Porträt
Elsa ist ratlos. Irgendetwas stimmt hier nicht. Angestrengt starrt sie durch ihre Kinderbrille auf das Häufchen Figuren, das vor ihr liegt. „Zwei Höcker, Bart und ein Schwanz, aber keinen Zahn“, murmelt die Siebenjährige, das sind die Vorgaben für das kleine Ungeheuer, das sie ausfindig machen soll – doch das gesuchte „Kamuffel“ ist einfach nicht zu finden. Normalerweise würde sich eine Zweitklässlerin nun an die Lehrerin wenden. Aber Elsa geht zu Jonathan, der im Nebenraum am Computer sitzt.
Jonathan ist zwei Jahre älter als sie und hat wirklich Wichtiges zu tun: Er beantwortet gerade knifflige Fragen zu Harry Potter. „Kannst Du mir helfen?“, fragt Elsa mit ernstem Wissenschaftlerblick. Jonathan murrt nicht, er zieht nicht mal die Augenbrauen hoch, sondern folgt Elsa zu ihrem Tisch. „Man fragt immer erst andere Kinder“, erklärt Elsa, während sich Jonathan über das Häufchen beugt. „Nur wenn die nicht helfen können, fragt man die Lehrerin.“ Elsas Grundschule ist ein ehrwürdiger Bau, gut hundert Jahre alt, krisengestählt. Zweimal schon drohte die Schließung der mit 376 Kindern eher kleinen Schule an der Rellinger Straße im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Jedes Mal konnte sie abgewandt werden, nicht zuletzt, weil es Eltern gibt, die auf diese Schule schwören. Will man herausfinden, was hier anders ist als anderswo, kann man die Leitsätze der Schule lesen, in denen von „individualisiertem Lernen“ die Rede ist. Oder aber den Hinweis an der Tür im Erdgeschoss: „Liebe Eltern, ab hier können wir alleine gehen.“
Ein ähnlicher Satz könnte in jedem Klassenzimmer hängen: Liebe Lehrer, ab hier können wir alleine gehen – wäre dieser Leitsatz den Lehrern nicht längst in Fleisch und Blut übergegangen. Man kann eine Schule von oben verändern, durch ein neues Schulsystem, das die Politik vorgibt. Oder von unten, durch einen anderen Unterricht.
An der Schule Rellinger Straße in Hamburg geschieht beides gleichzeitig. Grundschüler bleiben sechs statt der üblichen vier Jahre zusammen, bevor sie sich auf andere Schularten verteilen. Diese „Primarschule“ war ursprünglich für alle Hamburger Grundschulen geplant, doch der große Wurf scheiterte 2010 bei einer Volksabstimmung, viele Hamburger Eltern fürchteten Nachteile für ihr Kind, wenn es zwei Jahre später mit „gymnasialem Lernen“ begänne. Nur vier Hamburger Grundschulen unterrichten ihre Schüler sechs Jahre lang, als Schulversuch. Die „Relli“ gehört dazu. Denn sie hat viele alte Zöpfe abgeschnitten: Es gibt nur noch Doppelstunden, die Lehrer erteilen „Kompetenzzeugnisse“ statt Notenzeugnisse. Die Kinder werden nicht mehr in Klassen, sondern in Lerngruppen unterrichtet.
Die tiefgreifendste Änderung aber ist das neue Rollenverständnis der Lehrer. Eine Lehrerin ist hier keine „Servicekraft“ mehr, die alles „kleinschrittig“ erklärt. „Wo ist mein Radiergummi? So etwas fragt man den Lehrer nicht,“ sagt Schulleiterin Petra Stumpf. „Alles, was sich Kinder gegenseitig beibringen, mach ich als Lehrkraft nicht.“ Pädagogen nennen dies das „Prinzip der minimalen Hilfe“. „Man kann Kinder auch mit zu viel Hilfe erschlagen“, erklärt Elsas Lehrerin Conni Kastel, 57.
In Elsas Klassenzimmer, das „Lerngruppenraum“ heißt, hängt noch so ein Merksatz: „Jeder Chef, jede Chefin ist für sich selbst verantwortlich.“ Jedes Kind hat eine Gemeinschaftsaufgabe, beispielsweise die Arbeitsmaterialien auf Vollständigkeit zu prüfen.
Elsa ist Computer-Chefin, aber vor allem ist sie Chefin für ihr eigenes Lernen. Weil auch Jonathan das Kamuffel nicht finden kann, geht Elsa schließlich zu Frau Kastel. Conni Kastel wirft einen Blick auf die Teile. Tatsächlich, das Kamuffel fehlt. Bei ihrer täglichen Schlussrunde mit allen Kindern auf dem runden Teppich wird Elsa davon berichten. „Ich hab meine Aufgabe nicht geschafft, weil ein Plättchen gefehlt hat.“ Ein klarer Fall für Kamuffel-„Chefin“ Lisa, 9, sie wird zehn Kinder aus der Klasse auswählen und gemeinsam mit ihnen nach dem verschlamperten Teil suchen. Elsa hat da schon mit ihrer Lehrerin aufgeschrieben, was sie an diesem Tag geschafft hat.
In ihrer „Planungsmappe“ steht außerdem, was sie diese Woche noch zu tun hat und was sie längst hinter sich gelassen hat. Was ihr schwerfiel, womit sie sich leichttat. „Ich kenne das ABC“ steht über einem Blatt. Abgehakt am 19.5.2011. „In jedem Kind steckt etwas ganz Eigenes“, weiß die Schulleiterin. „Man muss diese Selbständigkeit ernst nehmen, dann wachsen Kinder wirklich.“ Das setzt Gelassenheit voraus, aber auch genaues Wissen, unter welchen Bedingungen Kinder gut lernen – und anderen helfen können. Die Altersmischung sei wichtig, erklärt Petra Stumpf. Erste Erfahrungen sammelte die „Relli“ schon im Jahr 2004 mit Lerngruppen aus Vorschülern und Erstklässlern. Heute lernen immer drei Jahrgänge zusammen, Erstklässler mit Zweit- und Drittklässlern.
Viertklässler mit Fünfern und Sechsern. Diese Lerngruppe gilt als besonders ambitioniert. Denn was bedeutet es für Sechstklässler, wenn sie mit Viertklässlern an einem Tisch sitzen? Treten sie dann auf der Stelle? Die Lerngruppe von Ute Manthey, Klasse 4 bis 6, hat heute „Projektzeit“. Das heißt für Kira und Anna, dass sie sich mit einem selbstgewählten Thema beschäftigen dürfen. Das Wunschthema der zwölfjährigen Kira aus der 6. Klasse und der zehnjährigen Anna aus der Vierten ist die Tiefsee. Jede hat neun „Forscherfragen“ gesammelt. Zum Beispiel: Wie ernähren sich die Tiere in der Tiefsee? Wie lange kann man mit einer Sauerstoffflasche tauchen?
Bloß mal kurz bei Wikipedia nachschauen, das gilt nicht. Kira und Anna recherchieren Originalquellen. Entdecken einen Meeresbiologen am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, der ihre Fragen per Mail beantwortet. „Was ist noch mal die Dekompressionskrankheit?“, fragt Anna. „Da bilden sich in der Lunge Gasbläschen, wenn die platzen, dann ist man tot“, erklärt Kira. Die fertige Arbeit wollen sie in den nächsten Tagen den Mitschülern vorstellen. „Jeder kann mal was und jeder kann mal was nicht“, sagt Lehrerin Conni Kastel. Emrah, 11, der die Architektur des Empire State Building recherchiert, erklärt es so: „Es ist wie eine Kette, jeder bringt es dem anderen bei.“ Und jeder, findet Toyoshi, 11, der bäuchlings auf dem Teppich liegt, einen Laptop vor sich, profitiert, wenn er anderen etwas erklärt. Fast jeder zweite Schüler verlässt die Schule an der Rellinger Straße mit einer Empfehlung fürs Gymnasium. Bei den weiterführenden Schulen gelten die Absolventen als besonders selbständig und gut organisiert.
Lernen an der „Relli“ heißt aber nicht Lernen nach Belieben. „Wir geben auch viel vor“, betont Conni Kastel. Kaum ein Kind begeistert sich fürs Einmaleins. Also müsse man Anreize schaffen. Kinder lieben Zertifikate, also gibt es an der „Relli“ ein Zertifikat fürs erfolgreich gebüffelte Einmaleins. Früher Nachmittag. Conni Kastel zeigt den Boxraum im dritten Stock, in dem sich Schüler austoben dürfen. Sie sagt: „Man muss zu Kindern eine Haltung entwickeln, keine Methode.“ Plötzlich eilt sie hinaus auf den Flur. Ganz unten im Treppenhaus hört man ein Weinen. Dann leise Stimmen, das Weinen versiegt. „Da sind noch andere Kinder dabei“, sagt sie und wirkt wieder entspannt. Auf ihre Kinder ist Verlass.