Porträt

Max-Marius steht vor der Tafel, in der Hand einen alten Xylophonschlägel ohne Filzkugel. Der großgewachsene Zehnjährige mit der blonden Mähne schaut sich geduldig um. Nach kaum einer Minute eilen die Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge eins bis vier aus den drei miteinander verbundenen Klassenräumen herbei und bilden einen Kreis um Max-Marius, der heute als „Tagesmeister“ das Morgenritual leitet.

Er hebt den „Dirigentenstab“, dann läuft alles wie zigmal geprobt: „Guten Morgen!“, sagt der Tagesmeister. „Guten Morgen!“, antwortet die Gruppe im Chor, und die Kinder zählen durch: Knapp 50 Jungen und Mädchen stehen hier zusammen. Im Anschluss signalisiert jeder mit dem Daumen, wie es ihm geht – Daumen hoch: alles prima. Waagerecht: Geht so. Daumen nach unten: Könnte besser sein. Wer über seine Stimmung reden möchte, kann das jetzt tun. Nachdem Max-Marius die Tagesdienste verteilt hat, beginnt die Arbeit.

An diesem Vormittag bleiben die Türen zwischen den Räumen offen, die „Delfine“ sitzen an Tischinseln und bearbeiten allein oder in der Gruppe ihren Lernstoff. Die Erstklässlerin Ayda übt Addition, während der zwei Jahre ältere Julian Fragen zu einem Buch beantwortet. Zweitklässler Naufan hadert mit seiner Deutsch-Aufgabe. Deshalb fragt er Noah aus der Vierten, der heute als Helfer für die Jüngeren eingetragen ist. Eben noch hat Noah zweistellige Zahlen multipliziert; jetzt erklärt er Naufan, wie er das Problem lösen soll. Die Lehrerinnen Christin Kümmel und Nira Korb helfen ebenfalls, wenn nötig.

Ein ganz normaler Tag an der Römerstadtschule in Frankfurt-Heddernheim: An der staatlichen Grundschule unterrichten die Lehrer nicht mehr getrennt nach Jahrgängen, sondern in altersgemischten Lerngruppen mit je 50 Schülerinnen und Schülern. Statt Klasse 1a oder 4d gibt es Lernverbände von Erst- bis Viertklässlern mit Namen wie „Delfine“, „Uhus“ oder „Igel“. Nur manchmal, beispielsweise in Deutsch oder Mathe, werden Erst- und Zweitklässler separat von den Dritt- und Viertklässlern betreut. Doch normalerweise lernen und üben alle vier Jahrgänge zusammen, begleitet von einem vierköpfigen Team.

Dass an diesem Morgen nur zwei Lehrerinnen bei den „Delfinen“ sind, hat einen Grund. Die Sonderpädagogin, eine Integrationshelferin und zwei Schüler mit Förderbedarf, die ebenfalls zur Gruppe gehören, kochen heute für eine Schülergruppe – noch so ein Ritual. Es gibt Kartoffeln, Ei und „Frankfurter Grüne Soße“. Vom Kind mit sozialemotionalen Entwicklungsverzögerungen bis zum Rollstuhlfahrer: An der Römerstadtschule lernt man früh, dass nicht alle Menschen gleich sind. Wenn die Kinder Fangen spielen und Leo im Rollstuhl mitmachen möchte, dann krabbeln die anderen wie selbstverständlich auf allen vieren, damit auch Leo gewinnen kann. In jeder Lerngruppe benötigen zwei Schüler besondere Unterstützung.

„Wir wollen, dass die Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen“, sagt Heike Schley, seit 2001 Leiterin der Römerstadtschule. Keine leichte Aufgabe: Unter Befürwortern des „Gemeinsamen Unterrichts“ gilt die Schule, die seit 1986 Schüler mit Förderbedarf aufnimmt, zwar schon lange als wegweisend. Doch vor etwa zehn Jahren sahen sich Kritiker dieses Modells bestätigt. An der Schule, deren Einzugsgebiet von Migranten und sozial benachteiligten Familien geprägt ist, stieg die Zahl der Schüler mit sprachlichen Defiziten an. Eine Herausforderung, der die Schule kaum noch gerecht werden konnte. Der Plan, Stärkere und Schwächere gemeinsam zu unterrichten, schien gescheitert.

„Als dann auch noch die Anzahl der Sonderpädagogen reduziert wurde, war klar, dass es so nicht weitergehen kann“, sagt Heike Schley. Sie suchte eine Lösung. „Unserem Nordstern folgend“, fügt sie schmunzelnd hinzu – und meint damit die Vision von einer Gemeinschaft, in der die Unterschiede bereichernd sind anstatt, wie so oft, lähmend. Gemeinsam mit einem Team von Lehrern und Lehrerinnen besuchte sie „Inklusive Schulen“ in Berlin, Köln und Münster. Kaum zurück, beantragte sie jahrgangsübergreifenden Unterricht beim Hessischen Kultusministerium. „Das Konzept hat uns überzeugt “, sagt Heike Schley. Die Genehmigung kam schrittweise, und zwischen 2010 und 2012 wurden zunächst zwei Jahrgänge zusammengelegt, dann drei und schließlich alle vier. „Seither können wir unsere Schülerinnen und Schüler viel besser individuell fördern.“ Die Vorteile der „klassenlosen Gesellschaft“ zeigen sich schon bei banalen Dingen wie dem morgendlichen Begrüßungsritual: „Es kann ein Vierteljahr dauern, bis eine erste Klasse einen Kreis bilden kann“, weiß Heike Schley. „Da geht viel Zeit verloren.“ An ihrer Schule schauen sich die Jüngeren die täglichen Rituale einfach von den Älteren ab. Die wiederum wachsen an der eigenen Vorbildrolle. Durch vielfältige Aufgaben, vom Blumendienst bis zur Patenschaft, gewinnen die Schüler Selbstvertrauen und lernen, Verantwortung zu übernehmen.

Auch im Unterricht werden die Vorteile des Lernens über Altersgrenzen hinweg sichtbar. „Das Lerntempo war auch innerhalb der alten Klassenverbände sehr unterschiedlich“, sagt Heike Schley. Eine Aufgabe, die ein einzelner Lehrer kaum bewältigen kann. Denn entweder sind die Langsamen überfordert oder es langweilen sich die Schnellen. Jetzt seien die Gruppen zwar größer, doch ein eingespieltes Team aus vier Pädagogen, das die Stärken und Schwächen seiner Schüler kenne, könne spontan Gruppen bilden, die viel funktionaler sind als starre Klassenverbände. „Es gibt viel weniger Reibungsverluste“, so Schley. Und weil es längst zu einer guten Tradition an der Römerstadtschule geworden ist, ausgetretene Pfade zu verlassen, denkt die Einrichtung heute weit über den Rand des Schulhofs hinaus: Zahlreiche Angebote für Kinder oder Eltern, von Schulvorbereitung im Hort bis zum wöchentlichen Elterncafé, von Töpferkurs bis Toben auf dem Abenteuerspielplatz, haben die Schule zu einem gut vernetzten Ansprechpartner im Viertel gemacht. Natürlich läuft es nicht immer und überall rund: Welche Methoden für den jahrgangsübergreifenden Unterricht am geeignetsten sind, muss das Kollegium stets aufs Neue austesten. Einzel- oder Gruppenarbeit? Frontalunterricht oder Projektarbeit? Die Teams tauschen sich im Rahmen von wöchentlichen Konferenzen über ihre Erfahrungen aus, monatlich diskutiert die gesamte Lehrerschaft offen über Erfolge und Misserfolge. Eine Schulentwicklungsgruppe ermittelt den weiteren Kurs. Wie der künftig aussehen soll, steht noch nicht ganz fest, nur so viel: „Wir wollen die Schüler zu noch mehr eigenständigem Lernen ermutigen“, sagt Heike Schley. Detaillierte Arbeitspläne sollen den Schülerinnen und Schülern künftig helfen, ihre Lernschritte noch besser selbst zu planen und zu gestalten.