Eigenverantwortliches Lernen und konstruktive Unterstützung am St.-Pius-Gymnasium Coesfeld

 

Stärkenorientiert und in wertschätzender Atmosphäre lernen die Schüler:innen am katholischen St.-Pius-Gymnasium in Coesfeld. Im Interview erzählt Jurymitglied Isabella Keßler von einer Schule, in der guter Unterricht, konstruktive Unterstützung und ein zeitgemäßer Umgang mit Vielfalt an erster Stelle stehen.

Frau Keßler, Sie haben das St.-Pius-Gymnasium in Coesfeld besucht. Was fiel Ihnen dort als Erstes positiv auf?
Die offene und positive Atmosphäre, die überall spürbar ist. Wir haben uns gleich wohlgefühlt, und unser Eindruck eines wertschätzenden Miteinanders in der Schulgemeinschaft hat sich während des Besuches bestätigt. Die Schule hat das Raumkonzept des Klassenzimmers aufgebrochen und nutzt Flure und Hallen als Lernorte. Dort konnten wir viel beobachten.


Welche Beobachtung hat Sie besonders beeindruckt oder überrascht?
Mich hat die ruhige und gleichzeitig geschäftige Arbeitsatmosphäre überrascht. Ab der 8. Klasse haben alle Schüler:innen ein Tablet, mit dem sie Lernpakete bearbeiten. Durch das freie Unterrichtssetting ist die Lehrkraft nicht nur im Klassenraum, sondern auch auf dem Flur präsent und fungiert als Anlaufstelle, falls jemand Hilfe braucht. Eigenverantwortliches Lernen wird von Anfang an systematisch aufgebaut.


Was hat Ihnen gezeigt, dass die Schüler:innen dort guten Unterricht erleben?
Die Unterrichtsmaterialien und die Lernpakete sind so aufbereitet, dass die Schüler:innen selbst damit arbeiten können. Das ist kein reines Abarbeiten von Aufgaben, sondern inhaltlich vielfältig und anregend – einige Schüler:innen führten Interviews, andere testeten eine App. Auch die Tiefenmerkmale von Unterricht begegneten uns überall. So führten Lehrkräfte mit Schüler:innen Diskurse auf Augenhöhe, und es wurde gemeinschaftlich nach dem Warum gefragt.


Was ist an dieser Schule besonders innovativ?
Die Form der konstruktiven Unterstützung, die von Anfang an eine große Rolle spielt. Hat jemand wiederholt Probleme im Lernprozess, bieten Lehrkräfte frühzeitig Lerncoachings an. Tagesziele helfen, das eigene Leistungsvermögen realistisch einzuschätzen. In vier sogenannten Sternstunden pro Woche erkunden Kinder der 5. und 6. Klasse etwa, wie sie sich am besten selbst organisieren können. Für Schüler:innen ab Stufe 7 stehen stärkenorientierte „Profile im Angebot“ zur Auswahl, die sogenannten PiA-Kurse. Hier probieren sie sich in Schwerpunkten wie kreativem Schreiben oder forensischer Chemie aus.

Woran haben Sie erkannt, dass diese Konzepte wirksam sind?
Was die Abschlussquoten angeht, liegt das Gymnasium über dem Landesdurchschnitt. Doch die viel stärkere Wirksamkeit sehe ich in der sehr geringen Abbruchquote. Dort werden Bildungsbiografien ohne Brüche gestaltet. Eine andere Facette von Wirksamkeit zeigte sich in Gesprächen mit älteren Schüler:innen und Eltern. Dabei wurde deutlich, dass die Absolvent:innen des St.-Pius-Gymnasiums eine Idee davon haben, wer sie sind, was sie können und wo sie hinwollen. Diese Art von Wirksamkeit ist extrem wertvoll und lässt sich nicht in Zahlen messen.

Das St.-Pius-Gymnasium ist eine katholische Schule, die sich offen mit dem Thema Vielfalt auseinandersetzt. Wie haben Sie das während Ihres Besuches erlebt?
Über dem Eingang der Schule weht eine Regenbogenflagge, es gibt regelmäßig Projekte zum Thema Vielfalt und eine kritische Reflexion in Bezug auf die zeitgemäße Übersetzung der Werte der katholischen Kirche. Bei einer Schulreise setzten die 682 Schüler:innen auf dem Petersplatz in Rom mit einem Gruppenfoto in regenbogenfarbenen T-Shirts ein Zeichen für Vielfalt. Schüler:innen erzählten uns, dass sich Mitschüler:innen im Zuge eines Vielfaltsprojektes geoutet haben und dass deswegen an dieser Schule niemand bloßgestellt wird. Eine Schülerin, die Person of Color ist, berichtete, dass sie sich mit ihren Themen an dieser Schule sehr gesehen fühlt und in puncto Vielfalt keine Gleichmacherei betrieben wird.

Was können andere Schulen vom St.-Pius-Gymnasium lernen?
Den Mut und das Vertrauen zu entwickeln, Schüler:innen Verantwortung zu übertragen. Über allem steht am St. Pius-Gymnasium der Wunsch und Wille, Schule gemeinsam mit allen Mitgliedern der Schulgemeinschaft zu gestalten. Und das immer vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen christlichen Werten.  
 
Zur Person
Isabella Keßler ist Landesfachberaterin im Bereich „Qualitätssicherung an allgemeinbildenden Schulen“ im Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes.