Lerndiagnostik und datengestützte Unterrichtsentwicklung an der Rothenburg-Grundschule

 

Die inklusive Berliner Grundschule setzt auf multiprofessionelle Teams, um gemeinsam Unterricht zu entwickeln. Je nach individuellem Stand bekommen die Schüler:innen ein passgenaues Lernangebot. Wie die Rothenburg-Grundschule dies konkret umsetzt, hat Jurymitglied Hermann Veith während seines Schulbesuches beobachtet.

Wären nicht die Kinder, würde man nicht vermuten, dass sich in dem vierstöckigen ehemaligen Finanzverwaltungsgebäude in der Rothenburgstraße im Berliner Stadtteil Steglitz eine staatliche Grundschule befindet. Doch tatsächlich lernen hier 280 Schüler:innen in zwölf jahrgangsgemischten Lerngruppen, die die Klassenstufen 1 bis 3 und 4 bis 6 verbinden. Dafür nutzt die inklusive Schule jeden freien Winkel, vom Keller bis zum Dachgeschoss. In der zweiten Etage arbeiten die Kinder in Gruppen und lösen gemeinsam kleine Kettenaufgaben. Sie besprechen das Problem, suchen nach unterschiedlichen Lösungswegen und einigen sich auf den plausibelsten. Dann gehen sie zurück ins Klassenzimmer und versuchen mit den Lösungszahlen einen Zahlencode zu knacken. Gelingt es ihnen nicht, suchen sie zusammen nach Fehlern. In einer anderen Etage sitzen die Kinder in Dreiergruppen verstreut auf dem Flur. Überall hört man leise Stimmen: Die Schüler:innen üben dialogisches Lesen. Zum Ende der Doppelstunde sollen sie im Klassenzimmer ihre Ergebnisse präsentieren. Die erste Gruppe meldet sich. Drei Kinder treten mit ihren kleinen Leseskripten in der Hand vor und setzen ihr Gespräch in Szene. Am Ende gibt es Applaus und wertschätzende Kritik der Mitschüler:innen. Diese ist so präzise, dass die Lehrkraft nur noch zu erläutern braucht, warum bestimmte Stilmittel so effektiv sind. Andere Gruppen folgen – und die Leseanfänger:innen, die zum ersten Mal vor großem Publikum stehen, sind sichtlich stolz.

Rituale und Routinen

Die rhythmisierten Schultage beginnen in allen Klassen mit einem Morgenkreis. Durch die Sozialisation im Setting des jahrgangsübergreifenden Lernens bestens vorbereitet, kennen die Kinder die ritualisierten Abläufe sehr genau. Sie begrüßen den Tag, berichten über Vorkommnisse und besprechen die Stundenplanung. Im Anschluss an den Morgenkreis arbeiten die Schüler:innen an den gleichen Themen, aber auf unterschiedlichen Lernniveaus. Der Unterricht ist binnendifferenziert, wobei die Grund- und Sozialformen immer wieder wechseln. Zu Beginn und am Stundenende dominieren Plenumsphasen, dazwischen arbeiten die Schüler:innen allein oder mit anderen in Tandems und Kleingruppen.

Passgenaue Lernangebote

Die Lehrer:innen wollen die Kinder in passenden Formen ermutigen, sich etwas zuzutrauen. Besonderen Wert legen sie darauf, dass die Kinder selbstständig lernen und möglichst viel lesen. Zur gezielten Leseförderung hat das Kollegium ein schuleigenes, aus unterschiedlichen Teilmodulen aufgebautes Konzept zur Leseförderung entwickelt. Regelmäßig überprüft die Schule die Lesefähigkeiten der Kinder mit testdiagnostischen Methoden und belegt so die Wirksamkeit ihres Konzeptes. Tatsächlich zeigt die Forschung, dass eine systematische Lernprozessdokumentation die Grundvoraussetzung für adaptiven Unterricht und personalisiertes Lernen ist. Auch in weiteren Fächern werden die Lern- und Entwicklungsstände in allen Klassen mithilfe von standardisierten Tests erfasst. So können die Lehrkräfte die Lernfortschritte aller Schüler:innen über die Schuljahre hinweg genau beobachten. Bleiben die Kinder hinter den Erwartungen, erhalten sie über den binnendifferenzierten Unterricht hinaus gezielte Fördermaßnahmen, allein oder in Gruppen. Grundlage dafür ist der Ansatz „Response to Intervention“: Bei fachlichen und sozialen Auffälligkeiten reagiert das Kollegium unmittelbar und erstellt personalisierte Lernangebote. Dadurch gelingt es der Rothenburg-Grundschule, nah am Lernen der Kinder zu sein und die Grundprinzipien der Montessori-Pädagogik, an denen sie sich orientiert, mit einem wissenschaftlich fundierten, diagnostikbasierten und präventiven inklusionspädagogischen Ansatz zu verknüpfen.

Das Lernen der Kinder steht im Zentrum

Die Testergebnisse der datengestützten Lernprozessbegleitung nutzt die Rothenburg-Grundschule zur gemeinsamen und evidenzbasierten Unterrichtsentwicklung. Dafür hat sie Teamstrukturen institutionalisiert und feste Kooperationszeiten im Arbeitsplan verankert. Das Kollegium berät Entwicklungsvorhaben und evaluiert durchgeführte Maßnahmen, bevor sie fest implementiert werden. Dabei steht immer das Lernen der Schüler:innen im Zentrum. Diesen Fokus verfolgt die Schule konsequent: Schwerpunktthema der wöchentlichen Beratung der Klassenteams ist die Lernentwicklung der Kinder. Neben den zwei Klassenlehrkräften gehören zum Klassenteam auch die Erzieher:innen, die das offene Ganztagsangebot gestalten. Um Schule und Ganztag zu verschränken, arbeiten die pädagogischen Fachkräfte in festen Klassenordnungen stundenweise im morgendlichen Unterricht mit. Knapp zwei Drittel der Kinder, die die Rothenburg-Grundschule besuchen, nutzen das offene Ganztagsangebot, das vom Nachbarschaftsheim Schöneberg getragen wird.

Im Kollegium der Schule ist zu spüren, dass alle Schulmitglieder von der am Lernen der Schüler:innen ansetzenden partizipativen Schulprogrammarbeit profitieren. Doch vor allem wird an der Rothenburg-Grundschule in beispielgebender Weise sichtbar, wie Grundschulen inklusionspädagogisch mit den dafür erforderlichen diagnostischen Instrumenten und Fördermaterialien erfolgreich arbeiten können.

Zur Person

Hermann Veith ist Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialisationsforschung an der Georg-August-Universität Göttingen.