Porträt

Neben der Tür des Rektors hängt ein Schild. „Herzlich willkommen" steht darauf, handgeschrieben. Von diesem Schild berichtet Tobias aus Klasse 11, als er die Veränderung in seiner Schule auf den Punkt bringen soll. Kleine Dinge sagen manchmal mehr als große Worte.

„Willkommen – das ist wirklich so gemeint", betont Tobias. Man sollte meinen, das wäre eine Selbstverständlichkeit. Doch offenbar fühlten sich die Schüler am Firstwald-Gymnasium in Mössingen, am Fuß der Schwäbischen Alb gelegen, nicht immer so herzlich empfangen. Noch vor sechs Jahren steckte das Evangelische Gymnasium noch in einer tiefen Krise. Das Lehrerkollegium war vor allem mit sich selbst beschäftigt. Berichtet wird von einer gestörten Kommunikation zwischen dem damaligen Rektor und seinem Kollegium, von mangelnder Führung.

„Am Ende war das Tischtuch zwischen Schulleitung und Kollegen zerschnitten, das Kollegium gelähmt," erinnert sich Lehrer Roland Gschwind, 59, der diese Phase miterlebt hat. Die Schüler sollten davon nichts mitbekommen - hofften die Erwachsenen. Doch die spürten die Dauerkrise an der Verunsicherung der Lehrer, die sich nichts mehr getrauten. 2004 tauschte die Kirchenleitung den Schulleiter aus. Mit dem neuen Rektor sollte die Schule noch einmal ganz neu anfangen. Helmut Dreher, Pfarrerssohn aus einer Gemeinde bei Tübingen, ist eher ein väterlicher Typ. Dreher war früher selbst Schüler am Firstwald-Gymnasium, hat danach Theologie mit Schwerpunkt Pädagogik studiert und wollte ursprünglich Stadtpfarrer werden. Er arbeitete zunächst als Schuldekan, dann im Oberschulamt, bis er herausfand, dass ihm das quirlige Leben an einer Schule mehr liegt als das in Behörden.

„The Boss" steht auf einer Tasse in seinem Regal. Dreher sagt selbstbewusst: „Ich muss auch sagen, wo es langgeht." Aber den Boss hängt er nicht heraus. Im Gegenteil: „Ich bin ein absoluter Teamarbeiter", so beschreibt er sich, und schwärmt vom „Geist des Miteinanders" in der Schule. Der Geist des Miteinanders schwebte nicht von oben ein, er musste wachsen.

Zunächst ging das Kollegium in Klausur, zwei Tage lang sollten die Probleme auf den Tisch gepackt werden, ein Coach moderierte die Diskussionen der Lehrer. „Da wurde ausgesprochen, was man schon lange sagen wollte", sagt Dreher. „Danach haben wir überlegt: Wie gehen wir künftig miteinander um?" Zwischen dem Büro des Rektors und dem Lehrerzimmer gibt es eine Verbindungstür. „Die steht fast immer offen," sagt Helmut Dreher. Dem neuen Rektor, der unbelastet war von den alten Konflikten, kam eine Schlüsselrolle zu: „Meine Strategie war, auf die Leute zuzugehen und Konflikte nicht liegen zu lassen, sondern sofort zu lösen." Lehrer Roland Gschwind vergleicht die Schulentwicklung mit einem Marsch durch die Wüste. „Es reicht nicht, wenn der Schulleiter Ideen hat. Er muss sich um seine Leute kümmern und sie ermutigen, weiterzugehen."

Nach der Klausur „ist die Energie plötzlich explodiert", erinnert sich Gschwind. „Die Gräben waren blitzschnell zu, so, als ob wir auf ein Zeichen gewartet hätten." Die Lehrer wollten nicht nur Streicheleinheiten, sie wollten auch die Schule erneuern. Es begann, was die Jury des Deutschen Schulpreises so formulierte: „Hier wird Schule noch einmal ganz neu gedacht." Dazu gehört, Verantwortung neu zu verteilen, an die Lehrer, aber auch an die Schüler. Der Mann an der Spitze wollte eben kein einsamer Rufer in der Wüste sein. „Verantwortung abzugeben entlastet mich und macht andere stark", sagt der Schulleiter.

Es ist April, ein sonniger Spätnachmittag, die Abiturienten haben ihre Prüfungen hinter sich und feiern ausgelassen auf dem Schulhof. Drinnen, im Medienraum, tagt eines der wichtigsten Schulgremien hinter herunter gelassenen Jalousien. Im Konvent sitzen genauso viele Schüler wie Lehrer. Der Jüngste, Moritz aus Klasse 7, hat eine Stimme und damit in dieser Runde genauso viel Gewicht wie der Schulleiter. Der Konvent gibt seine Entscheidungen an den Lehrerrat weiter, der sich dieser Empfehlung selten verschließt. Sergio aus Klasse 12 liest einen Antrag der Schüler vor. „Die SMV beantragt, unter dem Dach vor dem Kickerraum das Telefonieren zu erlauben." Nur dort gebe es Handyempfang, erklärt Sergio. Stirnrunzeln auf Seiten der Erwachsenen. Sozialpädagogin Ute Kraft bekennt, dass sie sich mit dem Anliegen schwer tut. „Das können wir in unserem Alter nicht nachvollziehen, dass man jemanden jederzeit erreichen muss." Auch Lehrer Friedemann Stöffler ist skeptisch. „Der Schwerpunkt dieser Schule ist Medienkompetenz, wir wollen nicht, dass Handys unseren Alltag bestimmen." Schule müsse „ein geschützter Raum" bleiben, deshalb gebe es das Telefonierverbot, mit Ausnahmen in Notfällen.

Der Notfall sei zu eng gefasst, findet Elftklässler Timon. „Es gibt Situationen, da muss man dringend anrufen, ohne dass es gleich ein Notfall ist." Wenn eine Stunde ausfällt, beispielsweise, wenn man später nach Hause kommt oder einfach der Freundin draußen etwas Dringendes sagen muss. Sergio musste jedes Mal das Schulgelände verlassen, wenn er mit seinem Fahrlehrer Termine vereinbaren wollte. Schule sei heute anders als noch vor zwanzig Jahren: „Wir verbringen 70 Prozent unserer Zeit in der Schule, da will ich mich nicht isolieren von den anderen," argumentiert er.

Helmut Dreher hört zu. Dann sagt er: „Alle Argumente liegen jetzt auf dem Tisch." Jetzt soll entschieden werden. Der Rektor schlägt einen Probelauf bis zu den Sommerferien vor. Sollten Schüler die Freiheit missbrauchen, werde sie „sofort" kassiert. Läuft es gut, wird nach erneuter Abstimmung verlängert, unbefristet. Alle Schüler sind dafür. Und sechs der acht Lehrer. Sergio lächelt, hochzufrieden. Schulentwicklung bedeute, „für Probleme Lösungen zu finden" definiert Schülerin Sinje. Sie, die Schüler, sollen nicht einfach „entwickelt" werden, sondern ihre Schule mitgestalten.

Der neue Geist im Firstwald sorgt in Mössingen aber auch für Skepsis. Schließlich ist er ein ausgesprochener Unruhegeist. „Manche sagten, der Dreher baut da draußen eine Bildungsfabrik", berichtet der Schulleiter amüsiert. Doch „der Dreher" plant nicht allein. Keinesfalls habe man den Eindruck, dass hier nur einer „den ganzen Karren zieht", bilanzierte das Besuchsteam des Deutschen Schulpreises. Im Gegenteil: Die „Innovationskraft" habe sich weitgehend vom Rektor auf die Lehrerschaft übertragen.

Mit großem Elan eröffnete die Schule das zur Schule gehörende Internat neu und führte in der Grundschule eine ganz neue Pädagogik, das Jenaplan-Konzept, ein. Zu integrieren galt schon immer als Stärke der evangelischen Schule, die als Privatschule nicht elitär sein will. An der Firstwaldschule können Realschüler Abitur machen, lernen Hochbegabte neben Schülern mit Lernschwächen, Rollstuhlfahrer neben jungen Leistungssportlern. Wohin das alles führen soll? Auch das soll nicht dem Zufall überlassen werden. Das Steuerungsteam der Schule, ein Team von fünf bis zehn Lehrern, plant bis ins Jahr 2018. Zur Zeit denkt das Schulentwicklungsteam über die Angliederung einer Förderschule nach. Manchmal hat der Schulleiter das Gefühl, er sollte seine Kollegen ein bisschen bremsen, damit sie sich nicht übernehmen. Die wichtigste Grundlage jeder Schulentwicklung hat ohnehin schon längst stattgefunden. Jedenfalls hört es sich so an, wenn die Schüler die Veränderung an ihrer Schule beschreiben: „Unsere Lehrer", sagt Tobias, „sehen nicht mehr nur eine Klasse vor sich, sondern Menschen."

Ingrid Eissele