Porträt

Als unser Sohn in der vierten Klasse von seiner Lehrerin die Empfehlung fürs Gymnasium bekam, haben wir uns für ihn gefreut. Und uns auf die Suche nach einer guten Schule gemacht. Er ist gut im Rechnen, hat Spaß an Experimenten. Also schauten wir gemeinsam mit ihm ein Hamburger Gymnasium an, das ein besonderes Profil in Mathematik und Naturwissenschaften hat. Am Tag der offenen Tür herrschte großes Gedränge. Plätze an der Schule sind begehrt. Im Chemie- Raum stand ein jugendlicher Lehrer mit Dreitagebart und Schutzbrille am Pult und fackelte Fünf-Euro-Scheine ab. Aber das Geld verbrannte nicht. Wir staunten, was man in Chemie alles machen kann. Ältere Schüler schüttelten vor der Nase unseres Sohnes ein Reagenzglas hin und her, bis sich die Silbernitratlösung als silberner Bezug am Glas abgesetzt hatte. Das Röhrchen durfte er mit nach Hause nehmen.

Wir schauten noch weitere Gymnasien in Hamburg an, und wir besuchten an deren Tag der offenen Tür die Klosterschule. Wir wussten: Diese Schule hatte sich beim Deutschen Schulpreis beworben - dem Prüfsiegel für gute Schulen. Entsprechend neugierig waren wir.

Wir liefen die Flure entlang durch das alte Gebäude auf der Suche nach den Fachräumen für Bio, Physik und Chemie. Und kamen an Räumen für Kunst und Film vorbei - die Schule trägt seit 2008 den Titel "Kulturschule". Bei der Filmwerkstatt meinte unser Zehnjähriger: "Cool, dass man hier so etwas machen kann."

Überall standen die Türen weit offen. Im Physikraum waren schon ein paar Kinder. An den Wänden standen Tische mit Aufbauten für Experimente, Kugelbahnen, die Kraft der Masse, nichts Großes. Aber mein Sohn blieb stehen und fing an, etwas zu probieren. Mehrere Kinder gesellten sich dazu. Irgendwann löste sich ein junger Mann von der Wand und trat auf sie zu: der Physiklehrer. Er stellte sich neben die Kinder, er wollte wissen, wie sie heißen, wofür sie sich interessieren. Diese Szene spiegelt für mich den Geist der Klosterschule wider: Die Schüler stehen im Mittelpunkt und handeln selbst, wann immer sie können, und die Lehrer sind ganz nah an ihnen dran.

Nach dem Besuch verkündete unser Sohn, er wolle auf die Klosterschule gehen. Zu unserer Überraschung ist er nicht nur an Mathe und Naturwissenschaften interessiert, sondern spielt sehr gern Theater. Das Fach ist fester Bestandteil in seinem Stundenplan. Den Schulpreis hat die Klosterschule im Jahr 2012 nicht bekommen, sie wurde aber nominiert. Danach zogen sich Lehrer und Schulleitung nicht etwa beleidigt zurück, sondern setzten sich mit Anregungen und Kritik auseinander. "Die Rückmeldungen der Jury zu unserem Unterricht haben uns nachdenklich gemacht und uns weitere Impulse für unsere Entwicklung gegeben", sagt Ruben Herzberg, seit 21 Jahren Leiter der Klosterschule. Die Lehrer haben sich einiges bei anderen Schulen abgeguckt: die Arbeit in Jahrgangsteams bei der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, Anregungen für das pädagogische Konzept holten sie sich unter anderem an der Offenen Schule Kassel-Waldau. Auch die Einstellung der Gymnasiallehrer ist etwas Besonderes: "Kollegen, die an unserer Schule arbeiten wollen, müssen wissen, dass sie in erster Linie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unterrichten - und dann Fächer", sagt Schulleiter Herzberg, 63. "Wir sind ein Gymnasium, und am Ende machen all unsere Schüler das Zentralabitur, aber die individuellen Bedürfnisse der Mädchen und Jungen stehen für uns im Mittelpunkt."

Die Fürsorge beginnt bereits vor der Einschulung in der fünften Klasse: Mit jedem Kind und seinen Eltern führen Lehrer ein 20 bis 30 Minuten langes Gespräch. Die Schüler werden gebeten, etwas Persönliches mitzubringen. Unser Sohn hatte bei seinem Aufnahmegespräch auch ein Foto seiner Fußballmannschaft dabei und unterhielt sich mit der Mittelstufenkoordinatorin Meike Ludzay über seinen Sport.

Bei Schülern, die nicht die Voraussetzungen fürs Gymnasium mitbringen, berät Schulleiter Herzberg mit den Eltern, welche Schule passen könnte - und telefoniert mit Kollegen, um den Kindern zu einem Platz zu verhelfen. Die Klosterschule liegt mitten in der Hansestadt am Berliner Tor, nicht die beste Gegend, das Einzugsgebiet ist groß. Viele der 930 Schüler kommen aus bildungsorientierten Elternhäusern, andere aus schwierigen Verhältnissen. Über ein Drittel hat ausländische Wurzeln. An dem Gymnasium lernen auch über 50 junge Menschen, die in psychologischer Behandlung sind. Schulleiter Herzberg will darum "kein großes Tamtam machen", wie er sagt. "Darunter sind einige besonders begabte Schüler, die bei uns erfolgreich ihr Abitur machen." "Der Klosterschule gelingt eine Entkoppelung von Leistung und Herkunft", lobt die Schulpreis-Jury. Das sei "beispielgebend". Besondere Begabungen werden gefördert; wer Schwierigkeiten hat, bekommt einen älteren Schüler als Lerncoach an die Seite, der mit ihm Lernstrategien entwickelt. Die Leistungsrückmeldungen sind ausführlicher als an anderen Gymnasien, zum Halbjahr führen die Lehrer ein detailliertes Lern- und Entwicklungsgespräch mit Schülern und Eltern. Kurz nach Ostern konnte man auf den Fluren der Klosterschule beobachten, wie Lehrer und Schüler an kleinen Tischen saßen - sie diskutierten ihre Noten. "Das motiviert", sagt die 15-jährige Erge aus der 9b. Ihre Klassenlehrerin Anke Ott, 32, erklärt: "Die Schüler sollen lernen, ihre Leistungen selbst einzuschätzen. Und wenn ich ihnen jetzt sage, woran sie arbeiten können, bringt das mehr, als am Ende des Schuljahres eine Note zu geben."

"Unsere Schule ist besonders", sagt Erge. "Von anderen Schülern höre ich, dass sie die ganze Zeit rumsitzen und auf die Tafel starren. Das gibt es bei uns nicht." Der Unterricht findet immer in Doppelstunden statt und dauert bis 16 Uhr. Mittags haben die Schüler 80 Minuten Pause. Sie können in der "Oase" etwas essen, auf dem Hof Fußball spielen, Kurse wie "Mangas zeichnen", "Trommeln" oder "südamerikanische Tänze" besuchen oder sich im Bewegungsraum austoben. Sie können sich aber auch in den Mädchen- oder Jungenraum zurückziehen. Doch Schulleiter Herzberg ist besorgt, ob er die Standards an seiner Schule halten kann, denn sein Budget für den Ganztag wurde mehrfach gekürzt. "Ganztag braucht mehr Mittel als ein normales G8-Gymnasium." Und gute Schule geht nur im gebundenen Ganztag, davon ist er überzeugt. Hausaufgaben sind an der Klosterschule weitgehend abgeschafft. "Denn Hausaufgaben sind ein Mittel zur Segregation und sozial ungerecht", sagt Herzberg. "Gebildete Eltern können helfen, Mütter und Väter mit Sprachschwierigkeiten nicht." Übungen in den Hauptfächern Mathe, Deutsch und Englisch machen die Schüler deshalb während der sogenannten "Studienzeiten".

Studienzeit in der 9c: Einige Schüler lesen einen englischen Text, andere berechnen Oberflächen. Manche der Teenager haben Kopfhörer im Ohr, sie hören Musik. "Das haben sich die Schüler gewünscht, wir haben lange diskutiert", sagt Dennis Becker, 32, Klassenlehrer der 9c. "Ich war dagegen, ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie so besser arbeiten können", sagt er. "Aber sie haben mich überzeugt: Die Leistungen sind gestiegen, und es ist ruhiger." Die Klosterschule hat ihre Hausaufgaben gemacht und den Unterricht systematisch verbessert, sie geht konstruktiv mit der Vielfalt ihrer Schüler um und arbeitet an einer Feedback-Kultur bei der Beurteilung von Leistung. Deshalb bekommt sie nun den Deutschen Schulpreis verliehen. Als Mutter ist es ein gutes Gefühl, dass sich nicht nur unser Sohn und inzwischen auch unsere Tochter an dieser Schule wohlfühlen, sondern dass auch die Jury ihr ein exzellentes Zeugnis ausstellt. Die beste Schule ist schließlich gerade gut genug für unsere Kinder.