Porträt

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Wenn Volker Stender-Mengel über seine Schule spricht, dann sieht man das Leuchten in seinen Augen: die Kinder und Jugendlichen, die hier lernen, das Kollegium, das täglich sein Bestes gibt, und all die vielen anderen Menschen machen die Deutsche Schule „Mariscal Braun“ in La Paz zu dem, was sie seiner Meinung nach ist: die schönste Schule Südamerikas. Volker Stender-Mengel ist seit fünf Jahren Leiter der Deutschen Schule in der Verwaltungshauptstadt von Bolivien. Doch sein Herz hat er hier schon vor fast 30 Jahren verloren. 1990 kommt er als junger Lehrer nach La Paz, direkt nach seinem Zweiten Staatsexamen. Zweieinhalb Jahre bleibt er, kehrt dann nach Deutschland zurück und arbeitet viele Jahre als Lehrer und Schulleiter in Hessen. Zwischenzeitlich sammelt er gemeinsam mit seiner Frau weitere Auslandserfahrungen in Portugal – und hat dabei die Zeit in Bolivien nie vergessen. „Es war immer ein Wunschtraum von uns, eines Tages hierhin zurückzukehren“, sagt der 60-Jährige. Als er dann entdeckt, dass die Position des Schulleiters in La Paz ausgeschrieben ist, sei das „wohl ein Wink des Schicksals“ gewesen.

Das Colegio Alemán „Mariscal Braun“, wie die Deutsche Schule in der Amtssprache Boliviens heißt, hat mit der Eichendorffschule, die Volker Stender-Mengel davor leitete, nur wenig gemein. An der Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe im hessischen Kelkheim lernen derzeit 1.200 Schülerinnen und Schüler – in La Paz sind es mit 1.100 Kindern und Jugendlichen nur etwas weniger. Doch anders als in Kelkheim beginnt hier das Angebot bereits mit dem Kindergarten für Jungen und Mädchen von dreieinhalb bis sechs Jahren.

Auf dem zwei Hektar großen grünen Campus in La Paz‘ größtem Wohnviertel, der Zona Sur, befinden sich außerdem eine Grundschule, eine Sekundarschule und eine Berufsschule. Schülerinnen und Schüler, die den deutschsprachigen Zweig der Schule besuchen, können nach zwölf Jahren das Abitur ablegen. Für die Schülerschaft des bolivianischen spanischsprachigen Zweigs bietet das Colegio Alemán das Bachillerato an, das spanische Äquivalent zum Abitur. Die Berufsschule bildet seit 1992 junge Menschen zu Industriekaufleuten und Kaufleuten im Groß- und Außenhandel aus. Das Besondere an der dualen Ausbildung: Sie ist dreisprachig.

Die Deutsche Schule in La Paz hat eine lange Tradition. 1923 – vor bald 100 Jahren – wurde sie als Realschule gegründet, und schon damals war sie für Kinder beider Nationalitäten gedacht. Heute sind rund 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler bolivianischer Herkunft. Benannt ist das Colegio Alemán nach einem Mann, der die deutsche und bolivianische Nation verband: Otto Philipp Braun, 1798 in Kassel geboren und Gefährte von Boliviens Nationalheld Simón Bolívar. Die Begegnung zwischen den beiden Kulturen ist nicht nur im Namen, sondern auch im Leitbild der Schule fest verankert. Gleich der erste Grundsatz spiegelt das bikulturelle Verständnis: „Die Deutsche Schule La Paz ist eine deutsch-bolivianische Schule, in der sich Menschen, Sprachen und Werte unterschiedlicher Kulturen gleichberechtigt begegnen. Sie fördert die Begegnung sowie den Austausch und pflegt in Weltoffenheit deutsche Sprache und Kultur.“ „Viviendo el encuentro“ heißt deshalb das Motto der Schule: „Begegnung leben“.

Auch Volker Stender-Mengel ist ein Mann der Begegnungen. Sein Arbeitstag beginnt morgens spätestens um 7:30 Uhr an der Schulpforte. „Ich nehme mir dann 20 Minuten Zeit, die Schülerinnen und Schüler persönlich zu begrüßen. Dabei ergibt sich manchmal auch ein kurzes Gespräch mit einzelnen Eltern“, sagt der Schulleiter und fügt hinzu: „Das Begrüßen der Kinder und Jugendlichen ist meine tägliche Freude. Dann spürt man, wofür man das alles macht.“ Außerdem versucht er, möglichst viele Pausen im Lehrerzimmer zu verbringen. „Ich warte nicht darauf, bis die Lehrkräfte zu mir kommen. Ich gehe lieber regelmäßig auf sie zu und suche den Austausch“, erklärt er. Für fünf Stunden pro Woche ist Volker Stender-Mengel selbst Lehrer, im Moment unterrichtet er in einer zehnten Klasse Deutsch. Zu seinem Arbeitsalltag gehören zudem Unterrichtshospitationen und viele, oft regelmäßig stattfindende Besprechungen. Denn kein Ziel könne er ohne sein Team erreichen, darauf legt er ausdrücklich Wert. Die Schulgemeinschaft arbeitet daran, die Deutsche Schule La Paz kontinuierlich besser zu machen.

Davon zeugen zum Beispiel die „KTs“. „KT“ ist die interne Abkürzung für „Kooperationsteam“. Das sind kleine Gruppen von meist vier Lehrerinnen und Lehrern, die sich für ein Jahr eines Themas annehmen, das zum Schulprogramm passt. „Ein Beispiel: Unser Ziel ist es, die Binnendifferenzierung weiterzuentwickeln. Dafür brauchen wir auch entsprechende Unterrichtsmaterialien. Ein KT kümmert sich zurzeit gezielt darum, passende Materialien zu konzipieren“, erklärt Volker Stender-Mengel. Auch wenn Volker Stender-Mengel Teamarbeit, Austausch und Kooperationen fördert, muss er einen Großteil seines Arbeitstages am Schreibtisch verbringen. „Ich habe viel bürokratische Arbeit, die meist direkt zurück in die Schule fließt. Wir sind keinem Schulamt verpflichtet“, erzählt er. Im Moment kümmere er sich zum Beispiel um einen FAQ – Antworten auf häufig gestellte Fragen – für die Schulwebsite. Das sei Schulentwicklung im weitesten Sinne. Gleich morgens erledigt er seine Korrespondenz, schreibt E-Mails und „telefoniert mit Deutschland“. Das sei die beste Zeit des Tages dafür. Denn wenn er sich um 8 Uhr an seinen Schreibtisch setzt, dann ist es in Deutschland schon 14 Uhr.

Insbesondere die Suche nach guten deutschsprachigen Lehrkräften nimmt viel Raum ein – der Lehrermangel in Deutschland ist auch in La Paz zu spüren. Mehr als 150 Anfragen an geeignete Kandidatinnen und Kandidaten gab es allein im vergangenen Jahr, in der Hoffnung, dass sich wenigstens eine Handvoll von ihnen für La Paz entscheidet. Die Bewerbungsgespräche führt Volker Stender-Mengel meist über Skype und nimmt sich hierfür viel Zeit. „Ich suche Lehrkräfte, die gern zu uns kommen. Ich möchte niemanden überreden.“ Von den 84 Lehrerinnen und Lehrern, die an der Deutschen Schule unterrichten, sind nur 25 aus Deutschland. Insgesamt versteht oder spricht fast die Hälfte des Kollegiums Deutsch. Wenn es nach Volker Stender-Mengel geht, könnten es ruhig noch mehr sein. Schließlich hat es sich die Schule zur Aufgabe gemacht, die deutsche Sprache und Kultur zu pflegen.

Doch trotz der herausfordernden Personalsituation gelingt es dem Colegio Alemán, das deutschsprachige Fundament der Schule kontinuierlich zu erweitern. Ab 2020 soll der deutsche Abiturzweig zweizügig werden. Und seit mehr als fünf Jahren setzt die Schule erfolgreich ihr Immersionskonzept um. Immersion bedeutet „eintauchen“ oder auch „Sprachbad“ und gilt als die beste Methode, eine Sprache zu lernen. Die Schule schafft dafür ein deutschsprachiges Umfeld – bis auf Sport und Spanisch findet der Unterricht in allen Fächern auf Deutsch statt.

In einem Jahr läuft Volker Stender-Mengels Vertrag als Schulleiter in La Paz aus. Er hat dann die Option, um zwei Jahre zu verlängern. Die Entscheidung hat er längst getroffen. Schließlich will er noch ein großes Projekt mit auf den Weg bringen. Für die Kinder, die jetzt mit der Immersionsmethode intensiv Deutsch lernen, soll es auch in der Sekundarstufe ein attraktives Angebot geben. Volker Stender-Mengel träumt davon, einen Deutsch- und einen Wissenschaftszweig aufzubauen, bislang gibt es solche Profile nicht. Und außerdem möchte er das Alumni-Netzwerk zum Vorteil der Schülerinnen und Schüler mehr pflegen. „Sie sollen es wissen, wenn es in Argentinien einen berühmten Arzt gibt, der hier zur Schule gegangen ist und bei dem sie ein Praktikum machen können“, erklärt Stender-Mengel. Die Absolventinnen und Absolventen sind über die ganze Welt verteilt. Nicht wenige von ihnen arbeiten später selbst an der Schule. „Eine meiner Schülerinnen von 1990 leitet heute unsere Verwaltung“, so Stender-Mengel. Die emotionale Verbundenheit ist hoch, auch 50 Jahre nach ihrem Schulabschluss nennen die Ehemaligen das Colegio Alemán „mi colegio”: meine Schule.

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Mit einer schnellen Bewegung seines Taktstocks bringt Stefan Ruppaner das Blasorchester zum Schweigen. „Ihr müsst das Solo aggressiver spielen“, sagt er und blickt dabei in Richtung der Schlagzeuger. Energisch klopft er mit dem Taktstock auf sein Notenpult und fordert: „Ruhe, bitte!“ Schlagartig hören die Bläserinnen und Bläser auf zu tuscheln und richten die Blicke wieder auf ihren Dirigenten. Stefan Ruppaner hebt seinen Taktstock, das Blasorchester setzt ein. Sie spielen „Old MacDonald had a farm“. Die jüngsten Musikerinnen und Musiker, die an diesem Dienstagmorgen im Keller des kleinen Rathauses von Wutöschingen proben, sind neun, die ältesten 13 Jahre alt. Die Jungen und Mädchen sind noch nicht lange dabei, sie haben erst vor wenigen Wochen oder Monaten angefangen Querflöte, Trompete oder Klarinette zu spielen. Sie besuchen die Alemannenschule, die gegenüber dem Rathaus liegt. Hier haben alle Schülerinnen und Schüler die Chance, ein Blasinstrument zu erlernen – rund 120 von knapp 640 Kindern nehmen das Angebot in Anspruch, die Besten schaffen es in das Schulorchester.

Stefan Ruppaner, der an diesem Morgen den Bläser-Nachwuchs dirigiert hat, ist Leiter der Alemannenschule Wutöschingen. Die Gemeinschaftsschule ist eine noch junge Schulform in Baden-Württemberg. Kern einer Gemeinschaftsschule ist das gemeinsame Lernen auf verschiedenen Niveaus von Klassenstufe fünf bis zehn, sie führt zum Haupt- und Realschulabschluss. Viele Gemeinschaftsschulen haben wie die Alemannenschule zudem eine Primarstufe. Die gymnasiale Oberstufe dagegen gibt es bislang nur an zwei von über 300 Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg, die Alemannenschule wird ab dem Schuljahr 2019/2020 die dritte im Bunde sein.

Draußen vor dem Rathaus trifft Stefan Ruppaner den Landwirt Florian Burkhard, dessen Bauernhof nur einen knappen Kilometer entfernt liegt. Der Schulleiter bleibt stehen und nimmt sich Zeit für einen kurzen Plausch. „120 Zicklein habe ich gerade. Die meisten Ziegen haben dieses Jahr Zwillinge bekommen“, erzählt der Bauer. „Das ist bestimmt eine ganz schöne Arbeit, oder?“, fragt Ruppaner. Florian Burkhard nickt. „Wär’ super, wenn du bald mal nach den Schulbienen gucken könntest“, sagt Ruppaner, und Burkhard nickt erneut. Die beiden Männer verabschieden sich mit einem Handschlag. Nur wenige Schritte liegen zwischen Rathaus und Schulgebäude. Ruppaner geht über den kleinen Schulhof, der wie ein Marktplatz wirkt – eine offene Fläche ganz ohne Zäune oder abgrenzende Hecken, gelegen in der Ortsmitte zwischen Kirche, Schule und Verwaltung. „Eine Absperrung brauchen wir nicht. Das ganze Dorf ist die Schule“, sagt der 60-Jährige. Wutöschingen ist eine kleine Ortschaft im südwestlichsten Zipfel Deutschlands, am Rande des Schwarzwaldes und nur wenige Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt. In der gleichnamigen Gemeinde, zu der noch vier weitere Ortschaften gehören, leben rund 6.600 Menschen. Das Aluminiumwerk prägt das Ortsbild von Wutöschingen, es ist der größte Arbeitgeber in der Region.

Wenn Stefan Ruppaner sagt, das ganze Dorf ist eine Schule, dann meint er das auch genau so. Die Alemannenschule ist eng mit der Gemeinde verzahnt. So eng, dass das Dorf zum Campus der Schule wird. Das beginnt damit, dass die Bläserinnen und Bläser morgens im Rathaus proben und nicht im Schulgebäude. Für die Gemeindebücherei hat die Schule einen Schlüssel, damit die Kinder auch außerhalb der Öffnungszeiten auf das Angebot zugreifen können. Und das Aluminiumwerk sowie der Landwirtschaftsbetrieb von Florian Burkhard sind zwei von vielen außerschulischen Lernorten, die als selbstverständliches Element zum Schulalltag gehören. Im „Lerndorf Wutöschingen“ ist die Alemannenschule das Zentrum, der Platz, an dem sich alle begegnen.

Von außen sieht sie aus wie eine gewöhnliche Schule: zwei Gebäudekomplexe, der eine älter, der andere moderner. Doch hinter der Fassade ist alles anders – in jeder Hinsicht. Lina, Vanessa, Anna und Sina sitzen mit ihren iPads auf froschgrünen Sofas. Alle Kinder der Alemannenschule haben ein eigenes Tablet. Die Lehnen der Sitzmöbel sind so hoch, dass die vier Mädchen ungestört sind und sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren können. Sie trainieren gemeinsam, wie sie Texte fetten oder kursiv setzen können, wie sie die Schriftgröße verändern und Aufzählungszeichen richtig verwenden. Doch auf Annas Bildschirm öffnet sich immer wieder ein Pop-up-Fenster, das sie am Weiterarbeiten hindert. Die Schülerin der fünften Jahrgangsstufe bittet Stefan Ruppaner um Hilfe. Der Schulleiter, der selbst ständig mit einem iPad unterwegs ist und seinen Arbeitstag damit organisiert, kann das Problem nicht sofort lösen. „Frag einen iPad-Assistenten“, rät er. iPad-Assistenten sind Schülerinnen oder Schüler, die besonders gut mit der Technik vertraut sind, regelmäßig Schulungen besuchen und anderen Kindern helfen, mit den Tablets zurechtzukommen.

„Bei uns kann sich jeder selbst aussuchen, was er können will“, erklärt Ruppaner. So gibt es zum Beispiel Schülerinnen und Schüler, die als Schulsanitäterinnen und -sanitäter arbeiten. Sie leisten im Notfall Erste Hilfe und informieren bei Bedarf den Rettungsdienst. Andere Kinder kümmern sich um das reibungslose Funktionieren des WLAN-Netzwerkes. Die Alemannenschule ist eine rundum digitale Schule. Eine eigene digitale Lernplattform ermöglicht es den Lehrkräften, die Schülerinnen und Schüler individuell beim Lernen zu begleiten. Eltern können das Tool nutzen, um den Lernfortschritt ihrer Kinder online zu verfolgen.

Neben den froschgrünen Sofas stehen zwei blaue Sofas. Hierhin haben sich Erik und Marlon, beide aus dem siebten Jahrgang, zurückgezogen. Erik ist seit dem sechsten Schuljahr an der Alemannenschule und stolz, dass er auf dem Marktplatz, wie die offene Lernlandschaft genannt wird, arbeiten darf. „Ich bin nach wenigen Wochen Durchstarter geworden und musste nie auf Anfang zurück. Ich habe nur einmal eine Verwarnung bekommen, weil ich zu lange gequatscht habe“, erzählt der Junge. An der Alemannenschule bekommen die Kinder ab der fünften Klasse einen Vertrauensvorschuss und erhalten den „Starter“-Status. Lernen sie erfolgreich und halten sich an die Regeln, werden sie „Durchstarter“ wie Erik, Marlon und die vier Mädchen auf den grünen Sofas. Durchstarter dürfen entscheiden, was sie wann und wo lernen. Dazu gehört auch, dass sich die Kinder frei auf dem Schulgelände bewegen und die Gemeindebibliothek besuchen dürfen. Wer die Stufe „Lernprofi“ erreicht, hat noch mehr Freiheiten. Verspielen die Kinder ihren Vertrauensvorschuss, verlieren sie viele dieser Rechte. Als „Neustarter“ werden sie dann wieder enger von den Lehrkräften geführt, müssen sich das Vertrauen zurückgewinnen und bis dahin den Schultag in ihrem Lernatelier verbringen.

Die Lernateliers befinden sich in der Etage über dem Marktplatz und sind ein innenarchitektonisches Juwel. Große Fenster tauchen die hohen Räume in helles Tageslicht. Was die Lernateliers aber so besonders macht, sind die „Hühnerställe“ aus weiß gebeiztem Holz, wie Stefan Rupanner die sich über zwei Ebenen erstreckenden Arbeitsplätze bezeichnet. Sie ähneln überdimensionalen Etagenbetten mit Raum für insgesamt acht oder mehr Schreibtische. In den Lernateliers hat jedes Kind seinen eigenen Arbeitsplatz. Lernateliers, Marktplatz, Lerndorf – herkömmliche Klassenräume gibt es in der Alemannenschule kaum. Klassischer Unterricht weicht einem sehr offenen Lernkonzept. Den Großteil des Schultages lernen die Kinder individuell, nur für die Input-Phasen sitzen sie in Gruppen mit der jeweiligen Lehrkraft zusammen. Auch typische Klassenstrukturen sucht man hier vergeblich.

In den Lernateliers arbeiten die Schülerinnen und Schüler ab dem fünften Jahrgang in altersgemischten Gruppen. Im Mittelpunkt stehe das Coaching, so Ruppaner. Jede Lehrkraft betreut eine Gruppe von 14 Schülerinnen und Schülern. Sie sollen die Lernenden begleiten und persönliche Beziehungen aufbauen. „Dazu gehört auch, die Kinder daheim zu besuchen und zu wissen, wie der Hamster heißt“, erklärt Ruppaner und ergänzt: „Denn Lehrer unterrichten bei uns nicht das Fach, sondern die Schüler.“ Ein Junge läuft an Ruppaner vorbei und grüßt freundlich. „Wie geht es dem Opa?“, fragt der Schulleiter. „Gut“, antwortet der Schüler. „Ja? Na, dann bestell einen lieben Gruß“, sagt Ruppaner. Man kennt sich hier.

Alemannenschule Wutöschingen

Wutöschingen, Baden-Württemberg
Preisträger 2019

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Liam* ist ein Löwe. Wie Johan, Grace und Maja – auch sie gehören zum Rudel. Das Zuhause der Löwenfamilie liegt im zweiten Stock des Altbaus, eine Etage über den Igeln. Nebenan wohnen die Pinguine, die Eisbären und die Robben. „Herzlich willkommen bei den Löwen“ steht in großen Lettern auf der Eingangstür zu ihrem Reich. Doch wer das Revier betreten will, muss zuerst die Straßenschuhe ausziehen und die Jacke an der Garderobe aufhängen. Die „Löwen“ sind eine von neun Lernfamilien der Kettelerschule im Bonner Ortsteil Dransdorf. In einer Lernfamilie lernen jeweils 25 Kinder gemeinsam in heterogenen, jahrgangsgemischten und inklusiven Gruppen.

Insgesamt besuchen 225 Schülerinnen und Schüler die Gemeinschaftsgrundschule, etwa 70 von ihnen haben einen diagnostizierten Förderbedarf. Auch bei Löwe Liam ist Förderbedarf festgestellt worden, er wird im Schulalltag von Schulbegleiterin Jaqueline Fühling unterstützt. Doch diese ist heute krank, der Platz neben Liam bleibt frei. Der Tag bei den Löwen startet wie in allen Lernfamilien mit einem offenen Anfang. Grace nutzt die zeitliche Spanne zwischen Eintreffen im Klassenzimmer und tatsächlichem Unterrichtsbeginn zum Lesen und setzt sich Kopfhörer auf, um sich vom geschäftigen Treiben um sie herum nicht ablenken zu lassen. Johan und Maja suchen noch ihre Arbeitsmaterialien zusammen, bevor sie sich an ihre Plätze setzen. Liams Tisch ist in der Ecke hinten rechts. Während die meisten Löwenkinder noch durch das Klassenzimmer laufen, hat Liam sich schon tief über ein weißes Blatt Papier gebeugt. Er hält einen Bleistift fest in seiner Hand und drückt ihn mit ganzer Kraft auf das Papier. Langsam zeichnet er ein paar Linien und betrachtet die Striche. Unvermittelt steht er auf, zerknüllt das Blatt und wirft es in den Mülleimer. Er nimmt sich noch ein Blatt und beginnt von neuem. Mit dem Zirkel zeichnet er einen großen Kreis in die Mitte des Blattes. Dann nimmt er sein Lineal und zieht mit dem Bleistift behutsam eine Linie nach der anderen: Sonnenstrahlen. Linie um Linie wächst der Strahlenkranz der Sonne.

Inzwischen ist es 8:30 Uhr, Zeit für den Morgenkreis. Leise Musik ertönt – das Signal für die Löwen, sich um Sarah Dernbach zu versammeln. Sie ist die Klassenleiterin und so etwas wie das Familienoberhaupt der Meute. Die Runde beginnt mit einem Begrüßungsritual. Alle fassen sich an den Händen und sagen laut im Chor: „Wir wünschen uns einen guten Morgen“. Dann drehen sich die Löwen nach links, nach rechts, schütteln die Hände ihrer Sitznachbarin oder ihres Sitznachbarn und wünschen einander erneut einen guten Morgen. Ein freundlicher, achtsamer Umgang wird an der Kettelerschule großgeschrieben, das Motto des Monats lautet: „Ich bin respektvoll zu Erwachsenen und Mitschülern“. Nach der Begrüßung besprechen die Löwen die anschließende Lesezeit. Liam fällt es schwer, bei der Sache zu bleiben. Unruhig rutscht er auf der Bank hin und her, spricht dazwischen. Ein fester Blick von Sarah Dernbach genügt, und Liam ist wieder still. Wie eine Dompteurin hält sie die Löwenbande mühelos in Schach. Sie benötigt keine lauten Kommandos, sondern kommuniziert mit leisen Gesten.

Johan will heute ein Leserätsel für die Klasse schreiben. „Gute Idee“, lobt Sarah Dernbach und fragt in die Runde, wer ihm dabei helfen möchte. Sieben kleine Arme schnellen nach oben. Johan zögert – wen soll er auswählen? „Du weißt selbst am besten, mit wem du gut arbeiten kannst“, hilft Sarah Dernbach. Johan entscheidet sich für Charly*. Die beiden Jungs ziehen sich in den Nebenraum zurück. Ein großer Flur verbindet das Klassen- mit dem Nachbarzimmer. Hier findet am Nachmittag das offene Ganztagsangebot für die Löwen statt, doch auch am Vormittag wird der zusätzliche Platz genutzt, wenn Kinder beispielsweise konzentriert in kleinen Gruppen an einer Aufgabe arbeiten möchten. Johan und Charly setzen sich an einen der Tische. Allein bleiben die Jungs nicht. Erzieherin Gudrun Spiller hilft einer Handvoll Kindern, ihre Forschungsarbeiten zu beenden. Sie gehört wie Sarah Dernbach und Jaqueline Fühling fest zur Familie der Löwen. Ergänzt wird das multiprofessionelle Team durch Sonderpädagogin Ute Henning und Maria Graf, Erzieherin in Ausbildung. Während der gesamten Grundschulzeit bleiben die Kinder in ihrer Gemeinschaft – einmal Löwe, immer Löwe.

Johan und Charly, der eine im dritten und der andere im vierten Jahrgang, kommen schnell mit ihrem Leserätsel voran. Sie denken sich ein Märchen aus, Johan diktiert, Charly schreibt. Sie überlegen, wie sie geschickt Rätsel in ihr Märchen einbauen. „Die Klasse muss unsere Fragen nachher richtig beantworten, damit die Geschichte weitergeht“, erklärt Johan und ergänzt: „Wir sind beide richtige Schreibtypen. Wir schreiben gern und viel.“ Johan ist eines der zwei Löwenkinder, die mit der Leselernlandkarte schon fertig sind. Dahinter verbirgt sich ein besonderes Konzept der Kettelerschule. Zur Leselernlandkarte gehören zwei Plakate, die in jeder Lernfamilie gut sichtbar an der Wand hängen. Das eine Plakat zeigt eine farbige Landkarte, das andere Poster eine tabellarische Übersicht, die die Zeichen und Farben der Landkarte erklärt. Alle Kinder bekommen zum Schulstart eine graue Leselernlandkarte mit eingezeichneten Ländergrenzen. Jedes Land steht für eine andere Lesekompetenz. Hat ein Kind erfolgreich bewiesen, dass es die entsprechende Lesekompetenz beherrscht, darf es in der zugeordneten Farbe das entsprechende Land anmalen. Sogar die Arbeitsmaterialien zum Lesenlernen sind passend zur Leselernlandkarte farblich markiert. „So weiß jedes Kind jederzeit, was zu tun ist, welche Aufgabe als nächstes ansteht und mit welchen Arbeitsmaterialien und Übungen es sein Ziel erreicht“, erklärt Sarah Dernbach.

Die achtjährige Maja ist neben Johan das zweite Löwenkind, das schon alle Länder der Landkarte ausmalen durfte. Sie unterstützt den zwei Jahre älteren Liam, der heute ohne seine Schulbegleiterin zurechtkommen muss. Maja liest ein Buch und muss Fragen zum Text beantworten, Liam arbeitet in einem Heft für Lernende mit erhöhtem Förderbedarf. Wenn Liam nicht weiterkommt, hilft Maja. Die beiden kichern, lachen über die Maus, die in Majas Buch abgebildet ist. „Na, klappt das mit euch beiden?“, fragt Sarah Dernbach. Ihre Frage genügt, und die beiden Löwen widmen sich wieder ihren Aufgaben. Sarah Dernbach kam 2014 als Referendarin an die Schule und ist geblieben. Zunächst arbeitete sie als Vertretungslehrerin. Seit zwei Jahren leitet sie nun in einer festen Stelle die Lernfamilie der Löwen. Eine andere Schule kennenlernen? Das kommt für Sarah Dernbach nicht infrage. „Ich bin glücklich hier, ich lerne jeden Tag etwas Neues“, sagt sie. Sie schätzt das gute Miteinander, die Arbeit im Team, den „guten Blick auf das Kind“ und dass an der Kettelerschule „Inklusion wirklich gelebt“ wird. Allein bei den 25 Löwen gibt es zwölf Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Die sprachliche Vielfalt ist groß: „Arabisch, Kurdisch, Albanisch, Französisch, Serbisch, Türkisch …“, zählt Sarah Dernbach auf. Sieben Schülerinnen und Schüler haben einen festgeschriebenen Förderbedarf, bei zwei weiteren Kindern ist eine Leserechtschreibschwäche diagnostiziert worden. Sie alle lernen gemeinsam – Konzepte wie die Leselernlandkarte ermöglichen es ihnen, mit ihren persönlichen Lernvoraussetzungen im individuellen Tempo in einer Gruppe zu lernen.

Die meiste Zeit des Vormittags bleiben die Löwen unter sich, erst in der Hofpause verlassen die Kinder ihr Revier und toben sich zusammen mit Leoparden, Robben und Eisbären aus. Mit dem Gong stürmen die Kinder zurück in ihre Räume, so laut, dass sie fast die Durchsage übertönen: „Das Kinderparlament trifft sich jetzt in der Aula.“ Grace und Johan kehren um, sie vertreten die Löwen. Die Kinder müssen heute ein paar wichtige Entscheidungen treffen. Welche Lernfamilie kümmert sich um die Organisation des nächsten Fußballturniers? Was hat die Abstimmung zum Sportturnier der Mädchen ergeben? Und wie weit ist die AG, die sich neue Regeln für saubere Schultoiletten überlegt? 45 Minuten später hat Johan zwei große Wörter auf seinen Notizzettel geschrieben: „Fußballturnier“ und „Mädchenturnier“. Beide Turniere müssen die Löwen nun organisieren, Grace und Johan haben sich zweimal freiwillig zur Organisation der Wettbewerbe gemeldet, und zweimal hat das Los zu ihren Gunsten entschieden. Schaffen die Löwen das? Grace und Johan verschwinden hinter der Tür zum Löwenrevier. Daneben hängt ein kleines gerahmtes Bild mit einem Spruch: „Wir sind die Löwen, verstehen uns gut, wir halten zusammen und haben Mut. Löwen, Löwen, löwenstark!“

* Name von der Redaktion geändert

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Funkelnd dreht sich die Discokugel über der Tanzfläche, ein tiefer Bass wummert aus den Boxen. Auf der Bühne stehen Leijla, Beritan, und Semav. Sie tanzen synchron zu „Safari”, einem Popsong der rumänischen Sängerin Serena. Die drei Mädchen beherrschen die Choreografie perfekt, jeder Schritt, jede Drehung sitzt. Ihr Tanz ist ansteckend, immer mehr Kinder kommen auf die Bühne und schließen sich juchzend der Gruppe an. Es ist Mittwochmorgen, 7:50 Uhr in der Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm. Sieben Minuten und zwei Songs später läutet die Glocke, die Musik verstummt, und das Spektakel ist schlagartig beendet. Leijla, Beritan, Semav und all die anderen Kinder springen von der Bühne, schnappen sich ihre Schulranzen und eilen in ihre Klassenzimmer.

„Morgentanz“ heißt das viertelstündige Ritual, mit dem die Grundschule in den Tag startet. Die Schülerinnen und Schüler können selbst entscheiden, ob sie tanzen möchten oder den Schultag lieber etwas ruhiger im Klassenraum beginnen. „Die Kinder, die Musikdienst haben, wählen die Songs aus und bedienen auch die Technik“, sagt Janina Huesmann, während sie den Laptop im Schrank einschließt. Sie hat heute den Morgentanz beaufsichtigt und zwischendurch immer wieder mitgewippt. Die Lehrerin leitet die 4b, die Hasenklasse, zu der auch Leijla, Beritan und Semav gehören.

Der Klassenraum der 4b liegt in der ersten Etage des kleinen, rot geklinkerten Schulgebäudes in Bockum-Hövel, einem Arbeiterviertel im Nordwesten der Stadt Hamm. Mehr als die Hälfte der rund 220 Kinder, die die Gebrüder-Grimm-Schule besuchen, hat einen Migrationshintergrund. Knapp 100 Schülerinnen und Schüler erhalten Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Viele Eltern sind alleinerziehend. Und jedes zehnte Kind hat sonderpädagogischen Förderbedarf. „Man sieht das nicht auf den ersten Blick, aber wir kennen die Schicksale unserer Kinder. Viele von ihnen sind höchst belastet. Das ist teilweise richtig schlimm, und da übertreibe ich nicht“, sagt Schulleiter Frank Wagner.

Während es draußen nieselt und sich eine graue Wolkendecke über die Dächer Hamms legt, geht im Klassenzimmer der 4b die Sonne auf. Die Wände sind in einem warmen Gelb gestrichen, im Hintergrund läuft sanfte Musik. Es ist Lernzeit. In dieser morgendlichen Viertelstunde beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler selbstständig mit ihren individuellen Lernzielen, die sie auf kleinen Kärtchen notiert haben.

Matti* zeigt seiner Lehrerin ein selbst gezeichnetes Bild. „Wow“, staunt Janina Huesmann, „du hast echt Talent. Du wirst bestimmt mal ein Grafikdesigner, das kann ich mir bei dir gut vorstellen.“ Matti grinst. „An welchem Lernziel arbeitest du zurzeit?“, fragt die Lehrerin. Matti hat gerade kein Lernziel. Er schlägt vor, in seinem Lies-mal-Heft zu arbeiten. „Das finde ich sehr gut“, sagt Janina Huesmann und gibt dem Jungen sein Kärtchen. Er legt gleich los.

Der Schultag an der Gebrüder-Grimm-Schule hat einen festen Rhythmus. Punkt 8:15 Uhr endet in allen Klassen die Lernzeit. Die Hasenkinder stimmen ein Lied an, beginnen erst leise, manche fast zaghaft: „Spitze, dass du da bist. Ja, jetzt geht es endlich los.“ Von Zeile zu Zeile singen sie lauter und fröhlicher: „Ja, wir klatschen in die Hände, denn es gibt so viel zu tun. Wir beginnen mit dem Lernen, und gemeinsam macht das Spaß…“ Dann nimmt Janina Huesmann die aus je zwei Getränkekisten und einem langen Brett gebauten Sitzbänke, die an der Wand gestapelt stehen, und baut sie vorn an der Tafel zu einem engen Kreis auf. Viel Platz gibt es nicht, er reicht gerade so für alle Kinder. Gemeinsam besprechen sie den Schultag, Deutsch steht als nächstes auf dem Stundenplan.

Die Schülerinnen und Schüler arbeiten an einer Leserolle. Sie haben sich Bücher ausgesucht und müssen Wahl- und Pflichtaufgaben dazu erledigen. Die Arbeitsblätter kleben sie aneinander und bewahren sie in einer bunt bemalten Dose auf. „Ich werde die Leserollen bewerten“, kündigt Janina Huesmann an und fragt in die Runde: „Wer erinnert sich? Nach welchen Kriterien bewerte ich eure Arbeit?“ Zoe meldet sich: „Wie viel wir gemacht haben.“ „Nicht ganz“, erwidert Janina Huesmann, „mir ist besonders wichtig, dass ihr sorgfältig arbeitet, statt alle Wahlaufgaben zu machen.“ Jetzt meldet sich Semav: „Ich brauche Hilfe bei der Mindmap. Ich weiß nicht, was ich da schreiben soll.“ „Ich kann dir helfen“, sagt Leijla. Die beiden Mädchen sitzen am Gruppentisch nebeneinander. Leijla flüstert Semav ein paar Sätze ins Ohr, und wenige Minuten später ist die Mindmap fertig. Die Schülerinnen helfen sich, die Arbeitsblätter aufzuwickeln. Bevor die Blätter in der Dose verschwinden, will Janina Huesmann noch einen Blick auf Semavs Arbeit werfen. „Toll, wie du mitdenkst. Dich müssen wir auch mal hochschieben“, lobt sie. „Hochschieben“ bedeutet, dass der Magnet mit Semavs Namen auf dem „Klassenwetter“ nach oben rutscht. Alle Kinder starten jeden Morgen auf derselben Gut-Wetter-Position. Wer sich an die Klassenregeln hält, leise und mit Sorgfalt arbeitet, kann seinen Platz verbessern. Landen die Schülerinnen und Schüler 15-mal ganz oben auf dem Regenbogen, bekommen sie eine Belohnung. Ali hat mit Abstand die meisten Regenbogen-Kreuze, auf dem Übersichtsplan ist kein Platz mehr für neue. Auch heute klebt der Magnet mit seinem Namen neben dem Regenbogen. Janina Huesmann schiebt Semavs Magneten auf den Sonnen-Platz und bittet sie nach vorn, um ihre Leserolle der Klasse zu zeigen. „Schaut mal, Kinder. Semav hat verstanden, was ich mit ‚sorgfältig‘ meine. Sie hat viele Ideen für die Mindmap gehabt und auf allen Seiten mehr als zwei Zeilen geschrieben.“

Das Loben und Wertschätzen nimmt einen ganz besonderen Stellenwert an der Gebrüder-Grimm-Schule ein. Im Treppenhaus hängen auf Augenhöhe der Kinder kleine Spiegel, darauf stehen Sprüche wie „Du bist wundervoll!“ oder „Du strahlst wie die Sonne!“. Im Schulhaus stehen an verschiedenen Plätzen kleine Boxen mit Komplimente-Kärtchen zum Verschenken, auch auf Frank Wagners Schreibtisch steht eine solche Box. Zentrales Element der Lobkultur sind aber die sogenannten Lobbriefe. In diesen Briefen werden die Kinder ganz konkret gelobt – für besondere Talente oder ein gutes Verhalten im Schulalltag. „Wir haben auch schon einen bekommen“, erzählen Leijla und Semav stolz. Die Mädchen haben Kindern der ersten Klasse geholfen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden.

Nach dem Deutschunterricht ist Mathematik dran, heute beschäftigen sich die Kinder der 4b mit Sachaufgaben. Janina Huesmann erklärt noch einmal, worauf es dabei ankommt: „Ihr müsst genau lesen, aufmerksam sein und euch die wichtigen Informationen markieren.“ „Genau lesen gehört doch zu Deutsch und nicht zu Mathe?“, fragt Beritan irritiert. Janine Huesmann nickt und bittet die Klasse, ihren Kinderlehrplan aufzuschlagen. Der Kinderlehrplan ist ein besonderes Konzept der Gebrüder-Grimm-Schule. Er informiert in kindgerechter Sprache darüber, was die Schülerinnen und Schüler am Ende der vierten Klasse gelernt haben sollten. Und tatsächlich, im Bereich Mathematik steht schwarz auf weiß: „Ich löse Sachaufgaben.“ Beritan ist beruhigt. Schulleiter Frank Wagner ist stolz auf den Kinderlehrplan. Er ist ein wichtiger Meilenstein im Schulentwicklungsprozess.

Als Wagner vor über zehn Jahren an die Schule kam, stand sie kurz vor der Schließung. Die Schülerzahlen sanken, die Zweizügigkeit war in Gefahr. Die Stadtverwaltung überlegte, die Gebrüder-Grimm-Schule als Stadtteilzentrum umzunutzen. „Ein überaltertes Kollegium, verkrustete Strukturen, ein heruntergekommenes Schulgebäude und Kinder ohne Strukturen: Man konnte in alle Bereiche schauen und „Oweia“ sagen. „Damals ging es ums Überleben“, erinnert sich Frank Wagner. Der entscheidende Tipp kam vom Schulrat: „Herr Wagner, da kann keiner was machen. Das können Sie nur selbst. Sie als Schule, Sie als Schulleiter.“ Die Gebrüder-Grimm-Schule machte die Not zum Motor ihrer Entwicklung – mit Erfolg. „Ich bin heute noch fasziniert davon, wie das funktionieren kann, ohne dass wir auch nur einen Cent oder eine Lehrerstelle mehr bekommen haben“, so Wagner.

Bald aber wird sich die räumliche Situation der Schule deutlich verbessern. Die Stadt Hamm hat einen 1,6 Millionen Euro teuren Anbau genehmigt. Frank Wagner und sein Team stecken zurzeit mitten in den Planungen. „Wir werden den Platz als offene Lernlandschaft nutzen – als Erweiterung unserer Lerninseln. Das ist echt, echt gut“, erklärt der Schulleiter. Die Lerninseln sind momentan nur drei Räume, jeweils nicht größer als ein normales Klassenzimmer. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Abstellräume mit Regalen, Trennwänden, Teppichen, Tischen und Bänken. Wer genau hinsieht, entdeckt, wie liebevoll und durchdacht die Lerninseln strukturiert sind: Der Teppich gehört zur Bauecke, die Bänke schotten das Theater vom Rest des Raumes ab, und hinter den Trennwänden verstecken sich die winzige Schulbibliothek und die Computerecke. Hier können die Kinder am Vormittag und Nachmittag im offenen Ganztag arbeiten und ihr Talent ausbauen, entweder selbstständig oder angeleitet. „Wir freuen uns, dass wir mit dem Anbau unser Konzept noch mal erweitern können und mehr Platz, mehr Möglichkeiten haben. Aber was wir hier haben, funktioniert. Es ist eigentlich total gut so“, meint Wagner.

Inzwischen ist es 11:40 Uhr, endlich Pause. Die Kinder der 4b rennen auf den Schulhof. Doch Janina Huesmann verschwindet nicht im Lehrerzimmer, sie bleibt im Schulfoyer stehen und blickt nach draußen. Aus den vereinzelten Tropfen ist ein feiner leichter Regen geworden. „Bestimmt ist gleich Regenpause“, murmelt sie. Nur wenige Sekunden später läutet es. So schlagartig die Kinder am Morgen das Schulfoyer verlassen haben, so plötzlich stürmen die mehr als 200 Jungen und Mädchen nun zurück. Janina Huesmann schließt den Technikschrank auf, und die Discokugel beginnt sich zu drehen, bunte Spiegelreflexe tanzen über die Decke. Regenpause ist Disco-Zeit, das weiß hier jedes Kind.

* Name von der Redaktion geändert

GGS Kettelerschule

Bonn, Nordrhein-Westfalen
Preisträger 2019

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