Porträt

Kooperation auf allen Ebenen ist der Schlüssel zum Erfolg an der Integrierten Gesamtschule Franzsches Feld. Während in Niedersachsen im Schnitt jeder siebte Schüler die Schule abbricht, macht in dieser Schule jedes Kind einen Abschluss.

Jurina ist genervt. „Silja, du sollst nicht mehr so laut lachen!" nörgelt sie. „Und du brüllst mich immer an", blafft Silja zurück. Jetzt mischen sich auch noch Jonas und Marcel ein: „Die haut uns ohne Grund", beschweren sie sich. „Heut kommt’s aber geballt," wundert sich Sozialpädagoge Michael Mainka über seine elfjährigen Streithammel. Doch fünf Minuten später ist die Luft in Klasse sechs wieder rein. Jurina verspricht, nicht mehr zu brüllen und auch Silja lenkt ein. „Nächste Woche kann ich gar nicht mehr lachen, dann krieg ich eine Zahnspange, damit tut Lachen weh." Ruhe kehrt ein. Der Unterricht kann beginnen. Wenige Minuten später erntet Silja Applaus von ihrer Tischgruppe – als die Kinder gemeinsam einen Turm aus Stiften, Wäscheklammern, Schere, Luftpumpe und Kugeln bauen sollen. Ein schwieriges Geschicklichkeitsspiel, bei dem Silja ihrem Team zum klasseninternen Rekord verhilft.

„Wenn es Probleme gibt, muss man die erst beheben, das geht vor", sagt Sozialpädagoge Mainka. Kinder, die sich ärgern, könnten nicht richtig lernen. Auf solche scheinbaren Nebensächlichkeiten achtet man an der Integrierten Gesamtschule Franzsches Feld in Braunschweig. In sogenannten Tischgruppen von fünf bis sechs Schülern und im Klassenrat lernen die Kinder, über ihre Sorgen zu reden und wie man sie aus der Welt schafft. „Respekt, Zusammenhalt, Zuhören, Ordnung, Zusammenarbeit", steht auf einem Plakat in Klasse acht. Zusammenarbeit müsste eigentlich ganz oben stehen. Kooperation auf allen Ebenen ist der Schlüssel zum Erfolg an der Integrierten Gesamtschule Franzsches Feld. Während in Niedersachsen im Schnitt jeder siebte Schüler die Schule abbricht, macht in dieser Schule jedes Kind einen Abschluss. „Höchstens alle fünf Jahre haben wir einen, der es nicht schafft, das ist die absolute Ausnahme", sagt Schulleiter Andreas Meisner. Dabei besuchen auch behinderte Kinder seine Schule, die von der fünften Klasse bis zum Abitur führt. Kinder mit Hauptschulempfehlung sitzen neben Kindern mit Gymnasialempfehlung.

Jedes Jahr bewerben sich drei Mal so viele Schüler wie die Schule aufnehmen kann. „Einen Platz zu kriegen ist wie ein Sechser im Lotto", sagt Sibylle Gerloff, Elternvertreterin und Mutter von vier Kindern. Dabei sei es hier für Eltern anstrengender, weil man von ihnen mehr Mitdenken und Mitarbeiten verlange als anderswo. Sibylle Gerloff spricht aus Erfahrung, denn wegen Umzügen haben ihre Kinder bisher acht Schulen besucht. „Hier wird nicht das Normkind mit Normschule versorgt, sondern die Lehrer achten darauf, was jedes Einzelne braucht und sprechen es mit den Eltern ab."

Ein Beispiel ist ihre Tochter Rebekka. Die Dreizehnjährige ist überdurchschnittlich begabt, aber seit ihrer Geburt schwerhörig. „Sie braucht viel Lernfutter und zugleich Lernförderung", sagt ihre Mutter. An der Ganztagsschule bekomme sie beides. Ein Sonderpädagoge kümmert sich seit Klasse fünf um ihre Behinderung und übt mit Rebekka Lernstrategien, die Lehrer geben ihr immer wieder besonders schwierige Aufgaben. „Keiner betüddelt sie, sondern man spornt sie an, noch mehr aus sich heraus zuholen."

Das Ziel der Pädagogen in Braunschweig: Jedes Kind soll ein Gefühl für die eigenen Fähigkeiten entwickeln. Schon Fünftklässler lernen, sich selbst einzuschätzen. Das sei ganz schön schwierig, bekennt Luca aus der Sechsten. „Man ist meistens strenger mit sich selbst als die anderen." Statt Noten gibt es bis Klasse neun ausführliche Lernberichte der Lehrer, die die Schüler durch eigene Kommentare ergänzen. „Ich komme mit fast allen klar, auch den Lehrern", schreibt Katharina. „Aber in Mathe habe ich Schwierigkeiten, weil ich vieles nicht verstehe."
Ausreden wie „In Mathe bin ich eine Null", gibt es hier nicht. Denn die Lehrer lassen nicht locker, loben selbst kleine Fortschritte, halten aber auch mit Tadel nicht hinterm Berg. „Du lässt dich leicht ablenken und lenkst manchmal andere ab", schreiben sie Katharina ins Zeugnis. „Bitte bemühe dich, in Zukunft noch konzentrierter zu arbeiten und Tischgespräche zu vermeiden."

„Bei Kindern ist nichts zementiert", glaubt Englischlehrerin Walburga Temme. „Oft haben sie nur Angst vor einem Fach. Wenn sie aber in Ruhe arbeiten können, werden sie Schritt für Schritt besser und in höheren Klassen oft erstaunlich gut." Dabei hilft nicht nur der Lehrer, sondern auch der Nebensitzer. In Braunschweig wird Teamgeist nicht einfach erwartet, sondern Tag für Tag trainiert. Zum Beispiel beim gemeinsamen Turmbau in Klasse sechs. „Pack jetzt den Stift in den Locher rein", feuern Jonas und Jurina ihre Mitschülerin Silja an. „Das rutscht!" – „Nein, das rutscht nicht!" Silja findet das „Gequatsche" der anderen zwar anstrengend, aber auch ganz nützlich. „Hättest Du das allein auch hingekriegt?" fragt Sozialarbeiter Michael Mainka. „Nein, nicht so," bekennt  Silja. „Wenn man was nicht versteht, raten uns die Lehrer, fragt zuerst die anderen in der Tischgruppe," berichtet Rebekka, 13. „Das geht außerdem schneller." Also hilft Mareike ihrer Freundin Rebekka, wenn sie ein Problem mit der Rechtschreibung hat, Rebekka wiederum erklärt Jonas, wie er die knifflige Matheaufgabe lösen kann. „Jeder Schüler merkt, dass er was kann", sagt Benjamin, 15. Eine ausgesprochene „Lernstimmung", beobachtet Abiturientin Katharina an ihrer Schule. Und von der profitierten alle. „Wir haben manchmal den Eindruck", so die 15-jährige Leonie, „dass sogar die Lehrer was lernen."

Ingrid Eißele