Porträt
In der Schule „Am Park" lernen Kinder, die anderswo als „nicht beschulbar" galten. Das Credo der Lehrer: Beziehung kommt vor Erziehung.
Sebastian* liest eine Parabel auf sein Leben. Die Augen zu kleinen Knöpfen gekniffen, presst der Siebenjährige jeden Buchstaben einzeln heraus: „Der ist so allein", liest er über einen Hund, den eine Familie aus dem Tierheim holt. „Wir wollen ihm ein schönes Leben geben", endet er gedehnt, stutzt und schaut seine Lehrerin Margit May mit großen Augen an. „Das hast du toll gemacht", sagt sie und schaut dem Blondschopf fest in die Augen. Sie hat heute Deutschstunde an der Schule „Am Park" in Behrenhoff, einem 340-Seelen-Dörfchen unweit von Greifswald im östlichen Vorpommern.
Dass Sebastian diese Sätze entziffert, sei ein kleines Wunder, sagt Margit May später. „Erst seit einem Jahr, seit ihn das Jugendamt aus der Familie nahm, erfährt Sebastian so etwas wie Erziehung und Schulbildung." Seine Eltern sind drogenkrank. Während sie auf der Suche nach Stoff waren, musste sich der fünfjährige Sebastian allein um die beiden jüngeren Geschwister kümmern. „Als er zu uns kam, kauerte er wie ein Tier unterm Tisch", erinnert sich Margit May. Im Klassenzimmer sitzen außer Sebastian fünf Erstklässler, drei Zweitklässler und zwei Drittklässler, sie schreiben die Geschichte vom Hund aus dem Tierheim auf.
Sebastian hält es nicht mehr auf seinem Stuhl, er hippelt herum. Konzentration fällt ihm schwer – eine Folge seiner schweren Persönlichkeitsstörung, und die wiederum sehen die Lehrer als Folge der jahrelangen Vernachlässigung. „Mama", äfft er eine Mitschülerin nach, die gerade dieses Wort vorgelesen hatte; er findet kein Ende. Margit May kehrt zu ihm zurück, legt ihre Hand einen Moment lang auf seine. „Es ist gut jetzt, bitte hör auf". Sebastian schnappt seinen Füllfederhalter und widmet sich wieder der Silbe „he", die er eine Zeile lang wiederholen soll.
Diese Klasse ist anders als andere. Hier lernen hochbegabte, aber verhaltensauffällige Schüler zusammen mit schwach begabten Kindern und Lernbehinderten. Höchstens zwölf Kinder sitzen in einer Klasse, in Sebastians Klasse sind es nur elf. Es gibt keinen Frontalunterricht, sondern intensiven Diskurs zwischen Lehrern und Schülern, auch wohl dosierte und sorgfältig abgewogene Berührungen wie ein Händedruck – für einen kurzen Moment; die Grenzen zwischen Schülern und Lehrern gelten auch in Behrenhoff. Margit May will aber damit Kindern wie Sebastian Aufmerksamkeit und Sympathie signalisieren. Beides brauchen sie dringend.
„Willkommen auf unserer Insel inmitten stürmischer See", begrüßt Schulleiterin Edeltraud Schmid Besucher gern. Das Eiland betreten in der Regel nur solche Kinder, die woanders gescheitert sind. Vom ersten bis zum neunten Jahrgang bietet die Behrenhoff-Schule vier Schultypen: Grundschule, Förderschule, Regionalschule mit der Möglichkeit des Hauptschulabschlusses und eine Schule für geistig Behinderte. Diese Schule versucht neue Wege. Oder sind es eigentlich ganz alte? „Wir setzen auf Beziehung", sagt Schuldirektorin Schmid, „so einfach ist das". Und meint damit ganz konkret: Interesse für die Seelenlage der Schüler und an ihrem schulischen Fortkommen, schlicht Akzeptanz.
Niemand soll wegen seines Verhaltens von der Schule fliegen – so heißt das Credo der Lehrer von Behrenhoff. Nur zwei von 13 Schülern einer Klasse leben noch bei den leiblichen Eltern, die anderen in Heimen oder bei Pflegeeltern, einige waren in der Kinderpsychiatrie. Die meisten der älteren Schüler haben Jugendarrest hinter sich. Was ihnen helfe: „Wir machen den Schülern klar, dass wir sie bedingungslos aufnehmen", sagt Schmid. Es gibt keine Strafen fürs Schwänzen, Stören oder Stehlen. Zu oft seien Sanktionen im früheren Leben der Schüler ins Leere gelaufen, weil sie zu hart oder inkonsequent waren. Aber es gibt Konsequenzen.
Es ist halb elf, eigentlich hat der Sozialkundeunterricht in Klasse 9 B längst begonnen, die Grundrechte der deutschen Verfassung stehen auf dem Stundenplan. Aber Sabine* steht auf und bittet ums Wort. „Ich hab so’n Hals, immer muss ich mir das anhören", ruft sie in die Klasse und bricht in Tränen aus. Sie werde gehänselt, „weil ich dick bin". „Wer fühlt sich angesprochen?" fragt Edeltraud Schmid in die Runde. Jens meldet sich. „Das war doch nur Spaß", entgegnet er, „du lachst doch oft selber mit". Ja, sagt Sabine, aber gezwungenermaßen, „ich überspiele die Sticheleien. Aber das tut einfach weh", sagt sie. „Okay, entschuldige, ich höre damit auf", verspricht Jens. „Ich auch", sagen gleich drei Jungs hintereinander. Ohne Aufforderung von Lehrerin Schmid steht Jens auf, geht zu Sabine und gibt ihr wortlos die Hand.
Das haben sie in Behrenhoff gelernt. Wie eine ehrliche Entschuldigung geht. Wenn nicht, „dann ebnen wir Lehrer die Wege", wird Schmid später sagen. „Dann sitzt man so lange, bis eine Lösung gefunden ist." Eine Versöhnung, eine Wiedergutmachung – alle Schüler erleben in Behrenhoff, dass Opfer wie Täter zu Wort kommen, man ihnen zuhört. Das sogar sprichwörtlich: Bei Wutanfällen hält Edeltraud Schmid ihre Schüler fest. „Damit mache ich die Schüler nicht gefügig, ich setze ihnen eine Grenze, die Schlagen oder Zerstören verhindern soll. Die Wut tritt dann heraus und verflüchtigt sich." Oft offenbare sich in solchen Situationen große Pein, „die wir gemeinsam durchstehen. Das stärkt unsere Beziehung. Wir werden zu Vertrauenspersonen."
Früher war die Schule am Park eine Sonderschule wie viele andere. Aber als Edeltraud Schmid Ende der Neunziger Jahre bemerkte, dass immer mehr Kinder kamen, die keine Lernprobleme, sondern vor allem seelische Probleme hatten, erweiterte sie ihr Schulprogramm um ein Angebot für solche Kinder. Anfangs besuchten elf so genannte „Erziehungshilfe-Schüler" die Schule, etwa ein Zehntel der Schülerschaft, heute sind es 75, mehr als die Hälfte.
Das Hauptgebäude mit seinen vielfach überstrichenen Wänden samt offen liegenden Versorgungsleitungen platzt aus den Nähten, doch das Geld für einen Neubau fehlt. Die Schule behilft sich mit zwei Containern. Im linken versucht Edeltraud Schmid, endlich die Grundrechte durchzunehmen. Vergebens. Robin* hat gerade eine Alkoholvergiftung überstanden. Heute ist er zum ersten Mal wieder in der Schule – und muss gleich an die Tafel. Einen Kreis hat er gemalt. Robin soll nun eintragen, was nicht gut läuft in seinem Leben. Was nicht gut läuft, füllt vier Fünftel des Kreises: Robin schreibt: Probleme mit der Polizei wegen Autoknacken, Alkohol, Mutter und Vater.
„Was verurteilst du am stärksten bei deinen Eltern?", fragt ihn Edeltraud Schmid. „Dass sie trinken", sagt Robin. Seit einem Jahr lebt er im Heim. „Die Probleme mit der Polizei kriegst du allein in den Griff", sagt Edeltraud Schmid. „Der Rest ist schwieriger, da müsste man mit euch arbeiten, müsstest du mit deiner Mama reden, eben auch über den Alkohol." Robin fasst sich ans Herz. Die Schulleiterein schaut ernst. „Ich bedanke mich bei dir, du warst total offen." Nicht jedes Problem könne die Schule lösen, gibt die Rektorin zu. „Aber wir können es bewusst machen."
Die Dankbarkeit der Eltern spricht für die Schule „Am Park". Und die Abschlüsse. Die Berufsreifeprüfung, eine Art Hauptschulabschluss in Mecklenburg-Vorpommern, absolvieren die Behrenhoff-Schüler nach Klasse neun an einer anderen Regelschule - zur Qualitätskontrolle. Seit vier Jahren fiel kein einziger Schüler mehr durch. Beim Hinausgehen zieht Edeltraud Schmid die Augenbrauen hoch. Eine Kollegin steht auf dem Flur. „Was machst du hier?", fragt sie. „Ich kann die Kinder jetzt nicht allein lassen", sagt sie mit schwer erkälteter Stimme. Der Krankenstand unter den Lehrkräften ist sehr niedrig, das Verantwortungsgefühl sehr stark. Denn das Prinzip „Beziehung vor Erziehung" verlangt Kraft und Zeit: Jede Unterrichtsstunde, die durch ein Konfliktgespräch ausfällt, wird nachgeholt.
Robin schlendert zum Ausgang, es hat zur Mittagspause geläutet. Da läuft er fast in einen Pulk Mädchen. So vertieft ist er in seine Lektüre: eine Miniausgabe vom Deutschen Grundgesetz.
* Namen geändert
Jan Rübel