Porträt

Jonas* braucht mehr Schlaf als andere Kinder. Ein normaler Schultag kostet ihn so viel Kraft, dass er im Unterricht immer wieder wegnickt. Manchmal ist er so erschöpft, dass nur ein richtiges Schläfchen hilft. Wenn Jonas schlummert, ziehen sich die anderen Kinder seiner Klasse leise in den Nachbarraum zurück, legen sich aufs Sofa und lesen sich gegenseitig etwas vor. „Es herrscht eine familiäre Atmosphäre. Die Türen bleiben offen, und die Kinder schauen wie in einer Familie nach, ob er wach ist, wann er zurückkommt oder ob sie sich vielleicht noch dazulegen“, sagt Alexandra Vanin.

Sie ist seit 2014 Schulleiterin an der Otfried-Preußler-Schule Hannover, einer barrierefreien Grundschule, die sich seit mehr als zehn Jahren der Inklusion verpflichtet hat. Der erst vier Jahre alte Neubau ist so ausgestattet, dass alle Kinder die Grundschule besuchen können – unabhängig von Sinnes- oder Körperbeeinträchtigungen. „Wir haben vom Fahrstuhl bis zum Pflegebad alles, was man aus medizinischer oder pflegerischer Sicht benötigt“, erklärt Alexandra Vanin. Rund 16 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Für Kinder wie Jonas ist es wichtig, dass Lernbarrieren abgebaut werden. Doch die Otfried-Preußler-Schule versteht unter „barrierefrei“ mehr als nur den technischen Aspekt: „Barrierefreier Umgang heißt für uns, dass wir alle so annehmen, wie sie sind“, sagt Alexandra Vanin.

Nach ihrem Studium arbeitete sie mit hörgeschädigten Kindern und wechselte dann für 15 Jahre an eine Grundschule, bevor sie sich mit ihrer Kollegin Konstanze Netzel für einen ungewöhnlichen Schritt entschied: Die beiden bewarben sich gemeinsam als Schulleiterin und Konrektorin. „Das Dezernat fragte uns, ob uns nicht klar sei, dass wir damit unsere Chancen minimieren, schließlich käme ja nur eine Schule infrage, bei der beide Stellen vakant seien“, erinnert sich Alexandra Vanin und ergänzt: „Das hat uns nicht abgebracht. Wir sind uns bis heute einig, dass Schulleitung nur im Team gelingen kann.“ Heute leiten sie gemeinsam mit Inken Meyer, die für den Bereich Inklusion zuständig ist, die Otfried-Preußler-Schule.

Bevor die Grundschule 2016 die neuen Räume in der Birkenstraße bezog, trug sie den Namen der alten Adresse: Meterstraße. Schon zwei Jahre vorher – mitten in der Planungsphase für den Neubau – entwickelte ein Grafiker gemeinsam mit der Schulleitung ein neues Logo für die Schule: ein starker Birkenstamm mit kräftig grünen Blättern. „Wir haben das Bild aufgegriffen und in einer Zukunftswerkstatt zusammen mit dem Kollegium, den Eltern und den Kindern geschaut, wohin wir uns entwickeln und was wir mit in das neue Gebäude nehmen wollen. Dabei ist auch unser Leitsatz ‚Wurzeln geben, Vielfalt leben‘ entstanden“, erklärt Alexandra Vanin. Die Grundschule versucht, allen Mitgliedern der Schulgemeinschaft ein sicheres Fundament zu bieten, das auf Vertrauen, Wertschätzung, Mitbestimmung, einem guten Miteinander und Gesundheit fußt. „Wir hoffen, dass daraus ein stabiler Baum wachsen kann, der in seiner Blüte sozusagen Vielfalt austreiben kann. Wir versuchen, bei jedem Kind die größtmöglichen Potenziale und die maximale Anstrengungsbereitschaft zu fördern“, erklärt Alexandra Vanin. Neues Logo, weiterentwickeltes Leitbild – jetzt fehlte nur noch ein Name. Die Schule sammelte Vorschläge und wählte den Namen des Kinderbuchautoren Otfried Preußler.

Vor dem Umzug in eines der größten Schulgebäude Hannovers war die Grundschule mit rund 240 Schülerinnen und Schülern deutlich kleiner. „Wir wussten, dass wir in unserem neuen großen Schulhaus die Grundschule wieder klein machen und so anpassen mussten, dass sich unsere Kinder wohl- und geborgen fühlen“, sagt Alexandra Vanin. Daraufhin haben sie das Gebäude in vier kleine Häusereinheiten geteilt und diese nach den Figuren aus den Kinderbüchern von Otfried Preußler benannt: Es gibt das Räuberhaus, das Gespensterhaus, die Hexen und die Wassermänner. Jedes Haus beherbergt jeweils eine Klasse der Stufen eins bis vier. „Die Kinder identifizieren sich ungemein damit, dass sie Räuber oder Gespenster sind“, erklärt die Schulleiterin. Die Hexen treffen sich zum Hexenrat, die Räuber verkaufen Bücher auf dem Räuberflohmarkt, die Gespenster singen im Gespensterchor, und die Wassermänner haben ihren eigenen Wassermännerchor. „Das hat eine hohe Wirksamkeit und gibt den Kindern enorm viel Sicherheit“, meint Alexandra Vanin.

Dazu trägt bei, dass multiprofessionelle Teams in einem Haus verankert sind. So lernen die Kinder die festen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Bezugspersonen kennen. Zum fast 70-köpfigen Kollegium der Schule gehören neben den Lehrkräften und den pädagogischen Mitarbeiterinnen auch viele Unterrichtshelferinnen und -helfer.

Oskar ist eine Hexe. Er besucht die vierte Klasse, seine Schwester, auch eine Hexe, geht in die erste Klasse. „Für sie war es hier von Beginn an vertraut, weil sie mich vorher schon ein paar Mal besucht hat“, erzählt Oskar. Sogenannte Teamtage, die bis zu den ersten Herbstferien stattfinden, unterstützen die Schulanfängerinnen und Schulanfänger dabei, sich in der Klassen-, Haus- und Schulgemeinschaft einzuleben.

Oskar und seine Schwester starten wie alle Schülerinnen und Schüler mit dem Morgenkreis in ihren Schultag. Der ist an der teilgebundenen Ganztagsschule rhythmisiert, Phasen von Ruhe und Bewegung, von Pausen und Anstrengung gehen ein Wechselspiel ein. Oskar liebt vor allem die langen Pausen, in denen er genug Zeit hat, um sich mit seinen Freunden auszutoben: „Wir Hexen bewegen uns gern. Man trifft uns beim Klettern, Kickern oder Fußballspielen“, sagt der neunjährige Junge. Auch die gemeinsame Lernzeit mit den Hexen aus der dritten Klasse gefällt ihm sehr. 90 Minuten täglich arbeiten die Kinder einer Hauseinheit jahrgangsübergreifend in den Fächern Mathematik und Deutsch zusammen – die Schülerinnen und Schüler der ersten Klasse gemeinsam mit den Kindern der zweiten Stufe sowie die Viertklässler mit den Jungen und Mädchen der dritten Klasse. Die Lernenden dürfen selbst entscheiden, welche Aufgaben sie erledigen, verlassen den Klassenverband und gehen in den jeweiligen Fachraum. „Ich mag es, dass wir dabei unser Wissen weitergeben und voneinander lernen können“, sagt Oskar und erklärt, wobei ihm die Jüngeren helfen können: „Die Hexen aus der dritten Klasse können sich viel besser konzentrieren als wir, uns fällt das manchmal schwer. Die Drittklässler kennen gute Tricks und setzen sich auch schon mal weg, wenn sie zu sehr abgelenkt werden.“

Die Otfried-Preußler-Schule ist eine Schule im Aufbruch, sie verbessert ihre Qualität kontinuierlich. So ist auch das Konzept der Lernzeit in seiner jetzigen Form verhältnismäßig neu. Erst seit dem Sommer 2019 arbeiten alle Häuser einheitlich in dieser Unterrichtsform. Zuvor erprobten die Hexen, Gespenster, Wassermänner und Räuber ein Schuljahr lang unterschiedliche Modelle. Auslöser dafür war eine der regelmäßig stattfindenden schulinternen Mitarbeiterfortbildungen im Jahr 2018. „Dabei wurde noch mal ganz deutlich, wie wichtig uns das individualisierte Lernen ist, auch wenn es schon längst in unserem Leitbild verankert ist“, sagt Inken Meyer. Von der Lernzeit profitieren alle Kinder – auch und gerade diejenigen mit einem größeren Unterstützungsbedarf. „Es gibt einen ganz klar vorgegebenen Ablauf. Kinder, die noch mehr Struktur brauchen, haben einen Arbeitsplan mit visualisierten Aufgaben. Das hilft vor allem den Schülerinnen und Schülern mit dem Unterstützungsschwerpunkt ,Geistige Entwicklung‘“, erklärt Inken Meyer.

In Fächern wie Sport, Musik oder Kunst sei Inklusion ganz natürlich möglich, ist Inken Meyer überzeugt. „Die wichtigste Voraussetzung für Inklusion und Barrierefreiheit in den Köpfen ist, dass Kommunikation für alle ermöglicht wird“, meint Inken Meyer. Deshalb gibt es Vorlesestifte für Kinder, die die Schriftsprache nicht lesen können oder zusätzlich einen auditiven Kanal brauchen. Einheitliche Piktogramme helfen den Schülerinnen und Schülern, sich zu orientieren. Damit wirklich jedes Kind teilhaben und sich selbst entfalten kann, hat die Otfried-Preußler-Schule angefangen, Gebärden einzuführen. Für Oskar und seine Schwester ist die Gebärdensprache eine Art Geheimsprache, mit der sie sich verständigen können. „Das macht allen einen Riesenspaß“, sagt Inken Meyer und fügt hinzu: „Die Gebärdensprache gibt den Kindern viel Selbstsicherheit.“

Auch die Arbeitsgemeinschaften stärken das Selbstbewusstsein der Kinder. Die Schülerinnen und Schüler dürfen selbst AGs leiten. Oskar war zusammen mit seinem Freund Elias schon für eine Fußball- und die Floorball-AG für die Hexen und Räuber verantwortlich. Besonders beliebt ist bei den Kindern aber der inklusive Schulkiosk „Ottis Eck“. Die Schülerinnen und Schüler übernehmen dabei alle Aufgaben selbst – von der Kassenbuchführung bis zur Werbung. In den Pausen können die Kinder Waffeln oder frisches Obst und Gemüse kaufen. Außerdem kooperiert die Schule mit dem „Turn-Klubb zu Hannover“. Wenn die Erste-Bundesliga-Mannschaft der Damen zum Heimspiel antritt, verkauft der Kiosk selbst gemachte Snacks. „Ottis Eck“ kommt so gut an, dass die Stammgruppe halbjährlich wechselt und die Plätze ausgelost werden.

Mit ihrem inklusiven Konzept überzeugte die Otfried-Preußler-Schule bereits die Jury des Jakob Muth-Preises. Die Schule schaffte es 2019 in die letzte Runde. Bei der Preisverleihung in Berlin lernte die Grundschule den Deutschen Schulpreis besser kennen. Alexandra Vanin und ihr Kollegium hat vor allem das Entwicklungsprogramm für die TOP 20-Schulen beeindruckt. „Genau das möchte ich für unser Kollegium: Wir wollen uns Schulen anschauen, die tolle Arbeit machen und gemeinsam mit einem Kreis von interessierten Menschen an pädagogischen Themen arbeiten“, erklärt die Schulleiterin. Ein Thema, auf das sie sich künftig schwerpunktmäßig konzentrieren möchte, ist die Verbesserung der Lernentwicklungsberichte und -gespräche, die an der Grundschule die Noten ersetzen. „Sie sollen zu einem Qualitätsentwicklungsmotor werden“, wünscht sich Alexandra Vanin. Sie hat ein klares Ziel, das sie antreibt: „Ich möchte, dass die Kinder wissen, dass das, was sie tun, wichtig ist für die Welt von morgen.“

* Name von der Redaktion geändert