur sechsten Klasse ohnehin niemand sitzen bleibt, deren Lehrer bis Klasse fünf keine Noten verteilen und die Bruchrechnung anhand von Schokoladentafeln erklären? „Natürlich", sagt Steinert und schaltet eine kleine Diskokugel aus. „Das macht den Kopf frei fürs Lernen."

Die Leistungen der Waldhofschule sprechen für sich. In den landesweiten Vergleichstests des Kultusministeriums liegt sie in den meisten Bereichen über dem Durchschnitt anderer Grundschulen. Abgänger der sechsten Klasse werden von Gymnasien gern genommen; sie könnten gut üben, heißt es. Die Erfolgsgeschichte dieser Schule mitten im Wald beginnt in Finnland. Steinert war Anfang der Neunziger dorthin gereist, um seine Tochter zu besuchen, sie arbeitete als Au-Pair-Mädchen in einer Familie. Die klitzekleine Dorfschule beeindruckte den Vater sehr: „Wir brauchen alle", zitiert er das Credo jenes finnischen Lehrerehepaars, das dort allein unterrichtete, „keiner bleibt zurück, keiner wird beschämt". Als dem Kirchenschulrat 2002 die Aufgabe angeboten wurde, in der Waldhofschule für offenere Strukturen zu sorgen, da sagte er zu. Weil er ein Stück Finnland ins uckermärkische Templin bringen wollte.

„Ich erinnere mich noch genau", sagt ein Fotograf, der gerade Steinerts Büro betritt und durchs Fenster auf den gegenüberliegenden Bau zeigt, „damals wurden dort die Behinderten immer festgeschnallt". Für eine Nachrichtenagentur soll er die Schule fotografieren. Den Waldhof betreten hatte er davor zum letzten Mal vor 30 Jahren. Seit mehr als 150 Jahren ist der Waldhof eine Einrichtung der evangelischen Kirche für geistig Behinderte, in der DDR galten sie als „nicht beschulbar". Nach dem Fall der Mauer sollte sich das ändern – und auch einiges für bundesrepublikanische Verhältnisse. „Warum sollten Regelschüler nicht von der Sonderpädagogik profitieren?", fragt Steinert lächelnd und zählt auf: Viele Pädagogen, ein riesiger Garten, Therapieräume – und ein snoozle-Raum.

Die Schule des Waldhofs öffnete sich, 2003 wurde sie integrativ, das heißt, sie nahm als ursprüngliche Förderschule auch nicht behinderte Kinder auf. Knapp die Hälfte der 260 Schüler ist behindert, viele davon sind geistig behindert. Wer behindert ist oder nicht, erkennt kein erster Blick. Die Unterschiede verschwimmen. „Ich weiß schon, was hier läuft", ruft die sechsjährige Ines*, als Birgit Beyer die Glastür zum Klassenzimmer der 1a aufstößt. Frau Beyer ist gekleidet in schrilles Pink, sie trägt Paket und Pinsel unterm Arm. „Heute lernen wir den Buchstaben P", kündigt die Lehrerin an, und nach einer kurzen Einführung legen die Erstklässler begeistert los. Jeweils drei Kinder suchen gemeinsam Wörter mit einem P. „Uhr, Wecker, nein nein", sagt Anja*. Leni* und Marianne* nicken. Anjas Mutter ist geistig behindert, Anja lebt bei ihr und muss jetzt vieles nachholen, was ihr das Elternhaus an Reizen und Informationen nicht bieten kann: Sie ist lernschwach; ob eine geistige Behinderung vorliegt, weiß man noch nicht. Leni und Marianne, nicht behindert, lernen das P aus einer anderen Perspektive kennen: als Assistentinnen von Frau Beyer. Sie helfen Anja. Das vertieft ihr eigenes Wissen. „Fein, nun kannst Du einen Haken darunter setzen", lobt Leni die gleichaltrige Anja. Die Schülerinnen dokumentieren ihren Lernerfolg in Mappen. „Die Buchstaben kann ich schon", sagt Anja und zeigt auf einen Zettel, der an der rechten Klassenwand hängt. „Anja" steht darauf, und „Ich war Lesekönigin bei: M, L, T, R, S, W, D, N und SCH".

Die Schulglocke ist abgeschafft, es klingelt nicht mehr zur Pause. Macht nichts. Heute dauert die Deutschstunde spontan eine Viertelstunde länger als geplant. "Der Bedarf ist einfach da, wenn wir einen neuen Buchstaben üben", sagt Sonderpädagogin Silvia Berndt. Sie bildet gleichberechtigt mit Birgit Beyer das Lehrerteam der 1a; eine weitere Pädagogin stößt halbtags hinzu – zweieinhalb Planstellen für 17 Schüler. Traumbedingungen, wie die Lehrerinnen einräumen.

Außergewöhnlich großzügig auch die Räume. Rund um den sonnendurchfluteten Flur gruppieren sich drei Klassenzimmer samt Gruppenräumen mit Spielecke und Kochnische, ein Musikzimmer voller Keyboards, Bongos und einem Schlagzeug, ein Ergotherapieraum und ein Büro für die Lehrer des Jahrgangs. In der Pause sitzen Beyer und Berndt im „Gruppenraum" neben ihrem Klassenzimmer vor zwei Computerterminals. Hier bereiten die Lehrerinnen die nächsten Stunden vor, korrigieren Arbeiten und tauschen sich aus; jedes Kind bekommt seinen individuellen Plan. „Mit Andi will ich nach den Osterferien noch mal Silben mit P lesen", sagt Silvia Berndt über einen Lernbehinderten. „Die Regelschüler können derweil eine Geschichte mit lauter Ps lesen", schlägt Birgit Beyer vor. Den eigenen Arbeitsplatz in der Schule schätzen die Lehrerinnen sehr, auch die vorgeschriebene Präsenzzeit von 8 bis 15 Uhr.

Dicke Luft herrscht allerdings im Schülerparlament, das heute im so genannten Mehrzweckhaus tagt. Jede Klasse hat einen Delegierten geschickt – auch die Klassen der angeschlossenen Ober- und Werkstufe für geistig Behinderte. Schüler im Alter von sechs bis 20 diskutieren das jüngst erlassene Handyverbot. „Meine Oma liegt im Sterben, da muss ich ständig erreichbar sein", sagt ein Siebzehnjähriger. „Gilt das Verbot auch für Lehrer?", fragt ein Drittklässler. Der Vertrauenslehrer nickt. Das Parlament beschließt, dass Ausnahmen möglich sein müssen. Die Petition geht an Schulleiter Steinert. Das Schülerparlament kritisiert auch die Zusammensetzung der Delegation, die zur Verleihung des Deutschen Schulpreises nach Berlin fahren soll. „Es sollten auch Fünftklässler mit", meint eine Schülerin. „Die Sara* kriegt doch gar nicht viel mit", sagt eine andere über ein Kind mit Down-Syndrom. „Aber Sara ist Sinnbild für unsere Schule", wirft der Sozialarbeiter ein.

Schließlich stimmt das Schülerparlament dafür, dass neben Sara und den Schülersprechern noch ein weiterer Schüler mit soll – falls sich dafür Geld auftreiben lässt. Im ersten Stock wirbeln unterdessen Anja, Leni und Marianne über den Flur, sie üben einen selbst ausgedachten Tanz ein. „Mit dem P machen wir morgen weiter", ruft Leni. Anja hat heute viel von ihren beiden Freundinnen gelernt. Jetzt dreht sich Leni im Kreis, während die anderen beiden um sie herum mit den Hüften wackeln. Leni dreht sich schneller, stößt mit Anja zusammen, sie fällt um. Da bückt sich Anja, hält ihr die Hand hin und zieht sie hoch.

*Namen geändert

Jan Rübel

Kurzportrait der Waldhofschule in Templin, Preisträgerin des Deutschen Schulpreises 2010.

Porträt

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Als erstes müssen sie einen Fluss überqueren: Vier Jungs stehen dicht gedrängt auf einem Holzkasten, wie auf einem Floß – mitten in der Turnhalle. Franziska klettert zu ihnen hinauf. Julia und Artur stehen auf einer kleinen Filzmatte, die hinter dem Kasten auf dem Boden liegt. Der kräftige 17-Jährige zieht eine schwere blaue Turnmatte hoch. „Los Franzi", ruft er dem braunhaarigen Mädchen mit dem goldenen Stirnband auf dem Kasten zu, „die müsst ihr nach vorn legen." Auch die vier Jungs packen mit an. Sie zerren die schwere Gummimatte am Kasten vorbei. Die Matte rutscht ab, ein Junge tappt mit einem Fuß auf den Boden. „Ey, pass doch auf, du bist im Fluss", herrscht Franzi ihn an. Sofort ziehen ihn die anderen wieder hoch. Die blaue Matte klatscht auf den Boden. „So, jetzt alle da drauf", dirigiert Artur. Sie springen auf die Matte. Dann wuchten sie den Kasten vor die Turnmatte.

Nachdem sie den Ablauf ein paar Mal wiederholt haben, erreichen sie das Ufer – die Bank auf der anderen Seite der Turnhalle. Geschafft! Die erste Aufgabe im „Sozialkompetenz-Parcours" haben sie bestanden. Die Schüler kommen aus Bayern, Baden-Württemberg und Hessen; sie gehen zur Grundschule, auf die Realschule oder das Gymnasium. Sie haben Asthma oder Neurodermitis, sind gegen Nüsse, Eier oder Pollen allergisch. Sie sind gekommen, um sich 1200 Meter hoch in den Bergen in der Alpenklinik Santa Maria in Oberjoch im Allgäu behandeln zu lassen. Zwischen der Asthma-Schulung, den Untersuchungen und Anwendungen gehen sie zur Schule, damit sie nicht zu viel Lernstoff verpassen.

Ausgerechnet die Sophie-Scholl-Schule, eine Schule für chronisch kranke Kinder, bekommt in diesem Jahr den Deutschen Schulpreis verliehen. Die begehrte Trophäe wurde ihnen am 9. Juni in Berlin von Bundeskanzlerin Angela Merkel überreicht. Unter 162 Schulen aus ganz Deutschland, die sich für den Preis beworben haben, wurde die Sophie-Scholl-Schule ausgewählt. Diese kleine Schule, die nur elf Lehrer hat und etwa 200 Schüler, ist dieses Jahr die beste Schule Deutschlands. Wie kann eine Schule, an der die Schüler in der Regel nur sechs bis acht Wochen unterrichtet werden, zum Vorbild für alle werden? Was kann ein Gymnasium in Hessen, eine Grundschule in Rheinland-Pfalz oder eine Realschule in Bayern von der Sophie-Scholl-Schule lernen?

„Alles", sagt der Erziehungswissenschaftler Professor Michael Schratz. Er ist Mitglied der Schulpreis-Jury und hat die Sophie-Scholl-Schule zusammen mit Kollegen zwei Tage lang inspiziert. Der Wissenschaftler stellt der Sophie-Scholl-Schule ein hervorragendes Zeugnis aus: „Sie ist in allen sechs Qualitätsbereichen exzellent. Ein Juwel in der Schullandschaft." Auf die Schule gehen Schüler von Klasse 1 bis 13, sie kommen von allen Schulformen und aus allen 16 Bundesländern mit unterschiedlichen Lehrplänen. „Die Lehrer der Sophie-Scholl-Schule zeigen: Es geht! Gemeinsamer Unterricht vom Hochbegabten bis zum Lernbehinderten. Sie haben nicht nur einen sehr hohen Bildungsanspruch, sondern sie vermitteln ihren Schülern auch Respekt, Demokratie und Verantwortung", sagt Michael Schratz. So wie beim „Sozialkompetenz-Parcours", den alle Schüler während ihres Aufenthalts einmal durchlaufen. Dafür werden alle Schüler von der vierten Klasse bis zum Abitur gemischt: Yussuf, Artur, Tobias, Till, Nico (Namen geändert), Franziska und Julia bilden ein Team, sie nennen sich die „coolen Schlümpfe". Gemeinsam lösen sie sieben Aufgaben: Von der Flussüberquerung bis zum Rollenspiel, bei dem sie überlegen: „Wie bitte ich einen Raucher, seine Zigarette auszumachen, weil er bei mir einen Asthmaanfall auslöst?"

Von außen sieht die Sophie-Scholl-Schule ganz gewöhnlich aus: ein hellgrau verputztes Gebäude mit hellgrünen Fenstern – wie der Rest der Klinikgebäude. Es riecht leicht nach Kräutern und Medizin. Und während der Pausen geht es zu wie in jeder normalen Schule: Die Kleinen toben über den Flur, die Großen stehen in Cliquen beim Schüler-Café, wo nur fair gehandelte Produkte wie Kaffee und Schokolade verkauft werden. Aber der Unterricht ist vollkommen anders: Es gibt keine Klingel, die Türen zu den Klassenzimmern stehen offen. Obwohl ständig Schüler rein- und rausgehen, weil sie zu Behandlungen müssen, herrscht eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre. Die Schüler lernen in jahrgangsübergreifenden Gruppen und entscheiden selbst, wann sie welche Aufgabe lösen. Dazu bekommt jeder einen „Wochenplan", der Aufgaben für jedes Fach vorsieht.

Donnerstags, wenn alle zwei Wochen neue Kinder anreisen, stehen ihre Schulranzen aufgereiht im Flur vor dem Lehrerzimmer im ersten Stock, bunte Scout-Ranzen mit Delphinen oder Astronauten von den Grundschülern neben Rucksäcken von den Schülern der Sekundarstufe I und II. Übers Wochenende nehmen die Klassenlehrer die Schulsachen mit nach Hause und erstellen auf der Basis der Schulbücher und Berichte für jeden Schüler einen individuellen Wochenplan. Der wird in eine grüne Mappe geheftet.

Emily geht in die Klasse von Andrea Rahm. Sie unterrichtet die Viert- und Fünftklässler. Sie haben Deutsch. Emily, 9, übt mit Yussuf, 11, Präpositionen. Auf dem Tisch steht ein Kasten mit buntem Holzspielzeug: ein Forsthaus, grüne Tannen, Pferde und Rehe. Emily zieht einen Satz aus einer Schachtel: „Zwei Pferde ziehen im Wald einen Wagen mit Stämmen", liest sie vor. Gemeinsam bauen sie die Szene nach, dann zieht Yussuf den nächsten Satz. „Ich finde es toll, dass man hier so viele Sachen mit den Händen machen kann. Dann behält man die Dinge viel besser", sagt Emily. Zu Hause in Bitburg werde meist nur mit Büchern gearbeitet, erzählt die blonde Grundschülerin im geringelten Pulli.

In der Leseecke, hinter einem Regal versteckt, liegt Till auf einer Matratze. Der Elfjährige liest völlig versunken in einem Was-ist-Was-Buch über die Römer. In den offenen Holzregalen stehen Ablagen mit Zetteln und bunte Kästen mit Lernmaterialien, die sich die Kinder nehmen können. Das meiste haben die Lehrer selbst entwickelt und hergestellt. So wie das „Dosendiktat", das Hauke gerade schreibt: Aus einer beklebten Kaffeedose fischt er sich Papierstreifen, auf denen Sätze stehen. Erst ordnet der Zehnjährige sie zu einem Text über das Leben von Sophie Scholl. Dann dreht er die Streifen um und schreibt den Text aus dem Kopf auf ein Blatt Papier. Am Ende kontrolliert er mit Hilfe eines Bogens, ob er Fehler gemacht hat. Emily aus Rheinland-Pfalz ist erst seit zwei Tagen an der Sophie-Scholl-Schule. Aber sie hat bereits verstanden, wie hier gelernt wird, ihre neue Freundin Aimee hat es ihr gezeigt. Emily sagt: „Zu Hause sagt die Lehrerin: ,Mach mal dies, mach mal das!‘. Hier lernt man viel mehr, weil man selber entscheiden kann, was man machen will."

Die Lehrer achten darauf, dass die Kinder für alle Fächer gleichmäßig arbeiten. Am Ende jeder Woche gibt es Feedback-Gespräche: Was läuft gut? Wo könnte der Schüler noch besser werden? Wie können ihn die Lehrer dabei unterstützen? Oft sind die Kinder im Stoff weiter, wenn sie nach der Kur zu Hause wieder in ihre alte Schule gehen. Eine Triangel erklingt. Tobias, 9, hat sie geschlagen, weil er mit einer Aufgabe nicht weiter weiß. Bevor er sich mit seinem Problem an die Lehrerin wendet, bittet er so einen Klassenkameraden um Hilfe. Auch die älteren Schüler helfen sich gegenseitig. Ein Stockwerk tiefer haben Franzi, 15, Artur, 17, und Matthias, 17, Englisch bei Lehrerin Susanne Pöhlmann. Die Realschülerin, der Gymnasiast und der Azubi sitzen gemeinsam an einem Tisch. „Artur", sagt Franzi, „check mal Satz drei. Ich kapier nicht, was da rein soll." Franzi schiebt Artur einen Zettel mit „If-Clauses" rüber. Artur unterbricht seine Arbeit, er liest einen englischen Text über China. Gemeinsam grübeln sie, welche Zeitform in die Satzlücke gehört.

„Die Schule ist total fortschrittlich. Wir arbeiten viel in Projekten", sagt Artur, der die zehnte Klasse eines Gymnasiums in Kaufbeuren besucht. „Durch das selbstständige Arbeiten kann ich mich viel besser einschätzen. An der Uni sagt mir später auch keiner, wann ich was tun muss." Der blonde Schüler im grünen V-Pulli will nach dem Abitur internationales Management studieren. Franziska kommt aus Würzburg und geht in die neunte Klasse einer Realschule. „Die Lehrer zu Hause boxen einfach den Stoff durch. Denen ist scheißegal, ob wir den kapieren oder nicht. Hier machen sich die Lehrer um jeden Schüler Gedanken", sagt sie. Vor den Lehrern der Sophie-Scholl-Schule haben beide großen Respekt. „Die Lehrer strengen sich hier richtig an", findet Artur. Franzi sagt: „Bei uns zu Hause rauchen einige Wasserpfeife im Unterricht, manche telefonieren auch. Aber die Lehrer checken nichts, die können sich nicht durchsetzen. Hier sind die Lehrer ganz anders." Denn die Lehrer der Sophie-Scholl-Schule haben ein völlig anderes Selbstverständnis als ihre Kollegen an den Regelschulen: Sie stehen nicht vorn an der Tafel und machen Frontalunterricht, sondern begleiten die Schüler beim Lernen. Gymnasial- und Grundschullehrer arbeiten gemeinsam mit Sonderpädagogen im Team.

Das war nicht immer so. Als sie vor rund zehn Jahren an die Schule kam, sei eine unsichtbare Trennlinie durchs Lehrerzimmer gelaufen, erinnert sich Andrea Rahm, die stellvertretende Schulleiterin. „An dem einen Tisch saßen die Fachlehrer vom Gymnasium, am anderen die Kuschelpädagogen, die Grundschullehrer und Sozialpädagogen." Sie kannten kaum den Vornamen voneinander, jeder arbeitete für sich. Sie teilten Matrizen aus und gaben Nachhilfe. Irgendwann begriffen sie: „Wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir bei uns anfangen." Seitdem sitzen sie gemeinsam an einem großen Tisch, die Grundschulpädagogin hilft dem Gymnasialkollegen beim Laminieren von Lernmaterial, und sie arbeiten viel mehr als andere Lehrer.

Christian Schleicher, Lehrer für Französisch und Deutsch, verbringt 50 bis 60 Stunden pro Woche in der Schule. Und verdient weniger als seine Kollegen an den staatlichen Gymnasien, weil er nicht Beamter, sondern Angestellter ist. Trotzdem will er nicht weg. „Hier habe ich jeden Tag Erfolgserlebnisse", sagt der 41-Jährige im Fleeceshirt und Turnschuhen. Wenn ein Schüler zum Beispiel seine Anwendung in der Klinik vergisst, weil er so vertieft ist ins Lernen. Oder seine Schüler am letzten Tag freiwillig ein letztes Mal zu ihm in die Klasse kommen – mit Tränen in den Augen, weil sie wieder nach Hause müssen.

Immer wieder gibt es neue Herausforderungen für die Lehrer. So wie Peter. Der Elfjährige ist einer der wenigen Langzeitschüler an der Sophie-Scholl-Schule. Als Peter vor drei Jahren nach Oberjoch kam, sprach er kaum, und wenn, dann sagte er nur: „Peter ist dumm." Nach seiner Geburt musste er mehrfach am Herz operiert werden, ständig hatte Peter Lungenentzündung. Nach dem Körper wurde die Seele krank. Peter war depressiv, malte nur noch schwarze Bilder. In der normalen Grundschule kam Peter nicht zurecht, die Ärzte wussten nicht weiter. Dagmar Loesing hatte Angst, ihr Sohn könnte sterben. Die Sophie-Scholl-Schule war Peters Rettung. Nach drei Wochen in den Bergen breitete Peter die Arme aus und sagte: „Ich bin glücklich." Er lernte nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch, wie er auf andere Kinder zugeht. Denn Peter ist Autist. Seine Klassenlehrerin hat sich extra für ihn fortgebildet. Das ist typisch für die Schule. Bei jedem Kind wird nicht seine Krankheit, sondern sein Potenzial gesehen. Für jedes suchen die Lehrer eine maßgeschneiderte Lösung. Dadurch entwickeln sie ihre Schule ständig weiter.

Der Motor sind die beiden Schulleiterinnen Angela Dombrowski und Andrea Rahm, beide 44. Sie kennen sich seit dem gemeinsamen Studium in Würzburg. „Frau Dombrowski und Frau Rahm haben beide unheimlich viel Zivilcourage. Sie sind am Anfang täglich eine Stunde früher gekommen, haben überlegt, was bieten wir Peter?", sagt Dagmar Loesing. Die 38-Jährige strahlt Kraft und Optimismus aus. Im Sommer geht sie mit Peter zurück nach Ostfriesland, wo sie mit ihrem Mann einen Hof bewirtschaftet. Dort will sie eine Schule nach dem Vorbild der Sophie-Scholl-Schule gründen. „Denn es gibt immer mehr Kinder, die in der Regelschule nicht zurechtkommen, weil sie ADHS haben, auch Allergien nehmen zu. Die kann man doch nicht alle aussortieren", sagt Dagmar Loesing. „Diese Art zu lernen, wie an der Sophie-Scholl-Schule, lässt sich auch auf Regelschulen übertragen. Das stelle ich mir traumhaft vor."

Catrin Boldebuck

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In der Schule „Am Park" lernen Kinder, die anderswo als „nicht beschulbar" galten. Das Credo der Lehrer: Beziehung kommt vor Erziehung.

Sebastian* liest eine Parabel auf sein Leben. Die Augen zu kleinen Knöpfen gekniffen, presst der Siebenjährige jeden Buchstaben einzeln heraus: „Der ist so allein", liest er über einen Hund, den eine Familie aus dem Tierheim holt. „Wir wollen ihm ein schönes Leben geben", endet er gedehnt, stutzt und schaut seine Lehrerin Margit May mit großen Augen an. „Das hast du toll gemacht", sagt sie und schaut dem Blondschopf fest in die Augen. Sie hat heute Deutschstunde an der Schule „Am Park" in Behrenhoff, einem 340-Seelen-Dörfchen unweit von Greifswald im östlichen Vorpommern.

Dass Sebastian diese Sätze entziffert, sei ein kleines Wunder, sagt Margit May später. „Erst seit einem Jahr, seit ihn das Jugendamt aus der Familie nahm, erfährt Sebastian so etwas wie Erziehung und Schulbildung." Seine Eltern sind drogenkrank. Während sie auf der Suche nach Stoff waren, musste sich der fünfjährige Sebastian allein um die beiden jüngeren Geschwister kümmern. „Als er zu uns kam, kauerte er wie ein Tier unterm Tisch", erinnert sich Margit May. Im Klassenzimmer sitzen außer Sebastian fünf Erstklässler, drei Zweitklässler und zwei Drittklässler, sie schreiben die Geschichte vom Hund aus dem Tierheim auf.

Sebastian hält es nicht mehr auf seinem Stuhl, er hippelt herum. Konzentration fällt ihm schwer – eine Folge seiner schweren Persönlichkeitsstörung, und die wiederum sehen die Lehrer als Folge der jahrelangen Vernachlässigung. „Mama", äfft er eine Mitschülerin nach, die gerade dieses Wort vorgelesen hatte; er findet kein Ende. Margit May kehrt zu ihm zurück, legt ihre Hand einen Moment lang auf seine. „Es ist gut jetzt, bitte hör auf". Sebastian schnappt seinen Füllfederhalter und widmet sich wieder der Silbe „he", die er eine Zeile lang wiederholen soll.

Diese Klasse ist anders als andere. Hier lernen hochbegabte, aber verhaltensauffällige Schüler zusammen mit schwach begabten Kindern und Lernbehinderten. Höchstens zwölf Kinder sitzen in einer Klasse, in Sebastians Klasse sind es nur elf. Es gibt keinen Frontalunterricht, sondern intensiven Diskurs zwischen Lehrern und Schülern, auch wohl dosierte und sorgfältig abgewogene Berührungen wie ein Händedruck – für einen kurzen Moment; die Grenzen zwischen Schülern und Lehrern gelten auch in Behrenhoff. Margit May will aber damit Kindern wie Sebastian Aufmerksamkeit und Sympathie signalisieren. Beides brauchen sie dringend.

„Willkommen auf unserer Insel inmitten stürmischer See", begrüßt Schulleiterin Edeltraud Schmid Besucher gern. Das Eiland betreten in der Regel nur solche Kinder, die woanders gescheitert sind. Vom ersten bis zum neunten Jahrgang bietet die Behrenhoff-Schule vier Schultypen: Grundschule, Förderschule, Regionalschule mit der Möglichkeit des Hauptschulabschlusses und eine Schule für geistig Behinderte. Diese Schule versucht neue Wege. Oder sind es eigentlich ganz alte? „Wir setzen auf Beziehung", sagt Schuldirektorin Schmid, „so einfach ist das". Und meint damit ganz konkret: Interesse für die Seelenlage der Schüler und an ihrem schulischen Fortkommen, schlicht Akzeptanz.

Niemand soll wegen seines Verhaltens von der Schule fliegen – so heißt das Credo der Lehrer von Behrenhoff. Nur zwei von 13 Schülern einer Klasse leben noch bei den leiblichen Eltern, die anderen in Heimen oder bei Pflegeeltern, einige waren in der Kinderpsychiatrie. Die meisten der älteren Schüler haben Jugendarrest hinter sich. Was ihnen helfe: „Wir machen den Schülern klar, dass wir sie bedingungslos aufnehmen", sagt Schmid. Es gibt keine Strafen fürs Schwänzen, Stören oder Stehlen. Zu oft seien Sanktionen im früheren Leben der Schüler ins Leere gelaufen, weil sie zu hart oder inkonsequent waren. Aber es gibt Konsequenzen.

Es ist halb elf, eigentlich hat der Sozialkundeunterricht in Klasse 9 B längst begonnen, die Grundrechte der deutschen Verfassung stehen auf dem Stundenplan. Aber Sabine* steht auf und bittet ums Wort. „Ich hab so’n Hals, immer muss ich mir das anhören", ruft sie in die Klasse und bricht in Tränen aus. Sie werde gehänselt, „weil ich dick bin". „Wer fühlt sich angesprochen?" fragt Edeltraud Schmid in die Runde. Jens meldet sich. „Das war doch nur Spaß", entgegnet er, „du lachst doch oft selber mit". Ja, sagt Sabine, aber gezwungenermaßen, „ich überspiele die Sticheleien. Aber das tut einfach weh", sagt sie. „Okay, entschuldige, ich höre damit auf", verspricht Jens. „Ich auch", sagen gleich drei Jungs hintereinander. Ohne Aufforderung von Lehrerin Schmid steht Jens auf, geht zu Sabine und gibt ihr wortlos die Hand.

Das haben sie in Behrenhoff gelernt. Wie eine ehrliche Entschuldigung geht. Wenn nicht, „dann ebnen wir Lehrer die Wege", wird Schmid später sagen. „Dann sitzt man so lange, bis eine Lösung gefunden ist." Eine Versöhnung, eine Wiedergutmachung – alle Schüler erleben in Behrenhoff, dass Opfer wie Täter zu Wort kommen, man ihnen zuhört. Das sogar sprichwörtlich: Bei Wutanfällen hält Edeltraud Schmid ihre Schüler fest. „Damit mache ich die Schüler nicht gefügig, ich setze ihnen eine Grenze, die Schlagen oder Zerstören verhindern soll. Die Wut tritt dann heraus und verflüchtigt sich." Oft offenbare sich in solchen Situationen große Pein, „die wir gemeinsam durchstehen. Das stärkt unsere Beziehung. Wir werden zu Vertrauenspersonen."

Früher war die Schule am Park eine Sonderschule wie viele andere. Aber als Edeltraud Schmid Ende der Neunziger Jahre bemerkte, dass immer mehr Kinder kamen, die keine Lernprobleme, sondern vor allem seelische Probleme hatten, erweiterte sie ihr Schulprogramm um ein Angebot für solche Kinder. Anfangs besuchten elf so genannte „Erziehungshilfe-Schüler" die Schule, etwa ein Zehntel der Schülerschaft, heute sind es 75, mehr als die Hälfte.

Das Hauptgebäude mit seinen vielfach überstrichenen Wänden samt offen liegenden Versorgungsleitungen platzt aus den Nähten, doch das Geld für einen Neubau fehlt. Die Schule behilft sich mit zwei Containern. Im linken versucht Edeltraud Schmid, endlich die Grundrechte durchzunehmen. Vergebens. Robin* hat gerade eine Alkoholvergiftung überstanden. Heute ist er zum ersten Mal wieder in der Schule – und muss gleich an die Tafel. Einen Kreis hat er gemalt. Robin soll nun eintragen, was nicht gut läuft in seinem Leben. Was nicht gut läuft, füllt vier Fünftel des Kreises: Robin schreibt: Probleme mit der Polizei wegen Autoknacken, Alkohol, Mutter und Vater.

„Was verurteilst du am stärksten bei deinen Eltern?", fragt ihn Edeltraud Schmid. „Dass sie trinken", sagt Robin. Seit einem Jahr lebt er im Heim. „Die Probleme mit der Polizei kriegst du allein in den Griff", sagt Edeltraud Schmid. „Der Rest ist schwieriger, da müsste man mit euch arbeiten, müsstest du mit deiner Mama reden, eben auch über den Alkohol." Robin fasst sich ans Herz. Die Schulleiterein schaut ernst. „Ich bedanke mich bei dir, du warst total offen." Nicht jedes Problem könne die Schule lösen, gibt die Rektorin zu. „Aber wir können es bewusst machen."

Die Dankbarkeit der Eltern spricht für die Schule „Am Park". Und die Abschlüsse. Die Berufsreifeprüfung, eine Art Hauptschulabschluss in Mecklenburg-Vorpommern, absolvieren die Behrenhoff-Schüler nach Klasse neun an einer anderen Regelschule - zur Qualitätskontrolle. Seit vier Jahren fiel kein einziger Schüler mehr durch. Beim Hinausgehen zieht Edeltraud Schmid die Augenbrauen hoch. Eine Kollegin steht auf dem Flur. „Was machst du hier?", fragt sie. „Ich kann die Kinder jetzt nicht allein lassen", sagt sie mit schwer erkälteter Stimme. Der Krankenstand unter den Lehrkräften ist sehr niedrig, das Verantwortungsgefühl sehr stark. Denn das Prinzip „Beziehung vor Erziehung" verlangt Kraft und Zeit: Jede Unterrichtsstunde, die durch ein Konfliktgespräch ausfällt, wird nachgeholt.

Robin schlendert zum Ausgang, es hat zur Mittagspause geläutet. Da läuft er fast in einen Pulk Mädchen. So vertieft ist er in seine Lektüre: eine Miniausgabe vom Deutschen Grundgesetz.

* Namen geändert

Jan Rübel

Kurzportrait der Schule „Am Park" Behrenhoff, Preisträgerin des "Preises der Jury" beim Deutschen Schulpreis 2010.

Porträt

Porträt

Die 8c hat Englisch, aber kaum einen Schüler hält es länger als zwei Minuten auf seinem Platz. Ständig steht einer auf, geht durch den Raum, setzt sich wieder. Was man für ein heilloses Durcheinander halten könnte, ist tatsächlich eine äußerst produktive Form der Gruppenarbeit. Vor der Tafel steht Englischlehrerin Eva Caemmerer und lächelt zufrieden. Ihre Schüler haben Lückentexte über „Pocahontas" erhalten. Bilder, Schreibmaschinentexte und Plakate – im ganzen Raum und an den Wänden verteilt – veranschaulichen die Geschichte der Häuptlingstochter. Jetzt suchen sie sich die fehlenden Passagen zusammen. Das heißt: ein paar Schritte gehen, einen oder zwei Sätze lesen, auf dem Weg zurück zum Platz im Kopf wiederholen – und schließlich im Lückentext ergänzen.

Die Realschule am Europakanal in Erlangen hat viele Wege gefunden, Lernen mit Bewegung zu verknüpfen. Kleine Trainingseinheiten lockern den Unterricht auf und immer öfter joggen Schüler und Lehrer in der Pause ein paar Runden um den Schulhof. „Und wir wollen noch mehr Bewegung", sagt Schulleiter Ulrich Knoll. Den Anfang machen die Achtklässler. Für sie ist neuerdings ein kleines Aerobic-Programm vor jeder Klausur Pflicht. Die Schüler stehen hierbei im Mittelpunkt einer Studie des Zentrums für Neurowissenschaften (ZNL) in Ulm. Das Institut will herausfinden, ob Gymnastik die Prüfungsergebnisse beeinflusst. Denn alles spricht dafür, dass das Gehirn nach ein bisschen Sport besser arbeitet. „Jeder weiß, dass Kinder und Jugendliche sich zu wenig bewegen", sagt Ulrich Knoll. „Es ist Zeit, endlich was daran zu ändern."

„In Bewegung sein" will die Realschule am Europakanal, und das nicht nur sportlich gesehen. „Wir sind offen für neue Ideen aus allen Bereichen", sagt Knoll. Nicht nur die Jungen und Mädchen sollen etwas in seiner Schule lernen. Die Schule soll auch etwas von ihnen lernen. Deshalb wünscht er sich Lehrer, die sensibel für die Wünsche der Schüler sind – und aus ihren Beobachtungen neue Konzepte schmieden. „Wir brauchen Leute mit Ideen", sagt der Rektor. Beispiel: Prüfungen. „Früher wurde in den Klausuren sehr viel Wissen abgefragt", erzählt Johannes Offinger, der Englisch und Geschichte unterrichtet. „Und dann gab es noch die unangekündigten Tests". Beides habe den Schülern eher Angst als Lust aufs Lernen gemacht. Sein Vorschlag: acht Leistungsnachweise mittleren Umfangs einführen. „Das entlastet die Schüler, weil sie regelmäßiger lernen müssen, aber nicht so viel auf einmal", sagt Offinger.

Seine Idee ließ die Schüler jubeln – und überzeugte schnell auch Kollegen, Schulleitung und Eltern. Ein halbes Jahr, nachdem Offinger seine Idee zum ersten Mal vorgetragen hatte, krempelte die Schule die Prüfungsstruktur im Fach Englisch um. Mittlerweile ziehen andere Fachschaften nach. Jeden Freitag treffen sich alle Lehrer zur wöchentlichen Gesprächsrunde über alle anstehenden Entscheidungen. Ein Teil sitzt in der „Steuergruppe", Teilnahme: freiwillig. Sie ist, so Knoll, der „Motor der Veränderung, von ihr gehen die Impulse für Neuerungen aus."

Wie im Fall des Doppelstunden-Prinzips. Weil am Anfang und am Ende jeder Stunde immer Zeit verloren ging, führte die Schule kurzerhand Doppelstunden in allen Jahrgängen und Fächern ein. „So wird ein Unterricht möglich, in dem die Schüler sich aktiv neuen Stoff erarbeiten", sagt Schulleiter Knoll. Ein Erfolg, der sich in Zahlen messen lässt: Etwa die Hälfte der Absolventen wechselt auf Fachoberschule oder Gymnasium, alle anderen beginnen entweder eine Ausbildung oder absolvieren ein „Freiwilliges Soziales Jahr". Seit einigen Jahren steigen die Bewerberzahlen kontinuierlich. Ursprünglich für 600 Schüler ausgelegt werden hier heute über 900 Jungen und Mädchen unterrichtet. Möglich ist das, weil die Schule vor drei Jahren zu einer weiteren radikalen Veränderung bereit war: Sie wandelte alle Klassen- in Fachräume um. So können die Räume besser genutzt und mehr Schüler aufgenommen werden. Praktisch an den Fachräumen ist zudem, dass die Schüler hier stets das benötigte Material vorfinden.

Aber: Wo es keine Klassenräume mehr gibt, kann auch das Gefühl von Zugehörigkeit verloren gehen. „Wir mussten uns dem Raumproblem stellen und wollten gleichzeitig, dass die Schüler sich hier wohlfühlen", sagt Knoll. Wie also karge Fachräume heimeliger machen? Indem alle angepackt haben: Schüler, Eltern und Lehrer, mit Pinsel, Schere, Quast und Kleister. Heute wachen über den Geschichtsraum zwei lebensgroße Porträts von Legionären, den Deutschraum zieren Buchrücken wie in einer Bibliothek. Der Kunstraum – rote Tapete, Kronleuchter und ein thronartiger Sessel für den Lehrer – erinnert an einen Prunksaal. „Wir begreifen Schule nicht nur als Lernort, sondern auch als Lebensraum", sagt Schulleiter Knoll. Ein Prinzip, das sich auch in den Fluren und Treppenhäusern und selbst auf dem Schulhof wiederfindet: An den Wänden hängen großformatige Gemälde, in der Aula funkelt ein riesiges Spiegelmosaik und der Asphalt um den Basketballkorb leuchtet in bunten Farben. Wo man hinsieht, schmücken Skulpturen, Schaukästen und Sinnsprüche den grauen Funktionsbau.

Doch der ästhetische Aspekt ist nur ein Grund für die vielen Kunstwerke. Den anderen nennt Knoll die „Lobkultur". Das Gebäude zu einer großen Galerie zu machen, bedeute auch, den Schülern Platz zu geben, um ihr Schaffen zu präsentieren: Im Foyer zeigt ein Flachbildschirm an der Wand Dias von Technikprojekten oder Klassenausflügen. In Glaskästen findet man alles über Austauschprojekte mit Partnerschulen in Frankreich, Polen, China und in der Türkei. Knoll, der schon in Paris und Delhi Schulleiter war, legt viel Wert auf die Zusammenarbeit mit Schulen auf der ganzen Welt. „Das fördert die Toleranz", sagt er. Als er auf die goldenen Barockrahmen zeigt, in denen die „Schüler des Monats" geehrt werden, hält der Schulleiter für einen Moment inne: „Es gab Stimmen, die diese Form des Wettbewerbs unter Schülern skeptisch sahen", sagt er. „Ausprobieren wollten wir es trotzdem." Heute zeige sich, dass die Auszeichnung nicht für Neid oder Häme sorge. Ganz im Gegenteil: „Die Schüler sehen das ganz gelassen – finden es cool", sagt Knoll. Ein positiver Wettstreit ist entstanden.

Die Jahrgänge 8 bis 10 betreiben das Schülercafé weitgehend in Eigenregie. Seit kurzem bieten sie hier sogar ein „Müslifrühstück" an und stehen dafür eine Stunde früher auf. Ein anderes Team ist in der Schulbücherei eingeteilt. Ein Sanitätsdienst, bestehend aus einer Lehrerin und Schülern ab Jahrgang 6 mit Erste-Hilfe-Schein, steht bei Notfällen bereit. Und rund 30 Schüler besuchen ein Jahr lang jede Woche für zwei Stunden soziale Einrichtungen wie Seniorenheime oder Kindergärten. Sie plaudern mit den älteren Menschen oder spielen mit den Kindern. Schülerparlament, Theatergruppe, Anti-Mobbing-Tag – die Liste der Projekte ist lang.

In der 8c rufen die ersten Schüler: „Fertig!" Sie haben ihren Lückentext über „Pocahontas" ergänzt und wollen die Ergebnisse vergleichen. Andere sind noch auf der Suche nach den fehlenden Wörtern. In Zukunft will die Schule noch stärker die Begabungen der einzelnen Schüler im Unterricht berücksichtigen. Ein Schritt in diese Richtung sind die „Profilklassen", die zum Schuljahr 2009/2010 in Klasse fünf eingeführt wurden: Eine Bläser-, eine Technik-, eine Sportklasse sowie eine Ganztagesklasse mit Schwerpunkt Kunsterziehung. Zwei Stunden pro Woche sollen sich die Schüler ihrem Profil widmen. Das ist ein Anfang, aber Leitung und Kollegium ist klar: Der Unterricht muss noch mehr auf die Stärken und Schwächen des Einzelnen Rücksicht nehmen. „An keiner Schule läuft alles perfekt, auch bei uns nicht", sagt Schulleiter Knoll. „Aber wir scheuen uns nicht vor Veränderungen."

Mathias Becker

Kurzportrait der Realschule am Europakanal in Erlangen, Preisträgerin des Deutschen Schulpreises 2010.