Porträt

Ganz am Anfang war Sabine Kreutzer eine Schulleiterin ohne Schule – ohne Kollegium, ohne Stundenplan, ohne Konzept und vor allem ohne Schülerinnen und Schüler. „Hier war ja nichts“, sagt Sabine Kreutzer, wenn sie an die Anfänge der Bonner Marie-Kahle-Gesamtschule vor elf Jahren zurückdenkt. Damals wollten die Eltern eine vierte Gesamtschule eröffnen, das Land lehnte ab, doch die Stadt klagte erfolgreich. „Als Bonnerin habe ich die Entwicklung mitverfolgt und immer gedacht, das wird doch nichts, das schafft keiner“, erzählt sie. Zu diesem Zeitpunkt war Sabine Kreutzer Abteilungsleiterin an einer Gesamtschule im Nachbarort Bornheim und spielte mit dem Gedanken, eines Tages vielleicht selbst Schulleiterin zu werden.

Plötzlich ging alles ganz schnell. „Ich habe den Anruf von der Bezirksregierung bekommen, bin nach Bonn-Castell gefahren, habe mir das Grundstück angesehen und realisiert, dass sich genau an dieser Stelle das Römerlager befunden hat“, sagt Sabine Kreutzer, die Lateinlehrerin ist. Bonns Geschichte reicht weit zurück bis in die römische Zeit. Vor mehr als zweitausend Jahren errichteten die Römer ein Lager im Gebiet des heutigen Stadtteils Bonn-Castell, in dessen Zentrum die Marie-Kahle-Gesamtschule liegt. „Dann habe ich gesagt: Ja, gut, ich mache das jetzt. Innerhalb von zwei Tagen war ich kommissarische Schulleiterin“, so Sabine Kreutzer.

Seitdem hat die Marie-Kahle-Gesamtschule einen erstaunlichen Schulentwicklungsprozess durchlaufen. „Wir hatten die Chance des völlig freien Spielfelds. Das haben wir genutzt. Es gab ja nichts, was wir schon immer genau so gemacht haben“, sagt Sabine Kreutzer. Angefangen haben sie zunächst zu sechst mit vier Klassen im Schuljahr 2009/2010. Schnell wuchs das Kollegium, viele Lehrkräfte mit großen Träumen wollten an die Marie-Kahle-Gesamtschule. „Obwohl sie wussten, dass sie bei uns unglaublich viel arbeiten müssen, weil wirklich gar nichts fertig war. Das hat sie nicht abgehalten“, erzählt die Schulleiterin.

Einer, der diesen Prozess fast von Anfang an begleitet hat, ist Daniel Maas. Direkt nach seinem Referendariat stieg er als Klassenlehrer für die sechste Klasse ein. Daniel Maas unterrichtet Mathematik und katholische Religionslehre, ist zuständig für den IT-Bereich und gehört zum Organisationsteam, das unter anderem die Stundenpläne entwickelt. „Wir haben damals 200 Prozent gegeben und hatten auch Bock darauf“, erzählt er. Auf Dauer sei das nicht zu stemmen gewesen. Doch als die Erstarbeit abgehakt war und routinierte Lehrkräfte das Team mit ihren Erfahrungen und Ideen ergänzten, konnte das Kollegium seine Energien anders bündeln. „Wir haben es geschafft, uns so zu strukturieren, dass über die Jahre ein organisches Ganzes entstanden ist“, sagt die Schulleiterin. Dabei habe sie auch aus Fehlern gelernt. Anfangs habe sie ihre Rolle so verstanden, dass sie möglichst viel kontrollieren muss: „Ich habe schnell gemerkt, dass das Unsinn ist. Ich bin selbst die größte Bremse in meinem System, wenn alles über mich laufen muss.“ Seither setzt Sabine Kreutzer auf Vertrauen und verteilt Zuständigkeiten: „Wenn jemand zu mir kommt und sagt, wir brauchen unbedingt Schulsanitäter, dann antworte ich: Okay, was benötigst du, damit du das machen kannst?“

Das gilt für die gesamte Schulgemeinschaft. Beim „Schulentwicklungsbasar“ können Eltern und Schülerschaft gemeinsam mit der Schulleitung und dem pädagogischen Team Ideen sammeln, um den Ist-Zustand zu verbessern. Sobald sich für eine Idee zwei Interessierte gefunden haben, die das Vorhaben umsetzen wollen, wird ein entsprechender Arbeitskreis gegründet. Der Arbeitskreis „Fridays for Future“ beispielsweise wünscht sich mehr Klimaneutralität im Schulalltag. „Die Schulkonferenz hat daraufhin die Benutzung von Einweggeschirr verboten. Wir kaufen jetzt Geschirr mithilfe des Förderkreises“, erklärt Sabine Kreutzer und ergänzt: „Die Rollen verkehren sich. Die Schulleitung hilft bei der organisatorischen Umsetzung, die Ideen kommen von anderen. Es macht die Kinder selbstbewusst, wenn sie solch einen Arbeitskreis leiten.“

Auch den Namen der Schule haben die Kinder und Jugendlichen mit ausgewählt. Die Lehrerin Marie Kahle unterstützte während der Zeit des Nationalsozialismus jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in Bonn, bevor sie mit ihrer Familie nach London emigrierte. „Unsere Namensgeberin hält uns dazu an, in kleinen Dingen groß zu sein. Respekt und Freundlichkeit liegen uns am Herzen“, sagt Sabine Kreutzer.

Dem kann Lina nur zustimmen. „Wir haben ein großes, buntes Miteinander. Das schätze ich sehr“, sagt die 15-jährige Schülerin der zehnten Klasse. Seit der sechsten Klasse engagiert sich Lina in der Schülervertretung, seit einigen Jahren ist sie sogar Schülersprecherin. Es motiviert sie, ihre Schule aktiv mitgestalten zu können: „Wir haben in der Schulkonferenz, unserem obersten Gremium, genauso viele Plätze wie die Lehrkräfte und Eltern und können bei allen Entscheidungen mitreden.“ Besonders viel Spaß machen ihr Projekte wie die Nikolaus-Aktion. Dann verkauft die Schülervertretung Nikoläuse aus Fair-Trade-Schokolade – „Schließlich sind wir eine Fair-Trade-Schule!“ – an Schülerinnen und Schüler, die diese weitergeben können. „Die Aktion sorgt jedes Mal für ein großes Hallo. Darin sehen wir auch unsere Aufgabe als SV. Wir sind dafür da, dass die Schülerinnen und Schüler einen schöneren Schulalltag haben und gern hierherkommen“, sagt Lina.

Für Lina war nach der Grundschule klar, dass sie auf eine Gesamtschule gehen möchte. Ihr ist es wichtig, dass alle Kinder gemeinsam lernen. Mehrere Schulen standen zur Auswahl, doch erst die Marie-Kahle-Gesamtschule mit ihrem Dalton-Konzept hat sie und ihre Eltern überzeugt. Ziel der Dalton-Pädagogik ist es, dass die Lernenden sich den Unterrichtsstoff weitestgehend selbst aneignen – etwas, das Lina sehr gut liegt: „Ich arbeite gern für mich. Ich mag es, auf diesem Weg mehr Abwechslung im Unterricht zu haben. Man muss nicht immer nur dem Lehrer zuhören, sondern hat regelmäßig Phasen, in denen man sich selber organisieren muss.“

An der Marie-Kahle-Gesamtschule zieht sich Dalton wie ein roter Faden durch den Schultag. Zweimal täglich finden die Dalton-Stunden statt. Dann stehen alle Türen offen, und die Lernenden können sich selbst aussuchen, was sie wo mit wem bearbeiten. Lehrer Daniel Maas ist bis heute fasziniert davon, Dalton in der Praxis zu beobachten: „Es werden neue Interaktionen möglich, Unterricht findet ganz anders statt – wenn zum Beispiel Kinder aus der fünften und der dreizehnten Klasse zusammen in einem Fachraum sitzen und plötzlich der Abiturient den Jüngeren fragt, warum er sich gerade mit diesem Experiment beschäftigt.“

Auch bei der Inklusion, für deren vorbildliche Umsetzung die Marie-Kahle-Gesamtschule letztes Jahr mit dem Jakob Muth-Preis ausgezeichnet wurde, wird auf die Dalton-Pädagogik gesetzt. „Das heißt: Lernen gelingt umso erfolgreicher, je besser die Parameter zum Kind passen“, erklärt Sabine Kreutzer. Konkret bedeutet das, dass Schülerinnen und Schüler, die zum Beispiel in Mathematik eine besondere Förderung brauchen, vorübergehend das Lernzentrum besuchen und in einer kleinen Gruppe an einem speziellen Thema arbeiten, das ihnen Schwierigkeiten bereitet. „Wenn sie möchten, können sie auch einen Freund in das Lernzentrum mitnehmen. Sobald sie mit dem Stoff zurechtkommen, verlassen sie das Lernzentrum wieder“, sagt Sabine Kreutzer und ergänzt: „Bei uns gibt es keine Förderzuweisungen. Ich bin überzeugt davon, das bringt nichts. Kinder nehmen Bildungsbegrenzungen wahr und ruhen sich vielleicht darauf aus.“

Viel lieber möchte Sabine Kreutzer, dass ihre Schülerinnen und Schüler zu träumen wagen – von Berufen, die sie eines Tages ausüben wollen, und Erfolgen, die sie sich für ihre Zukunft wünschen. „Wir wollen Kinder stark machen“, sagt sie. Das gelingt der Marie-Kahle-Gesamtschule: Viele Schülerinnen und Schüler, die mit Hauptschulempfehlung und ohne Perspektive hierherkamen, schaffen das Abitur. Besonders stolz ist Sabine Kreutzer auf zwei syrische Flüchtlinge, die 2015 ohne Deutschkenntnisse an die Schule kamen und jetzt ihr Abi machen – auch dank der Unterstützung ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler. Sabine Kreutzer weiß: „Zusammen kriegen wir das hin.“