Porträt
Abdul ist Mitte zwanzig, als er im Sommer 2015 mit seiner Mutter und seinen zwei kleinen Schwestern aus Afghanistan nach Deutschland flüchtet. Drei Monate lebt die Familie in einer Notunterkunft, bis sie am 1. Oktober endlich in ihr eigenes Zuhause in das südniedersächsische Dorf Greene ziehen kann. „Gleich am nächsten Morgen bin ich zur Bushaltestelle gegangen, ohne zu wissen, wann der nächste Bus kommt“, erzählt Abdul. Doch er hat Glück: Schon nach einer halben Stunde hält der erste Bus. Deutsch kann Abdul zu diesem Zeitpunkt noch nicht sprechen, dafür beherrscht er die englische Sprache fließend. „Ich habe dem Busfahrer erklärt, dass ich gern in eine Stadt fahren möchte“, erinnert er sich. Zwanzig Minuten später steigt Abdul in Einbeck aus und spricht ein paar Leute an: „Wo finde ich hier eine Schule, damit ich Deutsch lernen kann?“ Eine alte Frau hilft ihm und gibt ihm die Adresse der BBS Einbeck.
Die Abkürzung BBS steht für Berufsbildende Schulen. An der BBS Einbeck lernen rund 1.300 Schülerinnen und Schüler in mehr als 60 Klassen. Sie können in den vier Abteilungen „Berufliche Gymnasien und Pflanzentechnologie“, „Farbtechnik und Gestaltung“, „Sozialpädagogik – Pflege – Hauswirtschaft“ sowie „Wirtschaft und Informatik“ jeden schulischen Bildungsabschluss machen. Der Ausbildungsgang Pflanzentechnologie ist in Deutschland einzigartig. Schülerinnen und Schüler aus allen Bundesländern kommen für den schulischen Teil dieser dualen Berufsausbildung in die Kleinstadt, die nur wenige Kilometer westlich vom Harz liegt.
Abdul folgt dem Rat der alten Dame und geht zur Schule. Dort trifft er im Sekretariat auf Renatus Döring, den Schulleiter. Der nimmt sich Zeit für Abdul, hört sich seine Geschichte an, lässt sich die Zeugnisse zeigen und spricht mit Kathrin Düvel. Sie leitet die Abteilung „Sozialpädagogik – Pflege – Hauswirtschaft“ und ist zuständig für die erst vor einem Monat neu gegründete Sprachförderklasse für zugewanderte Jugendliche und junge Erwachsene. „Herr Döring hat dann zu mir gesagt: Sie müssen bitte heute sofort in die Klasse gehen. Nicht nächste Woche, nicht übermorgen. Jetzt!“, erzählt Abdul und fügt hinzu: „Ich habe noch am selben Tag mit dem Deutschunterricht angefangen.“
Renatus Döring ist bereits seit 2001 Mitglied der Schulleitung an den Berufsbildenden Schulen Einbeck, seit 2011 leitet er die Einrichtung. Für ihn ist es selbstverständlich, zu helfen: „Das machen wir sowieso. Wann immer es geht, setzen wir uns für unsere Schülerinnen und Schüler ein.“ Deshalb gehört eine fest angestellte Schulsozialarbeiterin zum Kollegium. Sie berät die Lernenden in privaten, familiären und psychosozialen Notsituationen und unterstützt die Schule bei der Entwicklung von Präventionsprojekten oder Angeboten zur Berufsorientierung. Außerdem kooperiert die BBS Einbeck mit zahlreichen Netzwerkpartnern, um ihren Schülerinnen und Schülern bestmöglich zur Seite zu stehen. Jährlich veranstaltet die Schule eine „Beratungsstellenmesse“. Dann können sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen über Unterstützungsmöglichkeiten in den verschiedensten Notlagen informieren.
Die Schülerin Sharice hat in der Vergangenheit schon mehrfach vom engmaschigen Hilfsnetz profitiert. „Hier geht wirklich jeder auf jeden ein und gibt die nötige Unterstützung“, sagt die 20-Jährige. Sie wollte sich nach ihrem erweiterten Realschulabschluss für das Abitur mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik am Beruflichen Gymnasium anmelden. „Ein Lehrer vom Fachbereich Wirtschaft hat mich beraten und mir die Heilerziehungspflege empfohlen. Ich wusste gar nicht, dass es das gibt, dabei passt es perfekt zu mir“, erzählt Sharice. Sie ist inzwischen im dritten Jahr, im Sommer will sie die Fachschule Heilerziehungspflege erfolgreich abschließen. „Wenn alles gut geht, habe ich danach sogar schon meinen ersten Job sicher und kann bei der Lebenshilfe anfangen“, sagt Sharice. Im kommenden Jahr möchte sie parallel mit dem Fernstudiengang „Sozialpädagogik & Management“ beginnen, den die BBS Einbeck in Kooperation mit der Bielefelder Fachschule des Mittelstands ab Oktober 2020 erstmalig anbietet.
Die individuelle Unterstützung ist nur ein Aspekt von vielen, die für Sharice die BBS Einbeck zu einer ganz besonderen Schule machen. Obwohl die Schule so groß sei, fühlt sie sich „total vertraut“ an. „Ich habe viele Freunde und Bekannte auch in den anderen Abteilungen. Sogar zum Schulleiter haben wir ein gutes Verhältnis. Herr Döring kennt viele von uns persönlich. Ich schätze das freundliche Auftreten der Schule sehr“, sagt Sharice. Sie ist stolz darauf, dass sich die BBS Einbeck am Projekt „Humanitäre Schule“ beteiligt hat. Ziel der Kampagne ist es, dass Jugendliche soziale Verantwortung übernehmen – das liegt auch Sharice am Herzen. Deshalb hat sie zusammen mit anderen Schülerinnen und Schülern der Heilerziehungspflege das „BBS Outlet“ konzipiert. „Vielen von uns fehlen die finanziellen Möglichkeiten, neue oder moderne Kleidung zu kaufen. Deshalb hatten wir die Idee zu einer Kleiderbörse“, erklärt Sharice und ergänzt: „Wegen der Corona-Krise mussten wir die Eröffnung verschieben. Ich hoffe, es kann im nächsten Schuljahr losgehen.“
Renatus Döring ist offen für neue Ideen wie diese. Seit 2003 verfolgt die BBS Einbeck den Anspruch, Schule und Unterricht maßgeblich aus der Perspektive der Lernenden zu entwickeln. Diese Haltung spiegelt sich auch im Grundsatz „Die Schülerinnen und Schüler im Fokus, das Kollegium im Blick“ wider. „Es dreht sich alles um die Lernenden. Guter Unterricht muss so gestaltet sein, dass auch die Schülerinnen und Schüler damit zufrieden sind“, erklärt der Schulleiter. Um das zu gewährleisten, setzen er und sein Kollegium auf ein für viele Schulen ungewöhnliches Instrument: Schülerinnen und Schüler geben ihren Lehrkräften einmal pro Jahr ein personenbezogenes Feedback. Die Ergebnisse bleiben nicht nur bei der Lehrkraft, sondern werden mit den Lernenden besprochen und gehen auch an die Schulleitung. „Das ist ziemlich einmalig in Deutschland, ich kenne keine Schule, die ähnlich vorgeht“, sagt Renatus Döring. Die Rückmeldungen werden dann mit der zuständigen Abteilungsleitung besprochen. Renatus Döring legt Wert darauf, dass es bei diesen Gesprächen nur um zwei Ziele geht: „Gute Arbeit soll anerkannt werden. Wir wollen guten Unterricht loben. Das können wir bestimmt in vier von fünf Fällen. Wenn aber Unterricht nicht gut gelingt und es Schwierigkeiten gibt – häufig in der Beziehungsgestaltung –, dann schauen wir zusammen mit der Lehrkraft, wie wir sie unterstützen können und die Zufriedenheit der Schülerinnen und Schüler steigt.“
Bereits 2017 hatte sich die BBS Einbeck um den Deutschen Schulpreis beworben. Sie schaffte es auf Anhieb unter die TOP 20 und damit in das zweijährige Entwicklungsprogramm, das jedes Jahr bis zu 20 Schulen unterstützt und begleitet. „Dabei haben wir unser Bild von ,gutem Unterricht‘ wieder weiterentwickelt. Wir wollen noch stärker differenzieren, individualisieren und kompetenzorientierter unterrichten“, erklärt Renatus Döring.
Auch Abdul hat sich seit seinem ersten Besuch im Sekretariat der BBS Einbeck weiterentwickelt: Ein halbes Jahr lang lernte er in der Sprachförderklasse intensiv Deutsch, im April 2016 erhielt er sein Deutsch-Zertifikat B1, das ihm eine selbstständige Verwendung der deutschen Sprache bescheinigt. Ein zweiwöchiges Praktikum bei einem Einbecker Betrieb folgte, danach kam Abduls große Chance: ein Vorstellungsgespräch für eine duale Ausbildung zum Industriekaufmann. „Ab dem 1. August 2016 war ich also Azubi, kein Jahr nachdem ich in Deutschland angekommen bin“, erzählt der inzwischen 31-Jährige stolz. Vor allem der schulische Teil der Ausbildung war für ihn eine große Herausforderung. „Obwohl ich in meiner Heimat BWL auf Englisch studiert habe, war es schwer für mich, die vielen Fachbegriffe zu verstehen. Wenn die Klasse an Aufgaben gearbeitet hat, kam die Lehrerin zu mir und erklärte den Stoff in Ruhe. Manchmal haben wir dafür auch einen Extra-Termin in den Pausen vereinbart“, sagt er. Die Mühe und Unterstützung hat sich ausgezahlt: Abdul bestand seine Ausbildung und arbeitet heute erfolgreich als Industriekaufmann.