Porträt

Das Geheimnis der Jenaplanschule Rostock offenbart sich in einem Dreieck. Genauer gesagt: in Hunderten Dreiecken, man stößt auf sie überall im Gebäude mit seinen vanillefarbenen Wänden. Lernbüro Mathe der Jahrgänge 7 und 8 im Gruppenraum "Sokrates", 8:20 Uhr: Justin und Lea diskutieren aufgeregt. "Dieses Dreieck hat mehr Fläche als die anderen", sagt er, "es hat mehr Umfang." Lea kontert: "Aber seine Höhe ist geringer." Zu ihnen beugt sich Madeleine Knuth, 31. "Das sind beides Argumente", sagt die Lehrerin. "Fallen Euch noch weitere ein?"

Die Dreiecke auf dem Papier liegen neben Geodreiecken auf Einzeltischen, die Schüler zu Quadraten oder Hexagonen zusammengeschoben haben. Im "Lernbüro" erarbeiten sich die Schüler Lernstoff, in dem sie in der kommenden Woche geprüft werden. Madeleine Knuth huscht von Tisch zu Tisch, lauscht, fragt und lacht. Jüngere Schüler fragen ältere und andersherum; wer Jahrgang 7 und wer Jahrgang 8 ist, erschließt sich nicht. Da schaut Martin Plants Lockenkopf herein. "Lernbüros heißen so", sagt der Rektor, "weil jeder selbständig in einer fachlich vorbereiteten Lernumgebung arbeitet." Vor 15 Jahren machte sich diese Schule in der Hansestadt an der Ostsee auf einen langen Weg, sie war eine Neugründung von reformpädagogisch beseelten Lehrern und Eltern - in Trägerschaft der Stadt Rostock. Eine staatliche Alternative zur Dreigliedrigkeit des Schulsystems sollte gefunden werden, ein Ort des gemeinsamen Lernens statt der frühen Aufteilung. Viermal zog die Schule seitdem um. Und verfeinerte in den Jahren ihre Unterrichtsstruktur, die nur auf den ersten Blick mit ihren verschiedenen Modulen unergründlich erscheint. Heute hat die Jenaplanschule Rostock den Lernprozess auf eine Weise individualisiert, die ihren Unterricht vorbildlich für andere macht. Die integrierte Gesamtschule mit Grundschule bietet den Pennälern an, von der ersten bis zur zehnten Klasse zusammenzubleiben. Bei Vergleichsarbeiten bringen sie weit überdurchschnittliche Leistungen hervor. Seit 2011 zum Beispiel haben nur drei Schüler ihren Abschluss mit der Berufsreife gemacht, die anderen in mittlerer Reife; 65 Prozent von ihnen besuchten danach Gymnasien oder Fachgymnasien. "Wir wollen keinem Elitekonzept folgen", sagt Martin Plant. "Wir haben die Leistungen aller Schüler und als Ganzes im Blick. Heterogenität begreifen wir als Schlüssel zum Erfolg."

Das Primat der Unterschiedlichkeit durchzieht das Schulleben. Auch Inklusion sei schließlich nichts anderes als Umgang mit Heterogenität, meint Martin Plant. Das zeigt der an das Lernbüro anschließende "Modulunterricht“. Jörg, Jahrgang 8, lernt hier wie die 21 anderen Schüler die Geometrie von Dreiecken. Das Lernbüro Mathe haben die Schüler freiwillig gewählt, statt Lernbüro Deutsch, Englisch oder Französisch - die sind dann zu anderen Zeiten dran.

Das Modul Mathe ist Pflicht für Jörg, insgesamt werden es heute 200 Minuten Dreieckskunde werden. Jörg ist einer von mehreren Schülern mit psychosozialen Problemen; von den Eltern gibt es schon seit langem nicht die Wertschätzung, die ein Kind braucht, und neuerdings ist er im betreuten Wohnen untergekommen. Die Schule nimmt immer mehr Quereinsteiger mit psychischen Problemen auf. Sie ist damit einerseits Spiegel der Gesellschaft und der zunehmenden mentalen Erkrankungen, andererseits hat sie sich als Lehrstätte mit vielfältigen Integrationsformen einen guten Ruf erarbeitet. Hier fällt Jörg nicht auf. Er erfährt Respekt, Förderung und Forderung zugleich. Zunächst konstruiert er allein ein Dreieck nach vorgegebenen Winkelmaßen. "Ihr habt höchstens 15 Minuten Zeit dafür", ruft Madeleine Knuth streng, "wir müssen im Plan bleiben." Dann tun sich die Schüler in Vierergruppen zusammen, vergleichen ihre Ergebnisse. "Mist, meines ist nicht genau rechtwinklig", resümiert Jörg. "Wie zeigt man, dass die Dreiecke kongruent sind?", fragt die Lehrerin. Jörg formuliert Regeln, schreibt sie auf.

Auch bei den Kleinen ist der Unterricht an den Tischgruppen jahrgangsübergreifend. Erster, zweiter und dritter Jahrgang lernen hier gemeinsam wie Lehrling, Geselle und Meister. Henri unterstreicht Subjekt und Prädikat, nebenbei wirft der Drittklässler einen Blick auf Nadines Heft; die Zweitklässlerin soll den gleichen Satz richtig von der Tafel abschreiben. "Tulpenfeld schreibt man am Ende mit d", sagt Henri und zieht nun sein Rechenheft vor. Es ist selbständige Lernphase in der Gruppe "Kunterbunt". Lehrerin Katja Dobbert und Horterzieherin Nicole Postelt wandeln zwischen den Hexagonen umher. Erklären tun hingegen oft die Schüler selbst, so wie Henri, der jetzt dem Erstklässler Ingo am Abakus hilft. "Vier hast Du, dann nimmst Du zwei Kugeln weg - wie viele bleiben Dir?" Ingos Augen strahlen, er hat etwas kapiert. Rektor Martin Plant, der an mehreren Orten zugleich zu weilen scheint, sagt auf dem Flur: "Es gibt ein weiteres magisches Dreieck an unserer Schule: das zwischen Lehrern, dem Schulverein und den Horterziehern." Während Lehrer und Horterzieher gemeinsam arbeiteten und gestalteten, agiere der Verein als Träger des Horts.

Ein paar Schritte weiter, auf einem Treppenabsatz, sitzt Franka. Die Drittklässlerin hat sich einen Kopfhörer aufgesetzt. "Im Gruppenraum ist es mir zu laut", sagt sie, "hier lerne ich besser."

Es geht auf die Mittagszeit zu. Drei Räume weiter hat Torsten Ruchhöft acht Schüler der Jugendgruppe "Fallada" zu sich geholt, es geht um die Besprechung ihrer Projektarbeiten. Die Neunt- und Zehntklässler hatten Vorträge zum Thema "Konflikte" erarbeitet, auf Englisch gehalten und später auf Deutsch niedergeschrieben; nun bespricht Torsten Ruchhöft mit ihnen die Noten. "Das war ein bisschen sehr faktenlastig", sagt er zu einer Arbeit über Tierforschung, "Du hättest mutiger sein können mit Deiner eigenen Meinung." Es ist "Feierabend". Freitagmittag, nach dem Essen, kommen die Stammgruppen, wie die Klassen in der Schule heißen, zusammen und lassen die Woche Revue passieren. "Das Projekt ›Konflikte‹ war schwierig", sagt Jasmeen, "es gibt so viele Meinungen zu einem Thema."

In der Gruppe "Picasso" geht es um einen anderen Konflikt. Lehrer Göran Stehr will ein Thema vom heutigen Morgenkreis aufgreifen. Da sprachen sie über Migranten in der Stadt. Ein Schüler hatte gesagt: "Die benehmen sich am Strand wie Penner." Und: "Wir zahlen für die Steuern." "Die füllen ihre Kinder mit Alkohol ab." Lehrer Stehr hatte nachgebohrt: "Und wenn ich meinem Kind Alkohol geben würde, wäre das genauso schlimm? Würdet Ihr genauso darüber reden?"

Lehrer Stehr wirft nun über einen Beamer einen YouTube-Film an die Wand, es geht um Fremdenfeindlichkeit in den verschiedenen Bundesländern. Er fragt: "Warum gibt es davon mehr in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern als in Berlin, wo doch viel mehr Migranten leben?" Benny hebt den Arm. "Weil die Berliner sich daran gewöhnt haben? Da gibt es ja ganze Türkenviertel.“ Die Schüler stutzen. Warum hat man Angst vor etwas, das man nicht kennt - und keine, wenn man es kennt? Für heute gehen sie auseinander. Und Montag sehen sie sich wieder, beim gemeinsamen Lernen.