Porträt
Hässlich, desolat, marode, extrem schief, gruselig – die Attribute, mit denen Mitglieder der Schulgemeinschaft das schwarz gestrichene Gebäude des Gymnasiums Essen Nord-Ost beschreiben, klingen vernichtend. Vor zwei Jahren feierte die Schule ihr 50-jähriges Jubiläum, und tatsächlich hat die Zeit Spuren hinterlassen. Der Boden ist infolge des unterirdischen Steinkohleabbaus in der Region deutlich abgesenkt. Das in den 1970er-Jahren erbaute Schulhaus „weist zahlreiche Schadensbilder auf und entspricht weder den heutigen energetischen noch den pädagogischen Anforderungen“, heißt es in einer Ausschreibung der Stadt Essen, die das alte Gebäude abreißen und direkt daneben einen Neubau errichten will.
Das sind gute Nachrichten für Schulleiter Udo Brennholt: „Wir konnten bei der Planung mitreden. Künftig werden wir zum Beispiel Differenzierungsräume und Jahrgangshäuser haben. Gut ist, dass der Unterricht im alten Gebäude so lange stattfinden kann, bis der Neubau 2023 fertig ist. Wir müssen nicht übergangsweise in Containern arbeiten, sondern können direkt von Tür zu Tür umziehen. Auch unser schönes Außengelände mit Beachvolleyballanlage und Klettergerüsten soll danach wieder neu angelegt werden – dort, wo sich jetzt noch das Schulhaus befindet.“ Doch eine Sorge treibt Udo Brennholt bei dem Gedanken an den bevorstehenden Umzug um. „Ich möchte unsere gute Atmosphäre nicht verlieren“, sagt er. Schülerin Alexandra kann ihn verstehen. „Unser Schulgebäude macht wirklich viel aus. Wir fühlen uns hier ausgesprochen wohl, und zwar genau so, wie es ist“, erklärt sie. Trotzdem ist sie zuversichtlich, dass es dem Gymnasium gelingen wird, den Spirit der Schule mit in das neue Gebäude zu nehmen: „Was die Schule ausmacht, ist ja nicht das Haus, sondern die Menschen darin.“
Die Menschen darin – das sind über 70 Lehrkräfte sowie rund 850 Schülerinnen und Schüler. 90 Prozent von ihnen kommen aus Familien mit einem Migrationshintergrund. Kinder aus 60 Nationen besuchen das Gymnasium Essen Nord-Ost, kurz GENO. Nur 16 von 111 Eltern der Kinder des fünften Jahrgangs geben an, dass die Familiensprache Deutsch ist. „Wir werden oft gefragt, wie wir an unserer Schule mit dieser Vielfalt umgehen. Das macht mich immer ganz traurig“, sagt Alexandra und ergänzt: „Das klingt so, als wäre es ein Nachteil, mit dem wir zu kämpfen haben. Viel lieber würde ich hören: Sag mal, es muss schön sein, mit so vielen unterschiedlichen Menschen zur Schule zu gehen.“ Denn Alexandra ist stolz auf ihre Schule. „Wir haben unsere eigene, vielfältige Kultur. Das ist eine tolle Sache, denn dadurch haben wir die Möglichkeit, unsere eigene Perspektive zu erweitern, voneinander und fürs Leben zu lernen.“
Sandra Sak sieht das genauso. Sie ist seit 13 Jahren mit der Schule verbunden. Zwei ihrer drei Kinder haben das Abi hier gemacht, ihre jüngste Tochter ist gerade in der sechsten Klasse. Sie kann nicht nachvollziehen, warum manche Eltern wegen der Zusammensetzung der Schülerschaft ihre Kinder lieber auf eines der zwei benachbarten Gymnasien schicken. Gleich vom ersten Tag an wussten Sandra Sak und ihre Familie, dass das Gymnasium Essen Nord-Ost „ihre Schule“ ist: „Vielleicht ist für manche das Äußere der Schule etwas abschreckend, aber sobald man ins Foyer tritt, ändert sich das sofort. Diese Vielfalt! Dieser Frieden! Diese Atmosphäre!“
Sandra Sak setzt sich als Schulpflegschaftsvorsitzende für das Gymnasium ein. Es ist ihr ein Anliegen, die Eltern in die Arbeit der Schule mit einzubeziehen. Die Elternschaft ist so engagiert, dass sich manche Mütter und Väter über die Schulzeit ihrer Kinder hinaus aktiv beteiligen. „Unsere Bibliothek leitet zum Beispiel eine Mutter, deren Kind längst nicht mehr bei uns ist“, sagt Sandra Sak. Sie findet: „Unsere Schule ist ein Zuhause. Wir sind wie eine große Familie.“ Das merkt sie nicht nur durch ihre Arbeit für die Schule, sondern vor allem an ihren Kindern, die ein besonderes Verhältnis zu ihren Lehrkräften haben. „Das ist eine Beziehung auf Augenhöhe“, so Sandra Sak. Das ginge sogar so weit, dass sie manchmal einen Anruf von ihrer Tochter bekommt, die darum bittet, noch länger bleiben zu dürfen. „Mama, ich möchte noch weiter meinen Kürbis schnitzen“, heißt es dann. Bereits seit 1990 bietet das Gymnasium Essen Nord-Ost eine Ganztagsbetreuung und kooperiert seit Kurzem mit der Sport Jugend Essen, um das Angebot zu erweitern.
Auch Alexandra hat sich gleich willkommen gefühlt, als sie vor sechs Jahren ihren ersten Schultag am Gymnasium Essen Nord-Ost hatte. Damals sprach sie kein Wort Deutsch – Alexandra zog 2014 mit ihrer Familie von Griechenland nach Deutschland. „Ich habe mich aus Protest geweigert, die neue Sprache zu lernen. Ich wollte mein Zuhause nicht verlassen“, erzählt sie. Doch die fremde Sprache habe sie fasziniert, und schnell merkte Alexandra, dass sie Deutsch sprechen muss, um in der neuen Heimat zurechtzukommen. „Mir blieb dank meiner Mitschülerinnen und Mitschüler auch nichts anderes übrig. Sie haben sich geweigert, mit mir Englisch zu reden, damit ich möglichst schnell Deutsch lerne“, sagt sie und lacht. Die Klasse sei ihr eine große Hilfe gewesen. „Doch besonders der Deutsch-Intensivunterricht hat mich vorangebracht“, sagt Alexandra.
Schon zehn Jahre zuvor hat sich das Gymnasium Essen Nord-Ost auf Kinder ohne oder mit nur geringen Deutschkenntnissen spezialisiert. „Wir haben uns zu Experten in diesem Gebiet entwickelt. Als dann 2015 die Flüchtlingskrise kam, waren wir sehr gut vorbereitet“, erklärt Schulleiter Udo Brennholt. Anfangs waren diese Schülerinnen und Schüler alle in einer eigenen Klasse und wurden besonders gefördert. Mittlerweile sind sie über alle Klassen verteilt. Mit ungefähr 20 Unterrichtsstunden pro Woche werden die Kinder gezielt in der deutschen Sprache unterrichtet, Fächer wie Musik und Sport haben sie aber in ihrer Klassengemeinschaft. „So gehören sie von Anfang an dazu“, sagt Udo Brennholt. Er ist stolz auf die vielen Kinder, die in der fünften oder sechsten Klasse ohne Deutschkenntnisse zu ihnen kommen und dann später mit einer Eins das Abitur abschließen.
Alexandra lernte so erfolgreich, dass sie nach wenigen Monaten den Intensivkurs beendete, um zusätzlich Latein zu lernen. „Die anderen Kinder waren mir sieben Lektionen voraus. Ich konnte den Rückstand aber aufholen“, erzählt Alexandra. Im vergangenen Schuljahr bestand Alexandra ihr Latinum mit „summa cum laude“ – der höchsten Bewertung – als einzige in ihrer Klasse. Ihre Noten in Deutsch sind gut bis sehr gut.
Trotzdem bleibt Alexandra genug Zeit für ihr Amt als Schülersprecherin. „Die Schülervertretung spielt eine große Rolle bei uns. Im Prinzip hängen wir überall mit drin. ‚Selbstbestimmt leben, nachhaltig lernen, mitgestalten‘ heißt unser Motto, das sich an das Schulleitbild ‚Leben – Lernen – Gestalten‘ anlehnt“, sagt sie. Das Gymnasium Essen Nord-Ost versucht, seine Schülerinnen und Schüler in die Verantwortung zu nehmen und Selbstbewusstsein aufzubauen. „Die SV initiiert viele Projekte. Die Veranstaltungsreihe ‚GENO spricht …‘ ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür“, sagt Udo Brennholt. Für dieses Format lädt die SV Gäste zu öffentlichen Gesprächsrunden ein, um die politische und gesellschaftliche Bildung der Schülerinnen und Schüler voranzutreiben.
Immer wieder ist Udo Brennholt auch vom Achtsamkeitstraining beeindruckt. Die Kinder der fünften Klasse üben dabei zum Beispiel, mit geschlossenen Augen und ohne zu reden ein bis zur Oberkante gefülltes Glas weiterzureichen, ohne Wasser zu verschütten. „Die Kinder lernen so, sich auf den Unterricht zu fokussieren. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet, und tatsächlich lässt sich nachweisen, dass der Stresspegel signifikant sinkt“, erklärt der Schulleiter.
Als sich das Gymnasium Essen Nord-Ost 2017 für den Deutschen Schulpreis beworben hatte, schaffte es die Schule unter die TOP 20 und bekam damit einen Platz im zweijährigen Entwicklungsprogramm, das jährlich bis zu 20 Schulen unterstützt und begleitet. „Wir haben daran gearbeitet, unsere Schwerpunkte stärker herauszustellen und einen roten Faden für unsere vielen Projekte zu finden“, sagt Udo Brennholt. Und dabei haben sie gemerkt, dass es ganz gut ist, was sie am GENO machen.