Porträt
Mein lieber Scholli!
Mit ihrer schmutzigen ockerfarbenen Nachkriegsfassade und ihrer vor 20 Jahren stehengebliebenen Zeigeruhr wirkt diese Schule wie aus der Zeit gefallen. Moos kriecht über den Rasen, selbst die Rotbuchen sind von blassgrünen Flechten überzogen – nichts deutet darauf hin, dass hier Vorreiterpädagogik gelebt wird.
Was das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Lüdenscheid so modern macht, zeigt die Klasse 5c im ersten Stock. „How can I help you“, fragt Ingo laut – er spielt im Englischunterricht einen Verkäufer. „Where can I try on this sweatshirt?“, fragt Semra. Währenddessen schnappt sich Jessica Aufgabenzettel B und denkt sich einen Geschäftsdialog aus, Malte neben ihr nimmt Zettel A, wo er den niedergeschriebenen Dialog nur mit einigen Worten vervollständigen muss. Und Chris schreibt eifrig mit, was Ingo sagt.
Klingt alles konventionell. Nur hat Chris eine Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Ingo stottert stark, während die anderen 31 Schüler geduldig lauschen; Semra zeigt gegenüber anderen wenig Respekt, Jessica gilt als hochbegabt, übersprang deshalb zwei Klassen, liest englischsprachige Bücher und lernt gleichzeitig Französisch sowie Latein. Malte ist ein sogenannter hochbegabter „Under-Achiever“, er nimmt sich den leichter zu lösenden Zettel A, weil er die vierte Klasse übersprungen hat und erst jetzt mit Englischlernen beginnt – willkommen in einer ganz normalen Klasse des Scholl-Gymnasiums, wo sich die Schüler gern mit „Mein lieber Scholli!“ begrüßen. Diese Schule schaut bei der Aufnahme von Schülern nicht auf die Noten. Sie ist prinzipiell offen für alle – besonders für jene, die woanders Probleme haben; sei es, weil sie Behinderungen haben, ADHS, psychische Probleme, seltene Krankheiten oder aus schwierigen Familienverhältnissen kommen. Inklusion wird hier nicht nur akzeptiert, sondern als Ansporn für besseres Lernen betrachtet: Die Leistungen der „Schollis“ liegen über dem Landesschnitt in NRW, es gibt kaum Sitzenbleiber. In den letzten zehn Jahren bestanden 711 von 713 Schülern das Abitur. Die Lernleistungen beeindrucken angesichts der Biographien umso mehr.
„Irgendwann dämmerte uns, wie heterogen unsere Schülerschaft ist“, erinnert sich Antje Malycha. Die Rektorin schaut gerade in den Unterricht der 5c hinein. „Darauf muss man eingehen.“ Das macht die Schule attraktiv für Hochbegabte und Schüler mit Handicaps, ein jeder von ihnen besucht das Gymnasium mit dem Ziel Abitur; Förder- oder Sonderpädagogen gibt es hier nicht. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der individuellen Förderung.
Am Ende der Englischstunde erhalten die Kinder der 5c eine Check-Liste für die nächste Klausur. Jeder Schüler trägt seinen Lernstand ein. Nicht nur der Unterricht ist für jeden anders – bis in den Nachmittag begleiten ihn Mitschüler und Lehrer als Lernpaten und Coaches. Jede Leistung erhält eine konkrete Rückmeldung. „Wir sieben nicht aus“, sagt Antje Malycha, „sondern diagnostizieren Schwächen und Stärken. Dann gehen wir gezielter vor.“ Antje Malycha strebt zu ihrem Büro, gleich hat sie einen Termin mit Nicole. Die 19-Jährige hat das Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus. Sie ist eine gute Schülerin, intelligent, hält es aber in Gruppen kaum aus. „Wir versuchen, mit ihr den Realschulabschluss hinzukriegen. Den Weg zum Abitur könnte sie dann auch online mit einer Fernschule beschreiten.“ Am Schreibtisch liest die Rektorin eine Mail von Nicole, die sich entschuldigt. Sie fühle sich heute nicht gut. „Gerade haben einige Lehrer mehr Kapazitäten, weil ihre Schüler momentan Abiturprüfungen haben“, sagt Antje Malycha. „Sie können Nicole Einzelunterricht geben.“ Die Schülerin legt selbst fest, wie viel Zeit sie für die Aufgaben braucht: zum Beispiel in Englisch zehn Unterrichtsstunden für eine Analyse des Krim-Konflikts, und weitere zehn für einige Sonette von Shakespeare.
Das Scholl-Gymnasium nahm zwischen 2002 und 2008 an einem Schulversuch zur Integration von Hochbegabten teil. Silvia Greiten, die die individuelle Förderung koordiniert, sagt es so: „Danach war uns klar: Wer Begabte fördern kann, kann auch Schüler mit Behinderungen fördern. Es geht um den Blick auf Kinder, das Erkennen ihrer Ressourcen. Und dann bemühen wir uns, ein Netzwerk an Unterstützungen für diese Potentiale zu knüpfen.“
Und es geht um Methodenvielfalt. Im Leistungskurs Biologie wagen sich die Schüler heute an DNA-Codes. Eine Gruppe untersucht die Geschichte des Hauses Baden – es geht um die Frage, ob das berühmte Findelkind Kaspar Hauser dazugehörte oder nicht. Eine andere Gruppe checkt, wie DNA-Stränge kopiert werden können. „Zuerst auf 90 Grad Celsius erhitzen, dann auf 60 Grad runterkühlen“, referiert Uwe. „So bilden sich die Einzelstränge.“ Schließlich werden die Gruppen gemeinsam Blutproben vergleichen, um das Kaspar-Hauser-Rätsel zu lösen.
Um Schüler konsequent zu begleiten, braucht man viel Personal. Das schafft sich die Schule selbst. Über 40 Prozent der Schüler sind ausgebildete Co-Lehrer. Sie assistieren in den großen Pausen beim Ballspiel in der Turnhalle, betreuen als Paten ganze Klassen oder helfen bei den Hausaufgaben, so wie Daniela: Die Siebtklässlerin geht nach der Mittagspause mit Anja einen Text durch. „Zu ‚flere‘ fällt mir eine Eselsbrücke ein“, sagt sie. „Das klingt wie flennen – also weinen.“ Sie möge Latein, sagt sie, und gebe das gern weiter. „Mir macht es Spaß, diese langen Sätze auseinanderzunehmen.“ Für den Job als Coach ließ sich Daniela ein halbes Jahr lang ausbilden, einmal pro Woche, siebte Stunde. Anja dagegen fällt Latein schwer, daher schlug ihr der Lateinlehrer eine Patenschaft vor – so wie Fatima aus der 5c gerade im zweiten Stock auf Vorschlag ihrer Lehrerin Stefanie Heinrich ein sogenanntes Lernplakat malt. Damit plant sie die nächsten Lernschritte zur Unterscheidung von s-Lauten und der ie-Schreibweisen. „Gut wäre, aus meinem Lieblingsbuch solche Sätze abzuschreiben“, schreibt Fatima auf. Stefanie Heinrich: „Das Plakat dient der Bewusstheitsschärfung.“ Um die Schüler scharen sich einige Unterstützer.
Am Nachmittag lichten sich die Flure. Petra kommt um die Ecke gebogen, sie holt Unterlagen ab für die Abiprüfung in drei Wochen. „Das wird mein Endspurt“, lächelt die 19-Jährige. Sie braucht mehr Zeit zum Lernen. Bei der Geburt erlitt sie eine Gehirnblutung, seitdem ist sie hüftabwärts gelähmt. Mehrere Grundschulen hätten sie damals nicht aufnehmen wollen, „obwohl sie rollstuhltauglich waren“. Die Schulbehörde wollte sie zur Sonderschule schicken, die Eltern widersprachen. Die Direktorin der Sonderschule erklärte: „In vier Jahren sehe ich Dich wieder. “ Petra musste schulpsychologische Tests bestehen, um auf eine Regelschule zu kommen. „Ich kriege eine Wut, wenn ich daran denke.“ Aber bei den Schollis wird ja alles kälter gegessen, als es gekocht wird. Noch in diesem Jahr wird Petra ihr Studium aufnehmen – in Sonderpädagogik. Das Geschwister-Scholl-Gymnasium wird sie vielleicht tatsächlich einmal wiedersehen. Als Lehrkraft.