Porträt

Funkelnd dreht sich die Discokugel über der Tanzfläche, ein tiefer Bass wummert aus den Boxen. Auf der Bühne stehen Leijla, Beritan, und Semav. Sie tanzen synchron zu „Safari”, einem Popsong der rumänischen Sängerin Serena. Die drei Mädchen beherrschen die Choreografie perfekt, jeder Schritt, jede Drehung sitzt. Ihr Tanz ist ansteckend, immer mehr Kinder kommen auf die Bühne und schließen sich juchzend der Gruppe an. Es ist Mittwochmorgen, 7:50 Uhr in der Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm. Sieben Minuten und zwei Songs später läutet die Glocke, die Musik verstummt, und das Spektakel ist schlagartig beendet. Leijla, Beritan, Semav und all die anderen Kinder springen von der Bühne, schnappen sich ihre Schulranzen und eilen in ihre Klassenzimmer.

„Morgentanz“ heißt das viertelstündige Ritual, mit dem die Grundschule in den Tag startet. Die Schülerinnen und Schüler können selbst entscheiden, ob sie tanzen möchten oder den Schultag lieber etwas ruhiger im Klassenraum beginnen. „Die Kinder, die Musikdienst haben, wählen die Songs aus und bedienen auch die Technik“, sagt Janina Huesmann, während sie den Laptop im Schrank einschließt. Sie hat heute den Morgentanz beaufsichtigt und zwischendurch immer wieder mitgewippt. Die Lehrerin leitet die 4b, die Hasenklasse, zu der auch Leijla, Beritan und Semav gehören.

Der Klassenraum der 4b liegt in der ersten Etage des kleinen, rot geklinkerten Schulgebäudes in Bockum-Hövel, einem Arbeiterviertel im Nordwesten der Stadt Hamm. Mehr als die Hälfte der rund 220 Kinder, die die Gebrüder-Grimm-Schule besuchen, hat einen Migrationshintergrund. Knapp 100 Schülerinnen und Schüler erhalten Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Viele Eltern sind alleinerziehend. Und jedes zehnte Kind hat sonderpädagogischen Förderbedarf. „Man sieht das nicht auf den ersten Blick, aber wir kennen die Schicksale unserer Kinder. Viele von ihnen sind höchst belastet. Das ist teilweise richtig schlimm, und da übertreibe ich nicht“, sagt Schulleiter Frank Wagner.

Während es draußen nieselt und sich eine graue Wolkendecke über die Dächer Hamms legt, geht im Klassenzimmer der 4b die Sonne auf. Die Wände sind in einem warmen Gelb gestrichen, im Hintergrund läuft sanfte Musik. Es ist Lernzeit. In dieser morgendlichen Viertelstunde beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler selbstständig mit ihren individuellen Lernzielen, die sie auf kleinen Kärtchen notiert haben.

Matti* zeigt seiner Lehrerin ein selbst gezeichnetes Bild. „Wow“, staunt Janina Huesmann, „du hast echt Talent. Du wirst bestimmt mal ein Grafikdesigner, das kann ich mir bei dir gut vorstellen.“ Matti grinst. „An welchem Lernziel arbeitest du zurzeit?“, fragt die Lehrerin. Matti hat gerade kein Lernziel. Er schlägt vor, in seinem Lies-mal-Heft zu arbeiten. „Das finde ich sehr gut“, sagt Janina Huesmann und gibt dem Jungen sein Kärtchen. Er legt gleich los.

Der Schultag an der Gebrüder-Grimm-Schule hat einen festen Rhythmus. Punkt 8:15 Uhr endet in allen Klassen die Lernzeit. Die Hasenkinder stimmen ein Lied an, beginnen erst leise, manche fast zaghaft: „Spitze, dass du da bist. Ja, jetzt geht es endlich los.“ Von Zeile zu Zeile singen sie lauter und fröhlicher: „Ja, wir klatschen in die Hände, denn es gibt so viel zu tun. Wir beginnen mit dem Lernen, und gemeinsam macht das Spaß…“ Dann nimmt Janina Huesmann die aus je zwei Getränkekisten und einem langen Brett gebauten Sitzbänke, die an der Wand gestapelt stehen, und baut sie vorn an der Tafel zu einem engen Kreis auf. Viel Platz gibt es nicht, er reicht gerade so für alle Kinder. Gemeinsam besprechen sie den Schultag, Deutsch steht als nächstes auf dem Stundenplan.

Die Schülerinnen und Schüler arbeiten an einer Leserolle. Sie haben sich Bücher ausgesucht und müssen Wahl- und Pflichtaufgaben dazu erledigen. Die Arbeitsblätter kleben sie aneinander und bewahren sie in einer bunt bemalten Dose auf. „Ich werde die Leserollen bewerten“, kündigt Janina Huesmann an und fragt in die Runde: „Wer erinnert sich? Nach welchen Kriterien bewerte ich eure Arbeit?“ Zoe meldet sich: „Wie viel wir gemacht haben.“ „Nicht ganz“, erwidert Janina Huesmann, „mir ist besonders wichtig, dass ihr sorgfältig arbeitet, statt alle Wahlaufgaben zu machen.“ Jetzt meldet sich Semav: „Ich brauche Hilfe bei der Mindmap. Ich weiß nicht, was ich da schreiben soll.“ „Ich kann dir helfen“, sagt Leijla. Die beiden Mädchen sitzen am Gruppentisch nebeneinander. Leijla flüstert Semav ein paar Sätze ins Ohr, und wenige Minuten später ist die Mindmap fertig. Die Schülerinnen helfen sich, die Arbeitsblätter aufzuwickeln. Bevor die Blätter in der Dose verschwinden, will Janina Huesmann noch einen Blick auf Semavs Arbeit werfen. „Toll, wie du mitdenkst. Dich müssen wir auch mal hochschieben“, lobt sie. „Hochschieben“ bedeutet, dass der Magnet mit Semavs Namen auf dem „Klassenwetter“ nach oben rutscht. Alle Kinder starten jeden Morgen auf derselben Gut-Wetter-Position. Wer sich an die Klassenregeln hält, leise und mit Sorgfalt arbeitet, kann seinen Platz verbessern. Landen die Schülerinnen und Schüler 15-mal ganz oben auf dem Regenbogen, bekommen sie eine Belohnung. Ali hat mit Abstand die meisten Regenbogen-Kreuze, auf dem Übersichtsplan ist kein Platz mehr für neue. Auch heute klebt der Magnet mit seinem Namen neben dem Regenbogen. Janina Huesmann schiebt Semavs Magneten auf den Sonnen-Platz und bittet sie nach vorn, um ihre Leserolle der Klasse zu zeigen. „Schaut mal, Kinder. Semav hat verstanden, was ich mit ‚sorgfältig‘ meine. Sie hat viele Ideen für die Mindmap gehabt und auf allen Seiten mehr als zwei Zeilen geschrieben.“

Das Loben und Wertschätzen nimmt einen ganz besonderen Stellenwert an der Gebrüder-Grimm-Schule ein. Im Treppenhaus hängen auf Augenhöhe der Kinder kleine Spiegel, darauf stehen Sprüche wie „Du bist wundervoll!“ oder „Du strahlst wie die Sonne!“. Im Schulhaus stehen an verschiedenen Plätzen kleine Boxen mit Komplimente-Kärtchen zum Verschenken, auch auf Frank Wagners Schreibtisch steht eine solche Box. Zentrales Element der Lobkultur sind aber die sogenannten Lobbriefe. In diesen Briefen werden die Kinder ganz konkret gelobt – für besondere Talente oder ein gutes Verhalten im Schulalltag. „Wir haben auch schon einen bekommen“, erzählen Leijla und Semav stolz. Die Mädchen haben Kindern der ersten Klasse geholfen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden.

Nach dem Deutschunterricht ist Mathematik dran, heute beschäftigen sich die Kinder der 4b mit Sachaufgaben. Janina Huesmann erklärt noch einmal, worauf es dabei ankommt: „Ihr müsst genau lesen, aufmerksam sein und euch die wichtigen Informationen markieren.“ „Genau lesen gehört doch zu Deutsch und nicht zu Mathe?“, fragt Beritan irritiert. Janine Huesmann nickt und bittet die Klasse, ihren Kinderlehrplan aufzuschlagen. Der Kinderlehrplan ist ein besonderes Konzept der Gebrüder-Grimm-Schule. Er informiert in kindgerechter Sprache darüber, was die Schülerinnen und Schüler am Ende der vierten Klasse gelernt haben sollten. Und tatsächlich, im Bereich Mathematik steht schwarz auf weiß: „Ich löse Sachaufgaben.“ Beritan ist beruhigt. Schulleiter Frank Wagner ist stolz auf den Kinderlehrplan. Er ist ein wichtiger Meilenstein im Schulentwicklungsprozess.

Als Wagner vor über zehn Jahren an die Schule kam, stand sie kurz vor der Schließung. Die Schülerzahlen sanken, die Zweizügigkeit war in Gefahr. Die Stadtverwaltung überlegte, die Gebrüder-Grimm-Schule als Stadtteilzentrum umzunutzen. „Ein überaltertes Kollegium, verkrustete Strukturen, ein heruntergekommenes Schulgebäude und Kinder ohne Strukturen: Man konnte in alle Bereiche schauen und „Oweia“ sagen. „Damals ging es ums Überleben“, erinnert sich Frank Wagner. Der entscheidende Tipp kam vom Schulrat: „Herr Wagner, da kann keiner was machen. Das können Sie nur selbst. Sie als Schule, Sie als Schulleiter.“ Die Gebrüder-Grimm-Schule machte die Not zum Motor ihrer Entwicklung – mit Erfolg. „Ich bin heute noch fasziniert davon, wie das funktionieren kann, ohne dass wir auch nur einen Cent oder eine Lehrerstelle mehr bekommen haben“, so Wagner.

Bald aber wird sich die räumliche Situation der Schule deutlich verbessern. Die Stadt Hamm hat einen 1,6 Millionen Euro teuren Anbau genehmigt. Frank Wagner und sein Team stecken zurzeit mitten in den Planungen. „Wir werden den Platz als offene Lernlandschaft nutzen – als Erweiterung unserer Lerninseln. Das ist echt, echt gut“, erklärt der Schulleiter. Die Lerninseln sind momentan nur drei Räume, jeweils nicht größer als ein normales Klassenzimmer. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Abstellräume mit Regalen, Trennwänden, Teppichen, Tischen und Bänken. Wer genau hinsieht, entdeckt, wie liebevoll und durchdacht die Lerninseln strukturiert sind: Der Teppich gehört zur Bauecke, die Bänke schotten das Theater vom Rest des Raumes ab, und hinter den Trennwänden verstecken sich die winzige Schulbibliothek und die Computerecke. Hier können die Kinder am Vormittag und Nachmittag im offenen Ganztag arbeiten und ihr Talent ausbauen, entweder selbstständig oder angeleitet. „Wir freuen uns, dass wir mit dem Anbau unser Konzept noch mal erweitern können und mehr Platz, mehr Möglichkeiten haben. Aber was wir hier haben, funktioniert. Es ist eigentlich total gut so“, meint Wagner.

Inzwischen ist es 11:40 Uhr, endlich Pause. Die Kinder der 4b rennen auf den Schulhof. Doch Janina Huesmann verschwindet nicht im Lehrerzimmer, sie bleibt im Schulfoyer stehen und blickt nach draußen. Aus den vereinzelten Tropfen ist ein feiner leichter Regen geworden. „Bestimmt ist gleich Regenpause“, murmelt sie. Nur wenige Sekunden später läutet es. So schlagartig die Kinder am Morgen das Schulfoyer verlassen haben, so plötzlich stürmen die mehr als 200 Jungen und Mädchen nun zurück. Janina Huesmann schließt den Technikschrank auf, und die Discokugel beginnt sich zu drehen, bunte Spiegelreflexe tanzen über die Decke. Regenpause ist Disco-Zeit, das weiß hier jedes Kind.

* Name von der Redaktion geändert