Porträt

Die Waldhofschule in Templin lebt echte Integration vor: Behinderte und Regelschüler lernen gemeinsam – mit herausragenden Leistungen.

Eine Glassäule mit blubberndem Nass wechselt langsam ihre Farbe und wirft den Raum in warmes Korngelb. Aus dem Wasserbett säuseln sanfte Harfenklänge: Der snoozle-Raum gehört zu den beliebtesten Zimmern der Waldhofschule in Templin. Hier findet definitiv kein Matheunterricht statt, hier sollen die Schüler und Schülerinnen entspannen, „runter kommen" nennt das Schulleiter Wilfried Steinert. Braucht so was eine Schule, in der bis zur sechsten Klasse ohnehin niemand sitzen bleibt, deren Lehrer bis Klasse fünf keine Noten verteilen und die Bruchrechnung anhand von Schokoladentafeln erklären? „Natürlich", sagt Steinert und schaltet eine kleine Diskokugel aus. „Das macht den Kopf frei fürs Lernen."

Die Leistungen der Waldhofschule sprechen für sich. In den landesweiten Vergleichstests des Kultusministeriums liegt sie in den meisten Bereichen über dem Durchschnitt anderer Grundschulen. Abgänger der sechsten Klasse werden von Gymnasien gern genommen; sie könnten gut üben, heißt es. Die Erfolgsgeschichte dieser Schule mitten im Wald beginnt in Finnland. Steinert war Anfang der Neunziger dorthin gereist, um seine Tochter zu besuchen, sie arbeitete als Au-Pair-Mädchen in einer Familie. Die klitzekleine Dorfschule beeindruckte den Vater sehr: „Wir brauchen alle", zitiert er das Credo jenes finnischen Lehrerehepaars, das dort allein unterrichtete, „keiner bleibt zurück, keiner wird beschämt". Als dem Kirchenschulrat 2002 die Aufgabe angeboten wurde, in der Waldhofschule für offenere Strukturen zu sorgen, da sagte er zu. Weil er ein Stück Finnland ins uckermärkische Templin bringen wollte.

„Ich erinnere mich noch genau", sagt ein Fotograf, der gerade Steinerts Büro betritt und durchs Fenster auf den gegenüberliegenden Bau zeigt, „damals wurden dort die Behinderten immer festgeschnallt". Für eine Nachrichtenagentur soll er die Schule fotografieren. Den Waldhof betreten hatte er davor zum letzten Mal vor 30 Jahren. Seit mehr als 150 Jahren ist der Waldhof eine Einrichtung der evangelischen Kirche für geistig Behinderte, in der DDR galten sie als „nicht beschulbar". Nach dem Fall der Mauer sollte sich das ändern – und auch einiges für bundesrepublikanische Verhältnisse. „Warum sollten Regelschüler nicht von der Sonderpädagogik profitieren?", fragt Steinert lächelnd und zählt auf: Viele Pädagogen, ein riesiger Garten, Therapieräume – und ein snoozle-Raum.

Die Schule des Waldhofs öffnete sich, 2003 wurde sie integrativ, das heißt, sie nahm als ursprüngliche Förderschule auch nicht behinderte Kinder auf. Knapp die Hälfte der 260 Schüler ist behindert, viele davon sind geistig behindert. Wer behindert ist oder nicht, erkennt kein erster Blick. Die Unterschiede verschwimmen. „Ich weiß schon, was hier läuft", ruft die sechsjährige Ines*, als Birgit Beyer die Glastür zum Klassenzimmer der 1a aufstößt. Frau Beyer ist gekleidet in schrilles Pink, sie trägt Paket und Pinsel unterm Arm. „Heute lernen wir den Buchstaben P", kündigt die Lehrerin an, und nach einer kurzen Einführung legen die Erstklässler begeistert los. Jeweils drei Kinder suchen gemeinsam Wörter mit einem P. „Uhr, Wecker, nein nein", sagt Anja*. Leni* und Marianne* nicken. Anjas Mutter ist geistig behindert, Anja lebt bei ihr und muss jetzt vieles nachholen, was ihr das Elternhaus an Reizen und Informationen nicht bieten kann: Sie ist lernschwach; ob eine geistige Behinderung vorliegt, weiß man noch nicht. Leni und Marianne, nicht behindert, lernen das P aus einer anderen Perspektive kennen: als Assistentinnen von Frau Beyer. Sie helfen Anja. Das vertieft ihr eigenes Wissen. „Fein, nun kannst Du einen Haken darunter setzen", lobt Leni die gleichaltrige Anja. Die Schülerinnen dokumentieren ihren Lernerfolg in Mappen. „Die Buchstaben kann ich schon", sagt Anja und zeigt auf einen Zettel, der an der rechten Klassenwand hängt. „Anja" steht darauf, und „Ich war Lesekönigin bei: M, L, T, R, S, W, D, N und SCH".

Die Schulglocke ist abgeschafft, es klingelt nicht mehr zur Pause. Macht nichts. Heute dauert die Deutschstunde spontan eine Viertelstunde länger als geplant. "Der Bedarf ist einfach da, wenn wir einen neuen Buchstaben üben", sagt Sonderpädagogin Silvia Berndt. Sie bildet gleichberechtigt mit Birgit Beyer das Lehrerteam der 1a; eine weitere Pädagogin stößt halbtags hinzu – zweieinhalb Planstellen für 17 Schüler. Traumbedingungen, wie die Lehrerinnen einräumen.

Außergewöhnlich großzügig auch die Räume. Rund um den sonnendurchfluteten Flur gruppieren sich drei Klassenzimmer samt Gruppenräumen mit Spielecke und Kochnische, ein Musikzimmer voller Keyboards, Bongos und einem Schlagzeug, ein Ergotherapieraum und ein Büro für die Lehrer des Jahrgangs. In der Pause sitzen Beyer und Berndt im „Gruppenraum" neben ihrem Klassenzimmer vor zwei Computerterminals. Hier bereiten die Lehrerinnen die nächsten Stunden vor, korrigieren Arbeiten und tauschen sich aus; jedes Kind bekommt seinen individuellen Plan. „Mit Andi will ich nach den Osterferien noch mal Silben mit P lesen", sagt Silvia Berndt über einen Lernbehinderten. „Die Regelschüler können derweil eine Geschichte mit lauter Ps lesen", schlägt Birgit Beyer vor. Den eigenen Arbeitsplatz in der Schule schätzen die Lehrerinnen sehr, auch die vorgeschriebene Präsenzzeit von 8 bis 15 Uhr.

Dicke Luft herrscht allerdings im Schülerparlament, das heute im so genannten Mehrzweckhaus tagt. Jede Klasse hat einen Delegierten geschickt – auch die Klassen der angeschlossenen Ober- und Werkstufe für geistig Behinderte. Schüler im Alter von sechs bis 20 diskutieren das jüngst erlassene Handyverbot. „Meine Oma liegt im Sterben, da muss ich ständig erreichbar sein", sagt ein Siebzehnjähriger. „Gilt das Verbot auch für Lehrer?", fragt ein Drittklässler. Der Vertrauenslehrer nickt. Das Parlament beschließt, dass Ausnahmen möglich sein müssen. Die Petition geht an Schulleiter Steinert. Das Schülerparlament kritisiert auch die Zusammensetzung der Delegation, die zur Verleihung des Deutschen Schulpreises nach Berlin fahren soll. „Es sollten auch Fünftklässler mit", meint eine Schülerin. „Die Sara* kriegt doch gar nicht viel mit", sagt eine andere über ein Kind mit Down-Syndrom. „Aber Sara ist Sinnbild für unsere Schule", wirft der Sozialarbeiter ein.

Schließlich stimmt das Schülerparlament dafür, dass neben Sara und den Schülersprechern noch ein weiterer Schüler mit soll – falls sich dafür Geld auftreiben lässt. Im ersten Stock wirbeln unterdessen Anja, Leni und Marianne über den Flur, sie üben einen selbst ausgedachten Tanz ein. „Mit dem P machen wir morgen weiter", ruft Leni. Anja hat heute viel von ihren beiden Freundinnen gelernt. Jetzt dreht sich Leni im Kreis, während die anderen beiden um sie herum mit den Hüften wackeln. Leni dreht sich schneller, stößt mit Anja zusammen, sie fällt um. Da bückt sich Anja, hält ihr die Hand hin und zieht sie hoch.

*Namen geändert

Jan Rübel