Porträt
Zeus trägt einen grauen Pulli, Jeans und Turnschuhe, selbstbewusst steht er auf dem Schulhof der Gesamtschule Barmen in Wuppertal. Lorena, 11, bittet ihn um eine gute Ernte. Der Göttervater ist schließlich auch zuständig für das Wetter. Zeus fordert als Gegenleistung zwei Kühe. "Na gut", sagt Lorena, blond, Hörgeräte am Bügel ihrer Brille. Sie überreicht ihm die beiden Kühe, gespielt von Lilli und Sabrina. Die beiden Mädchen kriechen über den Boden. "Jetzt wird die Ernte gut", seufzt Lorena erleichtert. Die Schüler der 5f applaudieren. Die Fünftklässler nehmen im Fach Gesellschaftslehre (eine Kombination aus Erdkunde, Geschichte und Sozialkunde) gerade die griechische Mythologie durch. Bei schönem Wetter haben sie den Unterricht nach draußen an den Schulteich verlegt, sie beschäftigen sich mit einem Arbeitsbogen: "Viele Götter für alle Fälle". In kleinen Gruppen entwickeln sie Rollenspiele und tragen sie vor.
"Jetzt bitte Euer Feedback", sagt Klassenlehrerin Jennifer Brekeller. "Ich fand Eure Idee zu Zeus gut, das war witzig", sagt eine Mitschülerin. "Ich fand es auch richtig gut, weil Ihr gute Gesten hattet", ergänzt ein anderer. Leon, der Zeus gespielt hat, und die drei Mädchen setzen sich. Dann tritt Poseidon, alias Aliyah, in die Mitte. Ihre Mitschülerin Melissa möchte eine Bootsfahrt machen und bittet den Meeresgott um ruhige See, "damit mir nichts passiert". Die Kinder sprechen in ein Mikrofon, das sie um den Hals tragen, denn zwei ihrer Mitschüler haben starke Einschränkungen beim Hören. Ganz selbstverständlich reichen sie das Mikro hin und her. Auf den ersten Blick ist in der Schar der Fünftklässler nicht zu erkennen, welches Kind besonderen Förderbedarf hat und welches nicht. Die 5f ist eine Inklusionsklasse. Zwei weitere Kinder sind in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung beeinträchtigt.
An der Gesamtschule Barmen werden Kinder mit Handicaps nicht separiert, sondern der Anspruch ist, dass alle Schüler gemeinsam lernen. Das Gebäude für die 1.361 Schüler und ihre 121 Lehrer ist ein Traum: roter Klinker mit viel hellem Holz und einem Glasdach. Drinnen wachsen Palmen und Farne – wie in einem Gewächshaus. Obwohl den ganzen Tag Kinder und Jugendliche den langen, mit Parkett belegten Mittelgang auf und ab laufen, Mädchen und Jungen auf Stufen hocken, reden, diskutieren und arbeiten, wird es nie richtig laut. Die Pflanzen schlucken die Geräusche und sorgen für eine entspannte Atmosphäre. Die Kinder und Jugendlichen gehen rücksichtsvoll mit ihrer Schule um. Trotz seiner 15 Jahre wirkt das Schulgebäude neu, modern und sauber: Es liegt kaum Müll herum, es gibt keine Kritzeleien oder Zerstörung. Daniel, 13, aus der 8c lobt die Pflanzen, und seine Klassenkameradin Jessi, 14, schwärmt davon, wie sich die Schule an manchen Tagen im Wasser des Schulteichs spiegelt. "Das gibt es nicht an vielen Schulen." Ihre Mitschüler nicken. Schüler und Lehrer fühlen sich offensichtlich wohl hier. Der Raum als "dritter Pädagoge" – in Wuppertal wird spürbar, wie wohltuend sich gelungene Architektur auf Unterricht, Lernen und das Miteinander auswirkt.
Die Gesamtschule Barmen ist eine Insel mitten in einem sozialen Brennpunkt. Der Strukturwandel hat Wuppertal hart getroffen. Früher war hier Textilindustrie angesiedelt, heute verschärft sich die soziale Ungleichheit: Oben leben die Gewinner, unten im Tal an der Wupper die Verlierer. Wuppertal gehört zu den höchstverschuldeten Städten Deutschlands. 2014 lebte fast jedes dritte Kind von Hartz IV. "Für einige Schüler ist die Schule ein schönerer Ort als ihr Zuhause. Sie freuen sich, wenn sie nach den Ferien wieder zu uns kommen dürfen", sagt die Schulleiterin Bettina Kubanek-Meis, 56. Etwas mehr als die Hälfte ihrer Schüler wächst mit nur einem Elternteil auf, ein Drittel hat einen Migrationshintergrund. In den fünften Klassen hat schon fast die Hälfte aller Kinder ausländische Wurzeln. Die Begabungen der Kinder sind sehr unterschiedlich. Doch den Lehrern gelingt es, ihre Schüler zu besseren Leistungen zu führen als von der Grundschule am Ende der vierten Klasse prognostiziert: Rund 60 Prozent der Jugendlichen wechseln in die Oberstufe, obwohl nur 17 Prozent der Schüler mit einer Gymnasialempfehlung gestartet waren. Bei landesweiten Tests erzielen die Schüler in der Regel nicht nur bessere Ergebnisse als Klassenkameraden an anderen Gesamtschulen, sie liegen oft auch über dem Landesdurchschnitt. Seit Jahren hat kein Schüler mehr die Schule ohne Abschluss verlassen. So etwas spricht sich herum: Die Schule ist so beliebt, dass jedes Jahr die Zahl der Anmeldungen die Zahl der Plätze bei weitem übersteigt. Neulich habe sogar eine Mutter angerufen, deren Kind gerade erst in den Kindergarten gekommen sei, sie wollte es bereits jetzt anmelden, erzählt Ralph Bühn. Der 50-jährige Ingenieur ist Mitglied der Elternpflegschaft der Schule. "Die Lehrer sind super engagiert, ein tolles Team! Unsere Kinder, wir alle fühlen uns sehr wohl", sagt er. An der Gesamtschule gibt es viele Regeln. Manche wirken zunächst befremdlich und scheinen nicht zu einer modernen Schule zu passen. So wie die Kleiderordnung, die auf Wunsch der Schüler verfasst wurde. "Die Kinder fordern Regeln von uns, sie brauchen einen Rahmen, damit sie sich sicher fühlen", sagt Schulleiterin Kubanek-Meis. Die Regeln werden nicht einfach von oben erlassen, sondern in Absprache mit Schülern und Eltern getroffen. Sie sind Ausdruck von Fürsorge und Wertschätzung.
So trägt kein Schüler Shirts mit rassistischen und antidemokratischen Sprüchen oder Aufschriften, die sie selbst oder andere verhöhnen. "Wir wünschen uns eine Kleidung, die deutlich macht, dass Schule ein öffentlicher Arbeits- und Lebensraum ist, in dem wir uns mit Achtung und Respekt begegnen", heißt es in der Kleiderordnung. Auch das Handyverbot wird ohne großes Murren respektiert. Telefone und Smartphones dürfen nur benutzt werden, wenn der Lehrer es im Unterricht erlaubt. "Neulich haben wir die Handys in Mathe benutzt", erzählt Achtklässler Daniel. "Wir sind rausgegangen, haben eine Umfrage zu Cannabis gemacht und dann die Ergebnisse als Statistik ausgewertet. Das war gut." Das Klima an der Schule hat die Mitglieder der Schulpreis-Jury bei ihrem Besuch im Januar beeindruckt. "Ich habe selten eine Schule erlebt, an der Schüler, Lehrer und Eltern so respektvoll und wertschätzend miteinander umgehen", lobt Erziehungswissenschaftler Professor Michael Schratz von der Universität Innsbruck, Sprecher der zwölfköpfigen Jury. "Andere Schulen können von der Gesamtschule Barmen lernen, wie Partizipation und Teilhabe in exzellenter Weise gelebt werden."
Vor neun Jahren begann an der Gesamtschule eine "neue Zeit": Die Lehrer stellten ihren Unterricht um. "Seitdem hetzen wir nicht mehr so durch den Tag, die Zahl der Unterrichtsstunden hat sich reduziert, das Lernen ist nachhaltiger", sagt die Schulleiterin. Die Schüler haben fünf Lerneinheiten à 65 Minuten pro Tag und eine lange Mittagspause von 70 Minuten. Täglich gibt es bis zu zwölf Angebote im Ganztag mit Unterstützung von Eltern und außerschulischen Partnern. Die Schüler können Steppen lernen, in der Video-AG arbeiten oder sich zum Schmökern in die Bibliothek zurückziehen. Der Unterricht ist vielfach lehrergesteuert, wird aber nicht vom Pädagogen dominiert, er tritt viel mehr als Berater und Begleiter auf. Die Lernarrangements sind sehr fein auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler abgestimmt. "Die Lehrer sind wie Resonanzkörper", hat Erziehungswissenschaftler Schratz beobachtet. "Sie spüren, was ihre Schüler brauchen. In ihrem Unterricht fordern sie die Kinder und Jugendlichen heraus, sie führen sie gezielt an ihre Leistungsgrenzen – und darüber hinaus." Dazu setzen sie verschiedene Methoden des individuellen Lernens ein: Wochenplan- und Portfolioarbeit, Präsentationen, Partner- und Gruppenarbeit. Chemie in der 8e: Die Schüler arbeiten in Gruppen zu heterogenen und homogenen Stoffgemischen, starke und schwache Schüler zusammen. Einige der Teenager albern mit den Schutzbrillen herum. Funktioniert es, wenn Haupt-, Real- und Förderschüler zusammen mit Gymnasiasten lernen? Marie, 14, versteht die Frage gar nicht. "Wieso nicht? Das klappt gut. Nicht jeder kann alles, aber wir helfen uns." Sie möchte Abi machen. Timo, der ihr gegenübersitzt, träumt davon, Mechaniker zu werden. "Jeder ist unterschiedlich gut: Der eine kann dies, der andere das." Die Lehrer arbeiten in Jahrgangsteams, entwickeln gemeinsam Projekte, Klassenarbeiten, Tests – eine komplette "Unterrichtspartitur" für alle Fächer. "Das Team ist hilfsbereit und aufgeschlossen, dafür bin ich als Anfängerin sehr dankbar", sagt Jennifer Brekeller, die junge Klassenlehrerin der 5f. An anderen Schulen gehe es im Kollegium ganz anders zu.
Hausaufgaben gibt es an der Gesamtschule Barmen nicht, die meisten werden während der Schulzeit erledigt. Arbeitsstunde in der 5f: Die Elfjährigen wählen selbständig zwischen Aufgaben in Mathe, Deutsch und Englisch. Brauchen sie Hilfe, können sie sich an die Mitschüler, an die beiden Klassenlehrer Jan-Michael Platz und Jennifer Brekeller oder an ihre Paten aus der zehnten Klasse, Franziska, Lisa, Fabienne und Martin, wenden. Als Fabienne mit blaugefärbten Haaren das Klassenzimmer betritt, hängt sofort eine Traube von Kindern an ihr, alle wollen von der 16-Jährigen in den Arm genommen werden. Robin, 11, bekommt leuchtende Augen, wenn er von ihr spricht.
"Es fällt viel leichter, einen Schüler zu fragen als einen Lehrer. Fabienne hilft mir in Mathe und Deutsch." Die Paten melden sich freiwillig und werden ein halbes Jahr lang auf ihre Aufgabe vorbereitet, sie machen beispielsweise eine Ausbildung zum Streitschlichter. "Uns macht es Spaß, mit den Kindern zu arbeiten, ihnen etwas mitzugeben", sagt Franziska, 16. Sie begleiten ihre Patenklasse bei Wandertagen, helfen bei Projekten und gehen mit ihnen auf Klassenreise. Zehntklässler Martin hat einige seiner Schützlinge sogar vorab in ihrer Grundschule besucht. An der Gesamtschule Barmen ist jeder Schüler für irgendetwas verantwortlich: sei es als Pate, Medienscout oder Schulsanitäter. Es gibt zahlreiche Ordnungsdienste. Die Schüler treten offen und selbstbewusst auf. "Ohne uns läuft hier nichts", sagen die Mitglieder der Schülervertretung. "SCHULe- MIT-WIR-KUNG" steht in großen Buchstaben auf den Fenstern des Gebäudes, das Leitmotiv zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben an der Schule. Für ihren Umgang mit Verantwortung bekommt die Gesamtschule von der Schulpreis-Jury deshalb sogar die absolute Höchstnote: eine Eins plus. Während die Schüler der 5f an ihren Aufgaben arbeiten, bitten die beiden Klassenlehrer Jan-Michael Platz, 30, und Jennifer Brekeller, 28, einzelne Kinder zu sich, um mit ihnen ihren Leistungsstand zu besprechen. Das passiert ganz nebenbei – diese Form des Feedbacks ist offenbar genauso selbstverständlich für die Kinder wie die Arbeit mit dem Logbuch. Lilli, eine zierliche, blonde Elfjährige, rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, vor ihr liegt der sogenannte "Förderbogen". "Wo siehst Du denn Deine Stärken?", fragt die Klassenlehrerin. "Weiß nicht", antwortet Lilli. "Was kannst Du denn besonders gut? Zuhören? Oder trösten?" "Gar nichts!" "Ach Quatsch, Lilli!" "Nö, weiß nich’, sagen Sie mal!" "Nein, Du zuerst. Mir fällt ganz viel bei Dir ein." "Ich bin sehr ordentlich." "Ja, siehst Du. Und Du bist sehr hilfsbereit, tröstest immer." Behutsam lenkt die Klassenlehrerin den Blick ihrer Schülerin auf ihre Stärken. Sie vereinbaren, dass Lilli sich mehr melden soll und sich ruhig mehr zutrauen kann. "Hast Du Angst vor Fehlern, ist das so?" – "Ja, manchmal." Bei den Zielen kreuzen sie im Lern- und Arbeitsverhalten den Punkt "Mut zum Ausprobieren, zum Fehlermachen" an. Fehler sind an der Gesamtschule ausdrücklich erwünscht – sonst lernt man schließlich nichts. Das hat nichts mit Kuschelpädagogik zu tun, im Gegenteil: Die Ansprüche an dieser Schule sind hoch. Besonders begabte Schüler können beim "Drehtürprojekt" im Fachunterricht an eigenen Projekten arbeiten, stunden- oder fachweise am Unterricht höherer Klassen teilnehmen.
Die Schüler können aus zahlreichen Angeboten zur Förderung frei wählen – und tun das auch. Freiwillig. Denn die Lernangebote klingen nicht nach lästigem Förderunterricht, sondern heißen zum Beispiel bei den Fünftklässlern "Fehlerteufel" (Rechtschreibung), "Fit im Rechnen", "Lerndetektive" (Lernstrategien) oder "Bewegung macht Spaß" (motorische Förderung). Ziel ist es, selbstgesteckte Ziele zu erreichen. Leistung bedeutet an der Gesamtschule Barmen weit mehr, als nur gute Noten und Abschlusszeugnisse zu bekommen oder Pokale zu gewinnen. In ihrer Bewerbung für den Deutschen Schulpreis schreiben die Pädagogen: "Leistung zeigt sich nach unserem Verständnis in vielen Bereichen menschlichen Lebens und Zusammenlebens, wo sich Schüler für ihre Mitschüler einsetzen, wo sie Verantwortung übernehmen, und zwar sowohl für sich selbst als auch für die anderen."
Bei der Schulentwicklung haben sich die Lehrer in den letzten Jahren vor allem auf drei Schwerpunkte konzentriert: Vielfalt leben, Verantwortung übernehmen und Medien kompetent nutzen. "Bei der Bewerbung für den Schulpreis haben wir gemerkt, wie wunderbar das zu den sechs Kriterien passt", sagt die didaktische Leiterin Dorothee Block. Die 62-Jährige hat die Schule mit aufgebaut. "Wir haben unseren Traum von Schule umgesetzt. Nach 20 Jahren Arbeit zu reflektieren, was wir alles machen – das hat uns gutgetan und die Schule nochmals vorangebracht." Als Mitarbeiter der Robert Bosch Stiftung kurz vor Ostern anriefen, um Eltern, Lehrer und Schüler zur Preisverleihung nach Berlin einzuladen, war die Stimmung an der Schule bereits ausgelassen – die Schulleiterin wurde gerade von den angehenden Abiturienten mit Konfetti beworfen. "Wir freuen uns über die Nominierung und sind unglaublich stolz", sagt Bettina Kubanek-Meis. "Aber die Auszeichnung ist für uns kein Lebensziel. Wir wollen vor allem gute Schule für diese Kinder machen."