Porträt

Dreißig Jahre lang ist es her, dass sich die Offene Schule Waldau auf den Weg gemacht hat. Inzwischen ist etwas passiert, und zwar so grundlegend, dass Kollegen aus ganz Deutschland nach Kassel-Waldau reisen, um zu erfahren, wie die wunderbare Wandlung der Gesamtschule gelang.

Erich Frohnapfel weiß, wie es aussieht, wenn eine Schule kurz vor dem Exodus steht. Der Englischlehrer hat erlebt, wie er und seine Kollegen sich einen Weg durch pöbelnde Schüler bahnen mussten, "die sich gegenseitig auf die Nasen hauten" und Anweisungen einfach ignorierten. "Ein grauenhafter Zustand!" Als Lehrerinnen weinend aus den Klassenzimmern kamen, war klar, "es musste ganz schnell was passieren."

Dreißig Jahre lang ist es her, dass sich die Offene Schule Waldau auf den Weg gemacht hat. Inzwischen ist etwas passiert, und zwar so grundlegend, dass Kollegen aus ganz Deutschland nach Kassel-Waldau reisen, um zu erfahren, wie die wunderbare Wandlung der Gesamtschule gelang. Denn noch immer ist Waldau ein Problemviertel, eine Plattenbausiedlung mit vielen Sozialfällen unter den Bewohnern und fünfzig Prozent Migranten. Dennoch kann sich Schulleiterin Bärbel Buchfeld vor Bewerbungen aus anderen Stadtteilen kaum retten. Um die 150 Plätze für Fünftklässler konkurrierten zuletzt mehr als doppelt so viele Bewerber, viele davon mit einer Gymnasialempfehlung. Die Eltern nehmen in Kauf, dass ihre Kinder bis Klasse zehn mit Kindern unterrichtet werden, die nur Empfehlungen für die Haupt- oder Realschule mitbringen. "Die Rückgewinnung der pädagogischen Vernunft", so nennen die Lehrer an der Waldau-Schule ihr Konzept. Es begann mit der Einsicht, dass in ihrem Fall kleine Korrekturen nicht reichen würden. Sie schauten sich vorbildliche Schulen in Göttingen und Köln, Bielefeld und Hamburg an und lernten: Eine gute Schule ist eine überschaubare und persönliche Schule.

Frohnapfel und seine Kollegen lösten die alte Schulorganisation auf und machten aus einem Massenbetrieb mit über tausend Kindern sechs kleine Einheiten: Jeweils zwölf Lehrer unterrichten eine Jahrgangsstufe mit etwa 150 Kindern von Klasse fünf bis Klasse zehn – ohne Unterbrechung. Das sorgt für Kontinuität bei Schülern und Lehrern. Jede der sechs "Minischulen" hat ein eigenes Lehrerzimmer. Das erspart hektische Rennerei in den Pausen und bringt die Kollegen zusammen. "Hier ist man nicht nur ein Fachlehrer", erzählt Junglehrerin Andrea Kaluschke in dem gemütlichen Raum mit weißer Sitzecke. Das Team ist auch "Familie." Zu ihrem Einstand in ihrer neuen Wohnung hat Andrea Kaluschke alle Kollegen eingeladen.

Die Lehrer im Zwölferteam sind nicht nur für den eigenen Unterricht verantwortlich, sondern auch für das, was im Klassenzimmer nebenan passiert. Alle Lehrer kennen alle Kinder eines Jahrgangs. Keine Unterrichtsstunde darf ausfallen. Ist ein Kollege krank, regeln sie untereinander, wer ihn vertritt. Jede Klasse hat zwei Klassenlehrer – das Kernstück der Schulreform. Junglehrerin Andrea Kaluschke unterrichtet mit Erich Frohnapfel die Klasse 6 C im Wechsel. Die beiden Pädagogen werden unterstützt von Sozialpädagogen und Psychologen und tauschen sich jeden Tag über ihre Schüler aus. "Vieles kann man schon riechen, wenn man morgens zur Tür herein kommt," sagt sie. Nein, was sie machten, sei keine Kuschelpädagogik. "Wir sind auch mal streng," stellt Erich Frohnapfel klar. "Wenn sich einer wie in Dreckbacken benommen hat, dann muss man es ihm auch sagen."

Die Arbeit im Tandem hat sich bewährt, besonders in Klasse fünf und sechs. "Ein Blick reicht manchmal schon, um zu wissen, was der andere denkt", sagt Deutschlehrerin Martina Moritz über ihren Kollegen Klaus Siebrecht. Auch die Kinder finden die Doppelbesetzung – immer Mann und Frau – gut. "Wenn man mit dem einen Streit hat, kann man mit dem anderen sprechen", sagt Zabi. Schon kurz nach der Einschulung fahren die Kinder eine Woche mit ihren Lehrern ins Schullandheim, um sich besser kennen zu lernen. Danach folgt ein Hausbesuch der beiden Klassenlehrer bei jedem Kind. Der liefert bei Börek oder Kuchen wertvolle Einblicke. "Wir wissen, in welchen Kinderzimmern ein Fernseher steht, ob Väter nur selten auftauchen oder Alkoholiker sind," sagt Schulleiterin Bärbel Buchfeld. Fast immer beginnt mit dem Hausbesuch ein direkter Draht zu den Eltern, die sich vertraglich verpflichten müssen, ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen. Jedes halbe Jahr treffen sich die beiden Klassenlehrer mit Eltern und Kind zum Erziehunsgespräch und besprechen, welche Fortschritte das Kind gemacht hat. "Wir stecken ganz viel Kraft in die ersten Jahrgänge," sagt Deutschlehrerin Moritz. "Das ist Arbeit, aber die zahlt sich aus." Natürlich gibt es dennoch immer wieder Zoff im Klassenzimmer. "Wir haben hier eine harte Klientel," so die Lehrerin. Wenn beispielsweise ein Schüler seine Mitschülerin "Hure" schimpfe, "wird der Unterricht sofort unterbrochen. Die Klasse entscheidet daraufhin,wie die Beleidigung wieder gut zu machen ist." Zum Beispiel, indem der Missetäter den Kehrdienst für das Mädchen übernimmt.

Im Klassenrat lernen die Kinder, die Rechte des anderen zu respektieren, sie werden zu Co-Erziehern auch auf dem Schulhof. "Es soll sich doch kein Lehrer vormachen, dass er alles im Griff hat – die schlimmsten Sachen laufen außerhalb des Klassenzimmers", weiß Martina Moritz.
Klartext redet Martina Moritz auch mit Eltern. Als sich ein türkischer Vater weigerte, ihr die Hand zu geben und mit ihr über seine Tochter zu reden, die er nicht auf die Klassenfahrt schicken wollte, wurde die Pädagogin laut. In einem demokratischen Land habe er mit ihr zu reden. Das tat er dann auch. Und die Tochter durfte mitfahren. Die Mischung aus Konsequenz und Kümmern zeigt Erfolg. Siebzig Prozent aller Schüler der Offenen Schule Kassel-Waldau schaffen den Sprung auf eine weiterführende Schule, beispielsweise das Gymnasium – und immerhin 68 Prozent der Migrantenkinder, drei mal mehr als im übrigen Hessen.
Doch damit wollen sich die Lehrer nicht zufrieden geben. Auch eine gute Schule müsse ständig dazu lernen, betont Erich Frohnapfel. "Nächste Woche fahren wir nach Hamburg- Bergedorf und schauen uns an, wie die das in Klasse neun und zehn machen. Zum Abgucken waren wir uns nie zu fein."

Ingrid Eißele