Porträt

Außer einem langen Vorstrafenregister hatte Niko* wenig, bevor er auf die Don Bosco- Schule in Würzburg wechselte. Keinen Abschluss, keine Perspektive, keine Idee, nicht mal einen Traum davon, was aus ihm werden soll. Wie auch, wenn sich sofort jede Tür schloss, sobald er seine Akte zeigen musste? Mehrere Schulen hatten ihn abgelehnt, ein Verfahren wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung lief noch, Niko stand mit einem Bein im Gefängnis - und das mit 16 Jahren.

Niko ist einer der Jugendlichen, die am Ende in der Statistik auftauchen als einer von mehr als 46.000 Schülern, die jedes Jahr ohne Hauptschulabschluss aus dem Bildungssystem ausgespuckt werden.

Bevor es so weit kommt, hilft in Würzburg die Don Bosco-Schule. 1.450 Schüler betreut sie insgesamt, 600 davon besuchen dort die Berufsschule. Viele der Schüler, die meisten zwischen 17 und 25 Jahren, "befinden sich in schwierigen Lebenslagen", sagt Schulleiter Dr. Harald Ebert. Einige leiden an psychischen Krankheiten, andere sind junge alleinerziehende Mütter oder Flüchtlinge aus einem Bürgerkriegsland. Manche wurden in ihren bisherigen Schulen gemobbt, von Lehrern rücksichtslos behandelt. "Die möchten wir erst mal wieder motivieren, ihr Selbstvertrauen mit kleinen Erfolgen stärken." Hinzu kommt ein heterogenes Bildungsniveau: In manchen Klassen sitzen Zuwanderer mit mangelnden Deutschkenntnissen neben depressiven Studienabbrechern oder Abiturienten, die den Familienbetrieb nach ihrer Ausbildung übernehmen möchten. Die Schülerschaft hat sich gewandelt. Noch vor 15 Jahren besuchten vor allem Schüler mit einer klassischen Lernbehinderung, aber gutem handwerklichen Geschick die Don Bosco-Schule. Heute sitzen immer mehr Jugendliche in den Klassenzimmern, die bereits psychiatrisch behandelt werden. Zudem werden in wenigen Jahren 30 bis 40 Prozent der Schüler aus Zuwandererfamilien stammen, schätzt Ebert. Damit wandelten sich auch die Bedürfnisse und Herausforderungen, und der Schulleiter begriff, dass sich auch seine Schule verändern musste: "Schule muss dem Schüler folgen, nicht der Schüler der Schule."

In der Ausbildung scheitern inzwischen viele Schüler mit Sprachproblemen an der beruflichen Theorie. Sie können Erklärungen nicht verstehen, Begriffe nicht zuordnen. Deshalb findet der Unterricht an der Don Bosco-Schule bei Bedarf in einer vereinfachten Sprache statt. "Ich kann einem Tischler mit handwerklichem Talent doch nicht seinen Beruf verweigern, weil er mir über seine Arbeit keinen Aufsatz schreiben kann", sagt Ebert.

Schwierigkeiten gibt es allerdings noch beim Schritt von der Schule ins Berufsleben. Denn die Vorschriften der Handwerkskammern nehmen bislang zu wenig Rücksicht auf Sprachbarrieren oder kognitive Einschränkungen. Ebert spricht deshalb mit Mitarbeitern der örtlichen Kammern und auch mit Politikern und entdeckt bei ihnen die Bereitschaft, die Standards anzupassen.

"Wir erzeugen im Bildungssystem oft unnötige Barrieren, die Auszubildende behindern", sagt Ebert. "Wir müssen nicht die Auszubildenden in Frage stellen, sondern unser System. Denn am Ende kommt es darauf an: Was muss man im späteren Berufsleben wirklich beherrschen?"

"Wir verstehen uns als Ombudsstelle", sagt Ebert. Er will Lobbyist sein für die Minderheiten, mit denen er tagtäglich arbeitet. Viele wüssten nicht, was ihre Rechte sind, welche Fördermöglichkeiten ihnen zustehen und schon gar nicht, wie sie diese in Anspruch nehmen könnten. Deshalb betreut das Don Bosco Beratungszentrum neben den Berufsschülern noch weitere 850 junge Leute, die nicht die eigene Schule besuchen. Sozialarbeiter helfen bei Behördengängen, füllen mit ihren Schützlingen Antragsformulare aus, leisten Berufs- und Lebensberatung. Integriert ist auch ein Projekt für Schulverweigerer. Lehrer kümmern sich um Jugendliche, die während des Unterrichts am Bahnhof herumsitzen, und versuchen, die Schulschwänzer fürs Lernen zu begeistern. Studenten der Würzburger Hochschulen geben Einzelunterricht, organisieren Ausflüge, proben mit den Jugendlichen Tanz- oder Theateraufführungen und kochen gemeinsam. Durch diese individuelle Betreuung schaffen zwei Drittel den Sprung zurück ins reguläre Bildungssystem.

300.000 Euro an Fremdmitteln treibt Ebert jedes Jahr ein, um seinen Schülern neben Plan A auch Plan B zu bieten. "Wir sind eine kirchliche private Schule", sagt Ebert.

"Das bedeutet nicht, dass wir die Religion vor uns hertragen, sondern vor allem, dass wir unsere Werte auch wirklich leben. Wir sind eine Solidargemeinschaft und kämpfen um jeden Einzelnen." In der angrenzenden Justizvollzugsanstalt werden junge Häftlinge unterrichtet. Zusätzlich investierte die Kirche im vergangenen Jahr 70.000 Euro, um Flüchtlingen nicht nur in der Don Bosco- Schule, sondern auch im nahe gelegenen Flüchtlingsheim Deutschkurse geben zu können. Sinan* lernt gerade mit Migranten aus der Ukraine, Afghanistan und Serbien, nach dem Weg zu fragen. Vor einem Jahr floh er aus Syrien vor dem Krieg. Sinan und seine Frau wollten eine Familie gründen, aber in Syrien sahen sie keine Zukunft. Jetzt sitzt seine Frau Rana* im Raum nebenan, lernt Vokabeln und sieht ab und zu in den Kinderwagen neben ihr. In manchen Klassen gibt es eine Art Gleitzeit, damit die Mütter ihre Kinder noch in die Kita bringen können. "Wir sind froh, dass wir hier lernen können", sagt Sinan. "Wir wollen doch irgendwann arbeiten, ein Leben haben, nicht nur im Heim warten."

Das ist ein Vorteil in der bayerischen Bildungspolitik: Hier sind alle Flüchtlinge, unabhängig von ihrem Status, bis zu einem Alter von 21 Jahren berufsschulpflichtig. Sinan ist bereits 25 Jahre alt, "aber wir versuchen, unsere Kapazitäten auszuweiten, damit noch mehr Flüchtlinge Deutsch lernen können und vielleicht irgendwann mal einen Berufs- oder Schulabschluss hier machen können", sagt Schulleiter Ebert. Ist die Belastung bei diesem Einsatz für die Lehrer nicht zu hoch? "Ich habe den Eindruck, dass sich viele Kollegen gerne stärker engagieren, wenn sie dafür mit dem Gefühl nach Hause gehen, etwas bewirkt zu haben", entgegnet Ebert. Das bestätigt auch seine Kollegin Ulrike Sendelbach, die im berufsvorbereitenden Jahr tätig ist. "Wir gehen davon aus, dass jeder Schüler auf seine Weise leistungsfähig ist. Wir müssen nur herausfinden, in welchem Bereich." Deshalb stellt sie stark individualisierte Lehrpläne zusammen. Manche brauchen viele Praktika, weil sie noch nicht sicher sind, welches Berufsfeld für sie interessant sein könnte. Andere benötigen mehr Lehrstoff, weil sie ihren Hauptschulabschluss schaffen müssen. Diese Schule verbindet eine Vielfalt von Schicksalen, Kulturen, Lebenswegen. Und ein gemeinsames Ziel: den Schritt in den Arbeitsmarkt zu schaffen.

Niko hat diesen Schritt fast geschafft, in einigen Wochen macht er seinen Abschluss als Bäcker. Dafür hat er sich die vergangenen drei Jahre reingehängt, sogar das Verfahren wurde eingestellt, weil er so fleißig an seiner Zukunft abseits der Kriminalität arbeitet. "Die Lehrer haben nicht in meine Akte geschaut", sagt er. "Ich habe hier eine neue Chance bekommen. Meine letzte, und ich habe sie wahrgenommen."

* Namen geändert